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Kapitel 8

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In Peiramos

Trivia trat vor das überlebensgroße Gemälde. Vor Jahrhunderten hatte Alefes‘ Vater es für sich anfertigen lassen, nun vergammelte es in diesem modrigen Geheimgang. Es zeigte sie so, wie sie sich selbst gern sah. Eine Frau der alten Klasse. Die Hüften kurvig, das Gesicht dafür umso filigraner geschnitten. Volles, silbernes Haar, das wie der Schweif eines fallenden Sternes schimmerte.

Zu ihrer Rechten stand die Jugend, zu ihrer Linken das Alter. Zunehmender und abnehmender Mond, Werden und Vergehen, und dazwischen sie. Ein Abbild der Gestalt, in der sie Alefes‘ Vater begegnet war und die sie auch jetzt wieder angenommen hatte.

Im Gegensatz zu ihren Gefährtinnen war ihr Gesicht unversehrt geblieben, während die Frauen, die sie flankierten, durch tiefe Brandmale entstellt worden waren. Der Anblick schmerzte.

Genau daran war Alefes letztendlich gescheitert, an seiner unverbesserlichen Sturheit, an der Arroganz, die Zeit übertrumpfen zu wollen. Der Gedanke, geboren worden zu sein und an Trivias Brust gelegen zu haben; die Gewissheit, dass zur Unsterblichkeit auch das Leben gehörte und dass erst Trivia ihn zu dem mächtigen Magier gemacht hatte, der er gewesen war. Er hatte das Gemälde zerstört, weil er es nicht ertrug.

Die Zeit hinterließ ihre Spuren an jedem Tag seines Jahrhunderte währenden Lebens – sein Körper blieb alterslos, von allen Gebrechen verschont, doch sein Geist wurde zerfressen von Ungeduld und Maßlosigkeit.

Sie schloss die Augen und gestattete es sich, Tränen zu vergießen. Fürwahr, er war unvollkommen gewesen, aber dennoch ihre Schöpfung. Sein Tod war eine Schande. Und Trivia konnte bis heute nicht fassen, wie es vonstattengegangen war. Nur eines stand für sie fest: Das verfluchte Weib mit dem blauen Haar trug die Schuld daran. Alefes hätte sie bei ihrer ersten Begegnung töten sollen. Aber in seinem leichtsinnigen Wahn hatte er sie als Gefangene genommen und das Spiel, das er selbst begonnen hatte, verloren. Weil die Spielregeln, die er kannte, plötzlich nicht mehr galten. Wie sehr demütigte Trivia der Verlust.

Aber sie gewann nichts dabei, die Vergangenheit zu betrauern. Jetzt galt es, sich zurückzuholen, was Alefes verspielt hatte. Die dunkle Macht gehörte ihr allein. Und sie war nah.

Die Stufen erklimmend, wischte Estana ihre Tränen fort und die triefende Nase an ihrem Ärmel trocken. Sie wollte tapfer sein. Blair durfte sie nicht zum Weinen bringen, sie würde sowieso herausfinden, was er vor ihr verbarg.

Doch es ging ihr nicht allein darum, zu erfahren, was er mit dem Gestaltenwandler ausgeheckt hatte, während sie zum Schlafen gezwungen worden war. Vor allem verletzte es sie, dass er ihr nicht genug vertraute, um sie in das Geheimnis einzuweihen. Er hatte sie sogar im Haus einsperren wollen, weil er fürchtete, sie könne nicht darüber schweigen, was sie gesehen hatte. Dabei wusste sie sowieso nichts, das irgendjemandem nützte. Ein Gestaltenwandler und ein verwunschenes Medaillon – selbst wenn sie sich jemandem mitteilte, würde der sie für schwachsinnig erklären. In der Stadt hielt sie ohnehin jeder für verrückt.

Also war Estana aus dem Fenster geklettert und floh an den einzigen Ort, von dem sie sicher sein konnte, dass Blair ihr dorthin nicht folgen würde.

