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Kapitel 3
ОглавлениеIn Peiramos
Blair wartete vor der Villa, in der die Bewohner der Stadt Versammlungen abhielten und Feste feierten. Gerade wollte er sich abwenden und hineingehen, als er Estana herbeistürmen sah. Kurz bevor sie ihn erreichte, strauchelte sie und hüpfte die letzten Meter auf einem Bein, um ihren linken Schuh nicht vollends zu verlieren.
Außer Atem schaute sie zu ihm auf. „Ist noch Torte übrig?“
Wahrscheinlich hätte er schimpfen sollen, weil sie zu spät kam. Aber beim Anblick ihres strahlenden Gesichts mit den vom Laufen geröteten Wangen war ihm eher danach, ihr durchs Haar zu zausen und sie an sich zu drücken. Er hätte ihre Frisur ohnehin nicht noch mehr in Unordnung bringen können. Stattdessen schenkte Blair ihr einen halb amüsierten, halb strafenden Blick und ging vor ihr in die Knie, um ihre Schuhe zuzubinden. An ihren Füßen klebten Staub und Schmutz, eine Beleidigung für die zierlichen, weißen Lederschuhe, für die er ein halbes Vermögen ausgegeben hatte.
„Wie hast du das wieder angestellt?“ Er hob den Saum ihres Kleides an. „Hast du damit den Boden der Kathedrale gewischt?“
„Ich wollte das nicht anziehen“, entgegnete sie, ganz der Trotzkopf den er liebte, doch verlegen, da er sie ertappt hatte. Dabei konnte Blair sich ausrechnen, dass Estana sich an keines seiner Verbote hielt, sondern sie viel mehr als Herausforderung betrachtete.
„Rein mit dir.“ Er schob sie in das Herrenhaus, das wie alle anderen Gebäude der Stadt aus grauem Bruchstein bestand. Alefes hatte die Siedlung am Fuß des Burgfelsens für die Ritter anlegen lassen.
Der Clan war aus einem Geschlecht reicher Landbesitzer aus Donovon hervorgegangen, die Alefes Gefolgschaft geschworen und ihm seinen ganzen Besitz inklusive ihrer Waffengewalt dargeboten hatten – nicht, dass den Menschen eine andere Wahl geblieben wäre.
Von den heutigen Mitgliedern des Clans stammte niemand mehr in direkter Linie von den Familien der Gründer ab. Jeder der Ritter, so wie Blair selbst, war im Jungenalter rekrutiert worden. Blutsverwandtschaft zwischen ihnen war Jahrhunderte lang verboten gewesen, denn Alefes fürchtete, Familienbande könnten die bedingungslose Ergebenheit der Ritter schwächen. Darum drohte jedem Mann des Clans, der es wagte, Nachkommen zu zeugen, Vergeltung. „Strafe“ war ein Wort, das schlimmer klang als „Tod“, wenn es aus Alefes‘ Mund kam.
Auch Blairs Strafe war unvorstellbar gewesen. Aber er lebte, war nach Alefes‘ Sturz wieder in Ehren als Mitglied des Clans aufgenommen worden, und auch Estana lebte. Ein Wunder, das er nie für möglich gehalten hätte, nachdem er damals die unverzeihliche Dummheit begangen hatte, den Halbgott um Gnade für sich und seine Familie zu bitten.
Heute durfte er es denken, durfte es laut aussprechen: Estana und er waren eine Familie, ungeachtet dessen, wie klein diese sein mochte. Blair hatte in Erwägung gezogen, die Stadt zu verlassen, um seine Tochter vor den zurückgebliebenen Zeugnissen der Tyrannei zu schützen. Es wäre besser für sie gewesen, wenn sie weit fort vom Schloss, der Kathedrale und den Waffenübungsplätzen aufgewachsen wäre. Aber wohin sollte er gehen?
Die Ritter hatten ihn zu sich geholt, als er gerade vierzehn gewesen war. Ein Waisenjunge, dessen einziger Wert darin bestand, harte Arbeit ertragen zu können und der sich aus seiner Not heraus mit einem lächerlichen Hungerlohn zufriedengab. Ein Junge, der ahnte, dass er seinen dreißigsten Geburtstag wahrscheinlich nie erleben würde und um den sich niemand sorgte. Er hatte in Ställen übernachtet, gemeinsam mit dem Vieh der Bauern, für die er arbeitete, oder in verrotteten Verschlägen, wo er am Morgen regennass und zitternd vor Kälte erwachte. Ihm war es wie ein schönes Märchen erschienen, als die Ritter ihn auswählten. Plötzlich lebte er in einem Haus, durfte Besitz anhäufen, sie lehrten ihn das Reiten und Kämpfen, aber auch Lesen und Schreiben und den Glauben an die Mondgöttin.
