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Kapitel 2
ОглавлениеJahre später in Peiramos
Estana zog an der Eisenklinke. Sie musste ihr ganzes Gewicht einsetzen, um die Tür wenige Zentimeter weit zu öffnen. Das Holz war wurmstichig und die Angeln standen in ihrem Rost. Vertrocknetes Gras, das ihr bis zur Hüfte reichte, blockierte den Öffnungswinkel. Sie trampelte es nieder und zog noch einmal, zwängte sich schließlich zwischen den Spalt zwischen Holz und Mauerwerk und stemmte ihren Rücken gegen die Tür, bis sie sich genug Platz verschafft hatte, um hindurch zu schlüpfen, hinein in den schwarzen Raum dahinter.
Mit ihrem Eintritt in die Kathedrale war es, als sei sie in ein anderes Land gereist. Ein einziger Schritt nur und die Zeit schien sich zurückzudrehen. Nicht Frühling umgab sie länger, sondern winterliche Kälte, eine Landschaft aus kahlem Stein und Dunkelheit. Wo Licht durch Löcher im Mauerwerk fiel, zeichnete es bleiche Flecke auf den Boden.
Vorsorglich ließ Estana ihre Schuhe am Eingang zurück, um sie dem Staub und Schmutz, der im Laufe der Zeit in jede Fuge gekrochen war, nicht auszusetzen. Obwohl sie häufig barfuß ging und Kälte gewohnt war, biss die eisige Temperatur des Steinbodens ihr in die Fußsohlen.
Vom Altar war nur noch ein Haufen Schutt übrig, so als hätten hunderte von Spitzhacken sich in blinder Zerstörungswut auf ihn gestürzt. Sie raffte den Rock ihres Kleides, erklomm auf Zehenspitzen die Stufen und nahm ihren Platz auf der zerbrochenen Steinplatte ein, die sich genau unter der offenen Kuppel befand. Von Tallulah hatte sie erfahren, dass darauf früher Lebewesen geopfert worden waren. Manchmal Tiere, meistens Menschen. Von dort aus, wo das Dach offen für den Schein des Mondes war, der zur Zeit der Zeremonien genau über der Kuppel stand und sein silbernes Licht auf den Opferstein warf, hatten die Raben beobachtet, was jeden Monat in der Kathedrale vor sich ging.
Auch ihr Vater musste es gewusst haben. Vor ihrer Geburt war er Alefes‘ Diener gewesen. Er, Ivar und all die anderen, die in der Stadt der Ritter von Donovon lebten, hatten hingenommen, was immer der Halbgott verlangte, hatten seine Befehle ausgeführt, ungeachtet seiner Grausamkeit. Heute schwiegen sie darüber, als könne das Alefes‘ jahrhundertelange Herrschaft ungeschehen machen.
Das wenige, das Estana über die Vergangenheit in Erfahrung hatte bringen können, wusste sie von den Raben. Tallulah kannte Geschichten, die ihre Vorfahren sich erzählten. Manche davon reichten bis zu den Anfängen von Peiramos zurück und jeder Rabe, von dem Estana sie hörte, schmückte die Legenden anders aus. In manchem stimmten sie allerdings überein: Ein Königssohn aus Seynako war vor langer Zeit in das Reich des Nordens vorgedrungen, wo er sich mit der Göttin des Mondes vereinigt und das Reich Peiramos begründet hatte. Ihr zu Ehren war diese Kathedrale errichtet worden. Nach dem Tod des Prinzen hatte dessen Sohn Alefes das Zepter übernommen und dank der Macht seiner göttlichen Mutter die Kunst der Magie erlernt – dunkle Magie, die nichts erschuf, sondern nur zerstören konnte.