Sie hatte lange genug nach einem Eingang suchen müssen, denn das Haupttor war von innen verrammelt worden.

Am Ende der verwitterten Steintreppe angekommen, betrat sie den Steg, der über den schwindelerregend tiefen Burggraben führte. Entlang an der Mauer, bis der Eingang sich vor ihr auftat. Die Tür war aus den Angeln gehoben worden und entblößte einen Durchgang, der direkt ins Innere von Alefes‘ Festung führte. Möglicherweise war dies vor langer Zeit ein Notausgang gewesen, der irgendwann in Vergessenheit geraten war.

Tallulah landete auf einem der efeubewachsenen Bäume, die den Abgrund des Burggrabens flankierten. „Er liebt dich, Estana.“

„Das glaube ich nicht, wenn er mich so behandelt.“ Und sie verschwand in der Festung.

Die Flure lagen so staubig und trostlos wie sonst. Durch die Fensterchen, die wie enge Katzenpupillen nach draußen starrten, kam zwar kaum Licht, dafür aber ein kalter Luftzug herein, der durch die Festung spukte. Einmal hatte er eine Tür direkt vor Estana aus ihrem Schloss springen lassen, er heulte durch alle Ritzen und Spalten im Mauerwerk und manchmal war es, als singe er. Darum vermeinte Estana zuerst, eine Illusion der Luftgeister zu vernehmen, bevor ihr klarwurde, dass Gesang durch das Schloss schwebte. Ein schwereloses Lied, vom Wind getragen.

Zuerst war sie gerührt von jener lieblichen Stimme. Sie folgte ihrem Klang durch die Gänge wie eine Hungrige dem Duft würziger Speisen, beschleunigte ihre Schritte, sobald der Gesang lauter und klarer wurde. Erst als Tallulah in ihre Gedanken vordrang und fragte: „Geht es dir gut?“, erwachte Estana aus ihrer Trance.

„Da ist eine Frau, ich höre sie singen.“

Sofort spürte sie Tallulahs Anspannung wie Nadelstiche an ihren Nervenenden. „Bist du dir ganz sicher?“

Estana brauchte nicht zu grübeln, weshalb ihre Freundin so alarmiert war. Spätestens als sie die Burg betreten hatte, hätte die Anwesenheit der Frau ihr auffallen müssen. Gewiss, sie war von ihrer Wut auf Blair abgelenkt gewesen. Aber selbst jetzt, da der Gesang sie warnte, fühlte es sich an, als sei sie allein mit sich und der verlassenen Festung. Kein Kribbeln, keine Energie, nichts. Als steige der Gesang aus dem Mund einer Toten.

„Bitte komm heraus“, sagte Tallulah. „Es ist niemand in der Nähe, der mich versteht und den ich zu Hilfe holen kann, wenn dir etwas zustößt.“

„Mir wird schon nichts geschehen.“ Und berauscht vom überirdischen Klang der Stimme drang Estana entschlossen in die verschlungenen Eingeweide der Burg.

In Seynako

Die Speisen zerfielen wie Asche in Azurs Mund, doch sie zwang sich zu einem Lächeln, als Neal ihr mit goldenem Becher zuprostete. Am heutigen Abend hatte er sie zum gemeinsamen Mahl in den Thronsaal geladen und es wäre undankbar von ihr gewesen, betrübt zu sein, wiewohl die Nachwirkungen des Alptraumes noch immer in ihr wühlten. Alec, der zu ihrer Rechten saß, antwortete auf etwas, das Rian gesagt hatte. Weil das seichte Gespräch bei Tisch schon eine Weile an ihr vorbeiplätscherte, ohne dass sie seinen Inhalt verfolgte, begriff sie nicht sofort, weshalb Alec gereizt klang.