Alles, was vorher gewesen war, hatte er beinahe vollständig aus seinem Gedächtnis verdrängt. Wenn er zurückdachte, stiegen vage Empfindungen von Hunger, Schmerz und Trostlosigkeit in ihm auf. So musste sich Armut anfühlen.
Nun hatte Blair die Vierzig überschritten und noch immer war die Stadt der Ritter von Donovon seine Heimat. Er konnte nicht fort, aus Angst, zu all dem zurückkehren zu müssen, was er verdrängt hatte.
Indem er die Geschäfte des Clans mitbestimmte, brauchte er sich nicht um seinen und Estanas Unterhalt zu sorgen. Hier war er ein geachteter Mann. Die Ritter zollten ihm Bewunderung, weil er sich von Alefes abgewandt und seinen Sturz mit herbeigeführt hatte, woraufhin der Halbgott aus Rache Blairs Geliebte Lilene getötet hatte.
Was Blair allerdings gründlich unterschätzt hatte, war Estanas Faszination für die alten Stätten des Grauens, das er hinter sich zu lassen versuchte – und ihre Neigung zum Ungehorsam.
Gerade tauchte seine Tochter unter Ladas ausgebreiteten Armen hindurch und verschwand ohne Umweg in Richtung des Buffets. „Blair, mein Liebster, ich hatte schon befürchtet, ich müsste den Abend ohne dich verbringen.“
„Bitte verzeih Estanas Nachlässigkeit.“ Er küsste sie auf die rechte Wange, irritiert von den Fächern, die überall von ihrem Kleid abstanden. Winzige, bemalte Fächer steckten auch in ihrem aufgetürmten Haar wie die Flügel bunter Vögel, die sich darin ein Nest gebaut hatten.
„Offensichtlich kann dein kleiner Wildfang es nicht erwarten, dem Fest beizuwohnen. Ich verstehe das als Kompliment“, winkte Lada ab und zwinkerte ihm zu. „Eher solltest du darauf Acht geben, mich nicht durch deine Zurückhaltung zu kränken.“ Sie beugte sich zu ihm und berührte seinen Arm, eine wohlgeübte Geste, bei der ihr Dekolleté sich ihm einladend entgegen neigte.
Zwar bemerkte Blair es nicht, aber quer durch den Raum beobachtete Estana ihn missbilligend. In der einen Hand hielt sie zwei Törtchen, von den Fingern der anderen leckte sie die Sahne. Sie hatte nie vorgetäuscht, Lada zu mögen. Aber die Feste der Kokotte waren sehenswert. Bouquets aus duftenden Blumen zierten die Tische, Bier und Wein wurde in echte Gläser eingeschenkt, um die Kerzenleuchter an der Decke und den Wänden wand sich Efeu. Lada trug Kostüme, die sie selbst entwarf und Wochen im Voraus für sich anfertigen ließ.
Für den Empfang der Gäste hatte sie ein gelbes Kleid mit Reifrock gewählt, dessen Korsage mit verschieden großen, handbemalten Fächern verziert war. Sie pflegte, ihre Garderobe während eines Festes mehrmals zu wechseln, eine Kreation verschwenderischer als die andere.
Gerade drängte ein Ritter namens Urden ihren Vater beiseite, um sich freien Anflug auf Lada zu verschaffen. Er war größer als Blair, breitschultrig und schwerfällig und besaß mehr graue Strähnen. Der Begrüßung nach zu urteilen, war er einer von Ladas besten Freiern, denn sie gestattete ihm, sie auf die Stirn zu küssen, und führte ihn umgehend zu einem Ehrenplatz an der Tafel nahe dem Buffet.