Die Raben hielten es nicht für nötig, zu verschweigen, dass auch sie Alefes zu Diensten gewesen waren. Ganz im Gegenteil, sie brüsteten sich sogar mit der Bedeutung, die der Halbgott ihrer Zunft beigemessen hatte. Die Tiere aus den Käfigen der Rabenzüchter waren von besonderem Wert für ihn gewesen, denn sie waren darauf abgerichtet, in telepathischen Austausch mit ihrem Herrn zu treten und ihm ihre Beobachtungen zuzutragen, die sie auf ihren Reisen sammelten. Ihre Augen waren seine Augen und wenn er es wünschte, reichten sie bis nach Seynako.
„Trübsinn an einem Tag wie diesem?“ Estana empfing Tallulahs Gedanken, als die Rabendame durch die offene Kuppel zu ihr hinab schwebte, ein Schemen im Halblicht der Kathedrale.
„Papa will nicht, dass ich herkomme“, sagte Estana.
„Ich weiß“, antwortete Tallulah.
Blair schätzte es nicht, wenn seine Tochter sich in dem verlassenen Tempel der Mondgöttin aufhielt. Doch Estana genoss es, auf den Spuren dieser entrückten Zeit zu wandeln. Je mehr ihr Vater daraus ein Geheimnis machte, desto stärker wuchs die Neugierde, die Estana dazu brachte, all die verbotenen Orte aufzusuchen, an denen jede Pore und jeder Mauerspalt gesättigt war von einer fremden Aura. Vielleicht war es nur Estanas Fantasie, die ihr Truggespinste vorgaukelte und sie glauben ließ, das Schloss und die Kathedrale seien deswegen lebendig, weil Alefes in ihnen gelebt, in ihnen geatmet hatte. Weil seine Füße und der Saum seines Umhangs denselben Boden berührt hatten, auf dem heute Estana ging.
Leichtfedrig landete Tallulah neben ihr auf dem Stein. Estana berührte das schimmernde Gefieder und vernahm, wie Tallulah sagte: „Du solltest nicht hier sitzen.“ Niemand außer Estana konnte es hören, was nicht nur darauf zurückzuführen war, dass sie beide allein waren. Nur wenige besaßen die Gabe, mit Raben zu sprechen. Estana kannte niemanden sonst, der diese Fähigkeit besaß. Außer natürlich den alten Lancelot, aber der zählte nicht, schließlich war er Rabenzüchter.
„Du klingst wie mein Vater.“ Estanas Stimme klang patziger, als sie es beabsichtigt hatte, vervielfacht durch den Hall der Kathedrale.
Tallulah legte den Kopf schief. „Nicht einmal ich kann wissen, wie viel Blut dieser Stein gekostet hat. Und du sitzt darauf, als sei es ein Thron.“
„Das ist lange her“, sagte Estana, diesmal ruhiger, obwohl Tallulah genau den Grund erkannt hatte, der sie an dem zerbrochenen Opferstein anzog. Hier war das leise Rauschen, das durch ihre Nerven strömte, am stärksten. Manchmal, wenn sie an dieser Stelle hockte und die Dunkelheit fixierte, meinte sie, Alefes zu sehen. Sie hätte sein Äußeres nicht beschreiben können. Dennoch wallte etwas in ihr auf, wenn sie sich vorstellte, wie er zur Tür hereinkam und auf sie zuging, in einen schwarzen Umhang gehüllt, barfuß wie sie.
„Das Frühlingsfest hat schon begonnen“, mahnte Tallulah. Als Estana gleichgültig mit den Schultern zuckte, fügte sie hinzu: „Es gibt Torte.“
„Und damit rückst du erst jetzt heraus?“ Mit wehenden Röcken sprang Estana auf und eilte auf den schmalen Lichtstreifen zu, der durch die angelehnte Tür fiel. Belustigt schüttelte Tallulah ihr Gefieder und verschwand durch die Kuppel der Kathedrale.