„Ein unerhörter Zufall, nichts weiter.“ Um Rians Mundwinkel lag ein Zug hämischer Genugtuung. Früher war er wie ein Abbild des jungen Sonnengottes gewesen, doch jetzt erschauderten die Menschen in seiner Nähe. Als anmutiger junger Mann war er vor zehn Jahren mit Alec und seinen Gefährten von Schloss Cian aus, wo er als Wächter gedient hatte, aufgebrochen. Heimgekehrt war er mit einer Wunde, die sein halbes Gesicht entstellte. Azur hatte ihn seitdem kein einziges Mal ohne die goldene Maske gesehen, die Neal für ihn hatte anfertigen lassen. Lediglich eine unversehrte Wange und seine eindringlichen, meeresfarbenen Augen zeugten noch von seiner verlorengegangenen Schönheit.

„Im Nachhinein hörte ich, dass einer sich beim Kartenspiel als Betrüger verraten hatte. Deswegen die Prügelei“, sagte Rian.

„Seltsam. Derlei Zufälle scheinen sich immer dann zu ereignen, wenn du anwesend bist“, entgegnete Alec.

„Willst du damit andeuten, ich sei schuld, wenn einer falschspielt?“

„Ich befürchte nur, du fühlst dich inmitten von Schurken und Schlägereien ein wenig zu wohl.“

„Männer schlagen sich nun einmal, wann immer es notwendig ist. Wie ich höre, trägst du Konflikte lieber mit salbungsvollen Worten aus, anstatt sie zu regeln wie ein richtiger Kämpfer.“

„Dächten alle wie du, zählte nur noch, wer derber zuhauen kann und nicht mehr, wer wirklich im Recht ist“, knirschte Alec.

„Sobald die Sonne untergegangen ist, gelten in den Wirtshäusern eigene Gesetze“, gab Rian zurück. „Wenn dich das so sehr stört, geh doch hin und bekehre uns mit deinen blumigen Reden. Darin bist du offensichtlich geübter als mit der Faust.“

„Da habe ich einen besseren Vorschlag.“ Unter dem Tisch legte Azur Alec eine Hand auf den Schenkel, um ihm zu signalisieren, dass es genug war. Aber er konnte Rians großspuriges Getue nicht länger ertragen. „Das beste wird sein, ich mach es wie du. Bezahle ein paar Raufbolde dafür, eine Schlägerei anzuzetteln, warte, bis alle über die Tische gestreckt liegen, und gebe irgendeinem Betrunkenen anschließend eine Ohrfeige, damit ich sagen kann, ich sei der letzte gewesen, der nach der Schlägerei noch geradestand. Wirklich überaus männlich.“

Plötzlich verstummte die Runde, selbst das Besteck hielt den Atem an. Rians ausdrucksstarke Augen schleuderten Blitze. „Was nimmst du dir heraus.“

Er erinnerte Azur an einen Hund, der tief und unmissverständlich knurrte, den Blick schon auf die Kehle seines Gegners geheftet. Neals Anwesenheit war die Kette, die ihn zurückhielt. Nur eine unbedachte Bewegung, ein winziger Schritt noch in seine Richtung, und seine gefletschten Zähne würden Alec zerfetzen.

„Ich bin nicht dein Untertan, Prinz.“ Er spuckte ihm den Titel förmlich vor die Füße. „Die Zeit, in der ich geschworen habe, dein Leben zu schützen, ist seit Langem Geschichte.“

„Wie ich hörte, hat Sir Derrick vorgeschlagen, die Stallungen auszubauen?“, wandte Eva sich an den König, sodass niemand es überhören konnte.

„Ja, seiner Idee liegen weitsichtige Pläne zugrunde“, sagte Neal. „Er meint, anstatt die Pferde teuer bei den Landbesitzern zu kaufen, sollten wir erwägen, sie selbst zu züchten. Ich spiele mit dem Gedanken, sein Vorhaben zu bewilligen. Ronan, was die Pferde betrifft, hast du einen besseren Einblick als ich. Meinst du, der Bau eines königlichen Gestüts würde sich lohnen?“

Der Stallknecht schrak zusammen, als sein Name fiel. Aus seinem Gesicht, das Azur nur rotwangig und freundlich kannte, war alle Farbe gewichen. „Darüber, äh, muss ich nachdenken.“

„Tu das bitte, ich werde keinen Schritt unternehmen, ohne vorher deine Meinung einzuholen“, sagte Neal, der nicht zu bemerken schien, wie ungesund Ronan aussah.