Die übrigen Anwesenden waren Männer, viele von ihnen Würdenträger des Clans, die die Verwaltung der umliegenden Dörfer und Städte übernahmen. Selbst unter Alefes‘ Alleinherrschaft war dies immer die Aufgabe des Clans gewesen. Die Mitglieder lebten in Städten wie diesen überall in Peiramos verstreut, wobei diese Stadt seit jeher der größte und einflussreichste Stützpunkt des Clans gewesen war. Die Ritter, die hier lebten, waren die einzigen, die Alefes von Zeit zu Zeit zu Gesicht bekommen hatten, wenn er seine Burg verließ, um die Kathedrale aufzusuchen. Von hier aus hatten sich seine Befehle verbreitet.
Im ganzen Rest des Landes hatte sich seit seiner Abwesenheit kaum etwas verändert, abgesehen von der Senkung der Zwangsabgaben und dem Umstand, dass es nicht mehr als Hochverrat geahndet wurde, die Existenz des Halbgottes anzuzweifeln. Die Menschen huldigten noch immer der Mondgöttin Trivia, wie sie es seit Generationen gewohnt waren. Doch der Clan führte keine Hinrichtungen mehr durch, bloß weil jemand ihren Namen nicht ehrfürchtig genug aussprach.
Blair tauchte aus seinen schwermütigen Gedanken auf, als Ivar ihm auf die Schulter klopfte. „Wie ich höre, beabsichtigst du, aus dem Rat auszutreten“, begrüßte ihn der Freund. „Wieso erfahre ich das von Urden?“
„Weil Urden seine Freude zu gern mit anderen teilt“, antwortete Blair und leerte sein Glas. „Schon seit letztem Jahr spricht er davon, wie sehr sein Sohn sich eigne, dem Rat beizutreten.“
Ivar schnaubte. „Sein Sohn ist zwar fetter als du, aber dein Sitz ist dennoch zu groß für ihn.“
„Wenn er etwas von seinem Vater geerbt hat, ist er ehrgeizig und zäh“, gab Blair zu bedenken.
„Und ein großer Frauenversteher“, fügte Ivar herablassend hinzu. „Darauf trinke ich.“
Seine Mutter war bereits verheiratet gewesen, als Urden sie geschwängert hatte. Sie stammte aus bitterarmen Verhältnissen und Gerüchten zufolge sei die Zeugung ihres Sohnes alles andere als freiwillig abgelaufen. Damals herrschte noch Alefes‘ Gesetz, wonach es jedem Ritter verboten war, Kinder in die Welt zu setzen. Man musste Urden zugutehalten, dass er den Säugling nicht im nächsten Brunnen ertränkte, als er davon erfuhr, dass sein Sohn zur Welt gekommen war. Stattdessen leugnete er alles und überließ es der armen Familie, den Jungen großzuziehen.
Erst nach Alefes‘ Sturz erinnerte er sich seines Sohnes, der inzwischen dreiundzwanzig Jahre vollendet hatte. Offenbar hoffte er, mehr Einfluss auf die Entscheidungen des Rates nehmen zu können, indem er seinen Bastard rekrutierte und ihm zu Blairs freiwerdendem Sitz verhalf.
„Der Rat wird ihn nicht aufnehmen“, sagte Ivar. „Er ist zu jung.“
„Und wir werden allmählich alt, mein Freund. Es wird Zeit, die Führung der nächsten Generation zu überlassen.“
„Alt? Einen wie den schlage ich im Vorbeigehen. Nachdem ich ihn unter den Tisch gesoffen habe“, spielte Ivar den Beleidigten. Aber dann richteten seine forschenden, blauen Augen sich auf Blair. Dieser kannte den Blick, mit dem Ivar sein Gegenüber zu durchleuchten pflegte und probierte gar nicht erst, sich zu verstellen. Sie standen einander viel zu nah, um sich etwas vorspielen zu können.
„Dann stimmt es also. Du willst Lada den Hof machen.“
„Nein.“ Blair wand sich. „Hast du das auch von Urden? Oder war das vertrautes Bettgeflüster?“
„Du weißt, ich bin nur als Mitglied des Rates hier. Sie als Freier aufzusuchen, liegt mir fern.“
„Wie kommst du dann darauf, ich könnte eine Kokotte heiraten wollen?“, fragte Blair und schaute verstohlen hinüber zu Lada, die eben einem Gast, der an einem ihrer Fächer zupfte, spielerisch auf die Finger klopfte.
„Sie geht oft bei dir ein und aus“, bemerkte Ivar.