Zur selben Zeit, an einem Ort so kalt wie eine klare Vollmondnacht im Winter, eine bei der der Sternenhimmel so nah und weit ist, dass man glaubt, hineintauchen zu können, an einem solchen Ort glomm ein blauer Lichtschein hinter einer eisenbeschlagenen Tür. Von der Außenwelt unbemerkt, da der Raum hinter der Tür kein Fenster besaß. Ein Laut wie berstendes Glas, von niemandem gehört. Und die Angeln der Tür regten sich, nachdem sie zehn Jahre lang stillgestanden hatten.
Knirschend erwachte der steinerne Wasserspeier auf dem Gang zu neuem Leben, wo er zehn Jahre lang unbewegt gestanden hatte. Fast hätte man den Laut, den seine steifen Glieder verursachten, für ein trockenes Kichern halten können. Eine ebenso kalte Hand legte sich auf seinen gehörnten Kopf und ruhte dort einen zeitlosen Augenblick lang, während sich auf den Zinnen der Burg verwitterte Gestalten erhoben, belebt von grimmigem Triumph. Kerzenlicht zischte an feuchten Dochten empor und ein Gemälde lächelte zum ersten Mal seit einem dunklen, leblosen Jahrzehnt.
In Seynako
Nach Atem ringend tauchte Azur aus dem Alptraum auf, der sie im Schlaf heimgesucht hatte. Unbewusst hatten ihre Finger sich um das Laken gekrampft, nur Zentimeter von Alecs Arm entfernt. Da ruhte er, nichtsahnend und friedlich. Ihr Mann, der Bruder des Königs von Seynako.
Verzweiflung, die sie bis in die Wirklichkeit verfolgte, trieb Azur Tränen in die Augen. Es musste ein Traum gewesen sein. Ein böses Spukgespenst, hervorgegangen aus gestorbenen Erinnerungen. Ein einziges Mal hatte sie vor dieser Tür gestanden, das Leuchten vor sich gesehen, sowie die Fratze des Gargoyles, der sie bewachte.
Sie schloss die Augen, in der Hoffnung, den Bildern entfliehen zu können, die sie heimsuchten. Aber es misslang. Die Tür existierte, und wer immer sie öffnete, würde das Unheil bringen, das Azur die ganze Zeit über heimlich gefürchtet hatte.
Aber es war unmöglich. Vielleicht hätte jemand, der von der Geheimtür wusste, sie benutzen und durch sie den Gang betreten können. Unter Umständen einer der ehemaligen Diener. Aber in ihrem Traum war die Gestalt nicht durch das Schloss gegangen, um den Geheimgang aufzusuchen. Sie war darin erschienen, hatte sich materialisiert, begleitet von gespenstischem, blauem Licht.
Zitternd zog Azur die Decke über sich. Eingerollt wie ein Kätzchen wartete sie darauf, dass die Furcht in ihrem Herzen verebbte und die Wärme ihres Bettes, Alecs Nähe und die Sicherheit des Schlosses sie wieder in Geborgenheit hüllten. Doch sobald sie wieder in Halbschlaf verfiel, wandten ihre Sinne sich gegen sie, ließen Alefes für sie auferstehen. Wie er auf Knien kroch, Schweiß benetzte die bleiche Stirn und Angst klaffte wie eine eitrige Wunde in seinem Gesicht. Er, die gewaltigste Kreatur, die ein Mensch sich auszumalen in der Lage war, robbte vor ihr im Schmutz, sterblich, schon im Zerfallen begriffen. Noch im Schlaf weinte Azur um sich selbst und um das einzige Wort, das ihr seit ihrer fernen Kindheit je über die verstummten Lippen gekommen war. Sein Name. Alefes. In dem Moment, da er starb.
Wenn es jemanden gab, der das Entsetzen, den Schmerz, den übermächtigen Hunger verstand, der Jahrhunderte lang in Alefes gewohnt hatte, dann war es Azur, denn all das war in ihr zurückgeblieben. Nur Pooka und seinem magischen Schmuckstück war es zu verdanken, dass sie noch lebte. Obwohl sie sich kaum daran erinnern konnte, wie es aussah, schwebte das Amulett des Gestaltenwandlers in dieser Nacht durch ihre Träume.