Sogar der Bulle neben ihm blickte – und das war eine Leistung – noch abweisender und härter als sonst. Obwohl die Gespräche langsam wiedereinsetzten und jeder vorgab, die letzten Minuten seien nie geschehen, blieb eine unsichtbare Gewitterwolke über der Tafel hängen.

Azur begegnete Evas Blick. Damals, als Neal nichts als ein vorlauter Kaufmannssohn gewesen war, hatte sie als Magd auf Schloss Cian geschuftet. Doch bald nach seiner Krönung hatte er ihr ein Gut mit etwas Land geschenkt und ihr einen niedrigen Titel verliehen, der es ihr erlaubte, sich offiziell bei Hof aufzuhalten. Nun saß sie als des Königs Geliebte mit den Gefährten bei Tisch, Seite an Seite, und hoffte vergeblich darauf, dass er sie zu seiner Königin machte. Vier Kinder waren aus ihrer Liebe schon entstanden, alle hatte er anerkannt. Dennoch sträubten seine Berater sich einstimmig gegen eine Hochzeit und er beherzigte ihren Rat.

Ebenso wenig konnte er sich dazu durchringen, eine Adelsdame aus reicher Familie zu ehelichen, obwohl sämtliche einflussreiche Familien des Landes es sich nicht nehmen ließen, ihm Portraits ihrer Töchter und wertvolle Geschenke zu senden.

Wie schon unzählige Male zuvor dankte Azur allen himmlischen Mächten dafür, dass Alec von der Königsbürde verschont geblieben war. Sonst säße sie jetzt vielleicht an Evas Stelle, liebend und geliebt, aber in ewiger Unsicherheit auf dem Platz der Konkubine. Weil Neal nur wenige Jahre älter war als er, rechnete niemand damit, dass Alec je seine Nachfolge antreten musste. Somit war es den Beratern gleich, ob er sich mit einem Bauernmädchen vermählte.

Azurs gesellschaftlicher Aufstieg kam auch ihrer Familie zugute. Nach Colins Tod hatte ihr Vater eine beachtliche Entschädigung erhalten. Ihr jüngerer Bruder Lloyd belieferte Cian mit Weinen, Säften und allerlei Köstlichkeiten von seinen Obstwiesen. Er durfte sich Königlicher Kelterer nennen – ein Traum, den er schon von Kindesbeinen an gehegt hatte.

Wie es um Azurs Träume stand, war weit schwieriger zu beantworten. Zwar besaß sie mehr, als sie sich jemals hätte wünschen können. Doch eines fehlte ihr schmerzlich. Etwas, das mit keinen Reichtümern der Erde zu erkaufen war: Ein Kind von Alec.

Vielleicht würde Eva niemals Königin werden, aber wenigstens hatte sie es vermocht, ihm vier gesunde Kinder zu schenken, die einmal seine Nachfolge antreten würden. In dieser Hinsicht war sie so viel reicher als Azur, die in all den Jahren kein einziges Mal schwanger geworden war. Jeden Abend betete sie zu Sol dem Sonnengott, er möge sich ihrer erbarmen. Ein Kind war das einzige, worum sie zu bitten wagte.

Aber in diesem Augenblick nahm etwas anderes ihre Gedanken ein. Die Vorahnung eines nahenden Unglücks erfasste sie, hungrige Wolkenfäuste ballten sich über ihr. Alefes war tot, die Sonne ging Tag für Tag von Neuem auf und dennoch griff von Neuem ein Schatten nach Seynako, den diesmal niemand kommen sah außer ihr.

Sie fing Rians hasserfüllten Blick auf, Kerzenlicht spiegelte sich in seiner goldenen Halbmaske und blendete sie.

Die Gefährten sprangen auf, als Azur ohnmächtig von ihrem Stuhl herab unter die Tafel rutschte.

Die Rache des Mondes

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