„Unsinn. Ich nehme ihre Dienste nicht häufiger in Anspruch als sämtliche andere Männer der Stadt.“
Gerade als Ivar etwas erwidern wollte, warf Estana von hinten ihre Arme um seinen Nacken. „Ivar!“
„Sieh an, da kommt ja meine kleine Mondelfe.“ Lachend zog er sie auf seinen Schoß und drückte sie an sich. „Was für hübsche Kleider du heute trägst!“
„Aber sie sind unbequem“, quengelte Estana und meinte damit gleichzeitig das Kleid und die Schuhe. „Egal, was ich mache, sie werden sofort schmutzig.“
„Du hättest ihr ein braunes Kleid nähen lassen sollen“, sagte Ivar.
„Ja, auf dem wären die Sahneflecken besser zur Geltung gekommen.“ Blair unternahm einen halbherzigen Versuch, die hellen Fingerabdrücke mit dem Ärmel zu säubern. „Vielleicht kaufe ich dir demnächst doch eine Hose.“
„Nein!“, widersprach Estana und reckte ihr Kinn. „Ich bin eine Frau, Papa. Eine Frau trägt Kleider.“
„Du bist zehn“, sagte Blair. „Und ein Dreikäsehoch.“
„Ivar, sag ihm, ich bin schon groß! Fast so groß wie Lada! Stimmt’s?“
„Hm, aber nicht halb so kultiviert.“ Blair gab nun doch der Versuchung nach, ihr die Haare zu zerzausen.
Inzwischen hatte Lada sich zurückgezogen, um ihr Kostüm zu wechseln. Als sie wieder auftauchte, trug sie ein dunkel violettes Ensemble, bestehend aus einem mehrlagigen, gerafften Rock, Korsett und einem Bolero aus enganliegendem Stoff, dessen Ärmel spitz bis zu den Mittelfingern hin ausliefen und Ladas langgliedrige Hände in Szene setzten. Nun, da sie keine Rücksicht mehr auf diverse Fächer nehmen musste, kehrte die Anmut ihrer Bewegung zurück. Ihre ausladenden, graziösen Gesten.
Die Ritter klatschten Beifall. Strahlend drehte Lada sich einige Male um sich selbst, um ihr Kostüm zu präsentieren. Aus ihrem aufgetürmten Haar ragten dünne Stäbchen wie eine Krone aus violetten Strahlen und ein silbernes Collier schmückte ihren Hals.
„Danke, danke!“, flötete sie und brachte es fertig, dezent zu erröten. „Ich schätze mich mehr als glücklich, euch alle um mich zu haben. Starke und großzügige Männer, von denen viele mit solcher Leidenschaft gesegnet sind, dass ich mich manchmal frage, ob nicht ich diejenige bin, der gedient wird, anstatt andersherum.“
Die Gäste lachten auf, Urden am lautesten, der die Schmeichelei anscheinend allein auf sich bezog. Geblendet von seiner Selbstzufriedenheit entging ihm, wie Lada zu Blair hinübersah. Nur flüchtig, so als habe ihr Blick ihn zufällig gestreift. Aber Estana ließ sich dadurch nicht täuschen. Nichts von dem, was Lada tat, kein Wort und kein Wimpernschlag, geschah unbewusst. Auch Ivar musste es mitbekommen haben, denn er stieß ein kaum vernehmbares Zischen aus.
„Regieren, Reiten, Fechten, Lieben. Diese Prüfungen habt ihr bestanden. Doch nun“, Lada schnippte mit den Fingern, „will ich sehen, wie ihr tanzen könnt. Und wie es um euren Durst bestellt ist. Musik!“
Gläser hoben sich, ihr zuzutrinken, und Geige und Mandoline setzten ein.
Lächelnd lehnte Ivar sich zu Estana. „Ich könnte mir vorstellen, mit dir zu tanzen.“
„So geht das nicht! Weißt du nicht, wie man eine Frau richtig auffordert?“
Ivar erhob sich. Eine schwarz gelockte Strähne fiel ihm in die Stirn, als er sich vor Blair verneigte. „Wenn Ihr es nicht für zu anmaßend haltet, oh edler Ritter von Donovon, gestattet es mir, Eure liebreizende Tochter für einen Augenblick zu entführen.“ Obwohl sein Alter das ihres Vaters um wenige Jahre übertraf, hätte man Ivar für den Jüngeren von beiden halten können. Er war auf eine ungeschliffene Art gutaussehend, auch weil er von Geheimratsecken und Bauchansatz verschont geblieben war.
„Ihr habt recht, es ist anmaßend“, antwortete Blair nicht weniger gestelzt.
„Lady Estana, ein ehrenwerter Angehöriger Eures Clans bittet Euch in aller Demut um diesen Tanz.“ Ivar bot ihr seine offene Hand dar und Estana ergriff sie.
„Besser?“, flüsterte Ivar.
„Besser.“
Endlich lachte auch Blair, wodurch ein Teil seiner Anspannung von ihm abfiel. „Geht ihr nur. Ich kümmere mich derweil um den Teil mit dem Durst.“
Estana und Ivar fassten sich bei den Händen und schaukelten sich am Rand der Tanzfläche, wo niemand sie beachtete. Wenn das Tempo der Musik zunahm und Ivar sie herumwirbelte, erfüllte ihr klares Lachen den Raum.
Außer Lada und Estana befand sich keine einzige Frau in der Villa. Es war ungeschriebenes Gesetz, dass ein Mann seine Ehepartnerin - so er sich denn seit der Aufhebung des Verbots vermählt hatte - von der Beziehung ausschloss, die er zur Kokotte pflegte. Beide, Eheweib und Liebesdienerin, verkörperten verschiedenartige Vorzüge. Wie zwei Leben, die zusammengehörten und doch strikt getrennt stattfanden, da sie unterschiedlichen Bedürfnissen entsprangen.
Selbst die Diener, die Getränke ausschenkten und das Buffet richteten, waren junge Burschen. So blieben alle Augen auf Lada gerichtet. Die Männer umringten sie, während sie tanzte, einen aus ihren Reihen pflückte und ihm ihre Nähe schenkte, nur wenige Schritte lang, bevor sie ihn an seinen Platz zurückverwies und noch in der Bewegung die Hand des nächsten ergriff.
Wie der Wind einen Weidenzweig wiegt, der sich ins Wasser neigt und stetig kreisförmige Wellen erzeugt, so trieb Lada in der Mitte der Männer umher, getragen vom Takt der Musik. Blair fühlte sich an einen Kreisel erinnert, der von unersättlichen Kindern immer von Neuem angestoßen wird, ihrer Lust ausgeliefert und verdammt dazu, sich um sich selbst zu drehen.
Das Unbehagen, das ihn bei seiner Ankunft befallen hatte, verstärkte sich. Die Wenigen, die noch mit ihm an der Tafel saßen und dem Treiben als unbeteiligte Beobachter beiwohnten, waren Männer wie Ivar, die nie das Bett mit Lada geteilt hatten. Von den Freiern aber blieb Blair der einzige, der nicht den Tanz Brust an Brust mit ihr suchte. Noch letztes Jahr war er unter ihnen gewesen, hatte ihr zugerufen und sie im Kreis umhergewirbelt. Heute schmerzte das Gejaule der Geige in seinen Ohren und die Stimmen machten ihn nervös. Er wollte den Kreisel nicht anstoßen, nicht der sein, der ihn zwang, zu tanzen.
Dem zum Trotz dachte er: Denjenigen, der den Kreisel dreht, trifft keine Schuld daran, dass der Kreisel ist, was er ist. Der Kreisel kann nicht anders, als sich zu drehen, weil er zu nichts anderem nutze ist.
Genau so verhielt es sich mit Lada. Er trug keine Verantwortung für das, was sie war – wollte sie nicht tragen, so oft er sich ihrer auch bediente.
Blair erinnerte sich an Ivars Worte, sah noch einmal zur Tanzfläche und horchte in sich hinein, auf der Suche nach Eifersucht. Etwas, das Gefühle für Lada bezeugte. Aber er fand nichts dergleichen. Nur Mitleid.
Da tauchte es von Neuem auf, Lilenes Bild in seinen Gedanken. Wie sie am Abgrund kauerte, innerlich bereits ganz in der Tiefe versunken, hypnotisiert vom tosenden Malstrom des verhexten Burggrabens. Diese Erinnerung wucherte in ihm wie ein Geschwür, das all die kostbaren Momente fraß, die er und Lilene erlebt hatten. Ihre gemeinsamen Stunden der Leidenschaft, Lilenes gütige Wesensart, Estanas Geburt, all das verblasste zu blassem Dunst, der vor dem Schmerz des Verlustes zurückweichen musste.
Es wurde spät und Blair hatte soeben beschlossen, das Fest zu verlassen, als Lada sich auf den freien Stuhl neben ihn sinken ließ. Ihr Puder war aufgefrischt und die Lippen bemalt. Sie verriet durch nichts, wie erschöpft sie sich fühlte.
„Du wirst doch nicht gehen, ohne mich vorher zu einem Tanz aufzufordern?“ Sie legte ihre anmutigen Finger auf seine. „Den ganzen Abend hast du hier an deinem Platz gesessen wie ein einsamer Wolf. Daher frage ich mich, ob du möglicherweise auf etwas gewartet hast. Etwas, das bis jetzt nicht zu dir gekommen ist.“ Mit einem verheißungsvollen Lächeln lehnte sie sich an ihn. „So schweigsam an einem Abend wie diesem. Habe ich das verdient? Ist mein Fest nicht nach deinem Geschmack?“
„Du irrst dich“, sagte Blair. „Ich habe keine Erwartungen.“
„Wie schade, ich hatte darauf gehofft, dass wir beide uns dasselbe wünschen.“ Hier senkte sie ihre Stimme, ihr warmer Atem kitzelte sein Ohr. „Vielleicht kann ich dir nicht alles geben, was du im Herzen begehrst, Blair von Donovon. Aber wenn du nur zufrieden wärst mit dem, was ich…“
„Lada!“ Plötzlich stand Urden hinter ihnen, umfasste grob ihren Arm und zog sie zu sich. Blair roch den Alkohol an ihm, obgleich er selbst betrunken war.
„Komm mit mir. Ich brauche es jetzt“, lallte Urden in Ladas Gesicht.
Gegen Urdens Kraft kam sie nicht an, taumelte gegen seinen Wanst, direkt in seinen gierigen Griff. Sie überspielte es mit einem Lachen, das heiter klingen sollte. „Mein starker Ritter, das Fest ist nicht dazu…“
„Du könntest eine Feier wie diese nie im Leben ausrichten ohne mein Geld. Ich bin der, den du am meisten ausnimmst, das ist mein Fest und du wirst dafür sorgen, dass ich wiederkomme.“
Sie versuchte, ihm auszuweichen und ihn von sich zu schieben, erst scherzhaft, dann bestimmt, doch er presste seinen Unterleib gegen sie. „Urden, das ist nicht der rechte Zeitpunkt.“
„Du musst nehmen, was du kriegen kannst“, sagte Urden. „Da sind Falten auf deiner Stirn und Ringe unter deinen Augen. Hol dir das Geld, solang deine Titten straff sind und du den Preis noch wert bist.“
„Genug jetzt“, ging Blair dazwischen. Er hätte aus nächster Nähe zum Angriff übergehen und Urden in die Schranken weisen können. Wenngleich der Ritter ihn überragte, war er schwerfällig und benebelt vom Wein. Doch Urden war kein Straßenjunge, sondern Ratsmitglied wie er. Ihn sich zum Feind zu machen, nützte weder ihm noch Lada etwas.
„Du kommst zu spät, mein Freund. Lada hat bereits eingewilligt, mir den Rest des Abends Gesellschaft zu leisten. Dem, der Anstand zeigt, gilt der Vorzug.“
Zwar funkelte Urden ihn feindselig an, beließ es aber bei einem verbalen Hieb. „Sieh an, der Rabenvater“, spottete er. „Hat nichts außer einem Balg, das mit Aasfressern sprechen kann, als wäre das nicht Schande genug.“
„Du hast zu tief ins Glas gesehen, Urden. Anders kann ich es nicht entschuldigen, wie du über Blair und seine Tochter sprichst.“ Ivar war an Blairs Seite aufgetaucht. Demonstrativ hielt er Estanas Hand. „Ein weiteres Mal werde ich nicht weghören, wenn du ein Ehrenmitglied des Clans beleidigst. Einen, der ein besserer Vater ist als manch anderer von uns.“
„Das kommt ausgerechnet von einem, der überhaupt keinen Saft mehr in seinen Lenden hat“, giftete Urden, doch die Beleidigung prallte von Ivar ab wie ein Kieselstein von einer Mauer. „Eins ist sicher, ich würde mir nicht die Mühe machen wegen eines Mädchens“, Urden spie das Wort aus wie einen Knorpel, „das den gleichen Hokuspokus beherrscht wie Alefes. Erst recht wenn ich in deiner Haut stecken müsste, Blair.“
Einige der Anwesenden bemerkten den Streit, Köpfe wandten sich ihnen zu, Gespräche erstarben.
„Und dir Lada, gebe ich einen guten Rat“, fuhr er mit erhobener Stimme fort, damit auch der letzte Mann im Raum seine Worte vernahm. „Deine Eitelkeit wird dich teuer zu stehen kommen. Wenn du meinst, du könntest es dir leisten, mich abzuweisen…“
„Du irrst dich, mein Lieber“, sagte Lada, die sich seinem Griff entwand. „Ich habe dich nicht abgewiesen, nur der Augenblick und die Art, wie du um meine Gunst warbst, missfielen mir.“
„Deine Gunst!“, bellte Urden trocken. „Als wäre der stattliche Preis, den ein Freier für deine Dienste zahlt, nicht genug, muss er auch noch um Erlaubnis betteln?“
„Ich bin keines der willenlosen Mädchen, derer du in jeder schmutzigen Gasse habhaft werden kannst. Wem der Sinn nach einem billigen Abenteuer steht, soll sich an eine von denen wenden.“
Inzwischen waren Blair und Ivar nicht mehr die einzigen, die hinter Lada standen. Die Musik verstummte, ein Ritter nach dem anderen unterbrach, was er eben im Begriff war zu tun, und trat zu der Menschentraube, die sich um sie gebildet hatte. Einige ihrer besten Freier stärkten Lada den Rücken. Spätestens jetzt musste selbst ein Schwachkopf wie Urden begreifen, dass es an der Zeit für einen Rückzug war, dachte Blair.
Urdens kleine, wässrige Augen zuckten umher und sein Kiefer knirschte. „Eine Hure, der der Luxus zu Kopf gestiegen ist, das bist du, nichts weiter“, hieb er, bevor er den Kreis durchbrach und polternd das Haus verließ.
Lada hatte ihr Lächeln schon wiedergefunden und hakte sich bei Blair unter. „Verzeiht den unbedeutenden Zwischenfall und lasst uns weiter feiern“, bat sie. Die anderen Männer wandten sich erneut dem Buffet zu, das von Ladas Dienern mittlerweile neu bestückt worden war.
Diesmal sorgte Estana sich nicht um die Süßigkeiten, die ihr womöglich entgingen. Tallulahs Stimme erklang in ihren Gedanken: „Etwas geschieht, Estana. Ich kann es mir nicht erklären.“
„Was meinst du?“ Sie empfing ein Bild, als blicke sie einen Herzschlag lang durch Tallulahs Augen. Sie saß auf dem Dachgiebel der Villa und spähte über die Dächer der Stadt. Etwas näherte sich aus der Ferne, ein winziger Punkt am Horizont, in der Dunkelheit war er selbst für einen Raben schwer auszumachen, doch sie spürte ihn deutlich. Er besaß eine Aura, die weit stärker war als die eines Menschen, und noch etwas kam Estana verdächtig vor.
„Fühlst du es auch?“, fragte sie in Gedanken.
„Was immer es ist, es scheint zweigeteilt zu sein“, antwortete Tallulah. „Als wären es zwei Wesen. Aber alles, was ich sehe, ist…“
Nun erschien wie ein Blitzlicht vor Estanas innerem Auge ein Bild aus Tallulahs Erinnerung. Sie flog ganz nah über den Ankömmling hinweg. Es war ein Tier, das zielsicher Kurs auf die Stadt der Ritter von Donovon nahm. In seiner Nähe verstärkte sich das unterschwellige Vibrieren, das Estana bereits beim ersten Blick wahrgenommen hatte. Tallulah behielt recht, hier lagen zwei Mächte Wange an Wange, einander nah, doch eindeutig unterscheidbar, als ob sie sich umarmten.
Dabei hätte ein Außenstehender in ihnen nicht mehr gesehen als eine schwarze Ziege, die dem Raben nachblickte, der über ihr flog.