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Kapitel 4

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Das Wesen wartete auf sie, als sie vom Fest heimkamen. Sie waren noch meterweit von Blairs Haus entfernt, als die beiden Gesichter Estana anblickten.

Sie erlebte es nicht zum ersten Mal, das gegenseitige Abtasten und Umkreisen, das ohne eine körperliche Regung stattfand. Lancelot hatte es bei ihrer ersten Begegnung getan. Es reichte, beisammen zu sitzen oder sich gegenüber zu stehen, nah genug, um geistigen Kontakt herstellen zu können. Diese Art der Berührung reichte tiefer, war ehrlicher als jeder Dialog. Auf diese Weise sprach sie mit Raben und auch mit anderen Tieren, wenn die es zuließen.

Das hier aber war größer und listiger als selbst die Ältesten und Erfahrensten unter den Raben, imposanter selbst als Lancelot – wobei kein Mensch außer Estana den schmalbrüstigen Rabenzüchter mit Größe assoziierte.

Sie klammerte sich an die Hand ihres Vaters und versicherte sich, dass Tallulah in der Nähe war.

Blairs Daumen rieb zärtlich über die kleine Hand in seiner. „Was ist denn?“ Er ahnte nichts von der schwarzen Ziege mit den zwei Gesichtern. Wie alle normalen Menschen ließ er den Moment der ersten Begegnung verstreichen, unbemerkt und ungenutzt.

„Schau, wir sind da“, sagte er, um sie zu beruhigen.

Estana brachte keinen Ton heraus. Würde er eine Erklärung verlangen, wenn sie ihn zurückhielt, konnte er überhaupt glauben, was für sie längst Gewissheit war? Obwohl er um ihre Gabe wusste, hatte sie zu oft erlebt, dass er ihre für seine Begriffe unerklärlichen Anwandlungen überging. Er verstand sie nicht, weil er nicht das sehen konnte, was sie sah.

Sie biss sich auf die Unterlippe und hielt die Luft an, um nicht zu weinen. Tränen passten nicht zu ihr, das hatte Lada einmal gesagt. Die Worte dieser schönen Frau, die von jedermann begehrt wurde, und die Art wie sie es sagte, hatten sich tief in Estanas Gedächtnis verwurzelt. So wenig Sympathie sie mit der Kokotte verband, so sehr bewunderte Estana die Perfektion, mit der alles an Lada zusammenspielte. Sie hätte blind und obendrein vollkommen zurückgeblieben sein müssen, um sich ihrer Wirkung zu entziehen und dabei zu übersehen, wie Männer auf sie reagierten. Männer wie ihr Vater.

Arglos öffnete Blair die Tür.

„Um zu verhindern, dass wir aneinandergeraten…“, begrüßte eine fremde Stimme sie, als sie eintraten. Blitzschnell war Blair vor seine Tochter und griff nach dem Waffengurt mit dem Schwert, das er von innen an den Türrahmen gelehnt zurückgelassen hatte. Es war nicht da. Er verfluchte sich für seinen Leichtsinn. Andererseits tat Lada gut daran, die Ritter dazu aufzufordern, ihre Waffen daheim zu lassen, wenn sie das Fest besuchten. Allein die Auseinandersetzung mit Urden hätte sonst zu einem handfesten Kampf ausufern können.

„Um zu verhindern, dass wir aneinandergeraten“, wiederholte die näselnde Männerstimme, „habe ich Eure Waffe an einem sicheren Ort verwahrt.“

Ein Streichholz flammte zischend auf, ein Fleck im Dunkeln, und entzündete die Öllampe auf dem Esstisch. Ihr Schein fiel auf ein bärtiges Gesicht und einen stämmigen Brustkorb, der Rest des Besuchers blieb unsichtbar.

„Deutet mein Eindringen nicht falsch. Ich nahm mir die Freiheit nur aus dem Grund, da Ihr es abgelehnt hättet, mich einzulassen, wenn ich Euch die Wahl zugestanden hätte.“

Zu Recht, dachte Estana. Trotz dem ihr Vater sie mit seinem Körper abschirmte, um sie zu schützen, erkannte sie den ungebetenen Gast. Sein Ton erinnerte sogar entfernt an das tiefe Meckern eines Ziegenbocks, sein schwarzer Bart besaß die gleiche Farbe wie sein Fell, wenn er die Gestalt des Tieres wählte.

Sie war vorher noch nie einem Gestaltenwandler begegnet, hatte nicht einmal die Existenz dieser Geschöpfe erahnt. Dennoch war es nach allem, was Tallulah ihr gezeigt hatte, leicht, die richtigen Schlüsse zu ziehen.

„Schließt die Tür und setzt Euch zu mir“, sagte der Fremde bestimmt genug, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass es sich nicht um eine Bitte handelte.

„Wer seid Ihr?“, fragte Blair. Als er der Aufforderung des Fremden nicht sofort nachkam, krachte die Tür hinter ihnen zu, als habe ein Windstoß sie ins Schloss geworfen und die Flamme der Öllampe flackerte auf, gleißender als Estana es jemals erlebt hatte.

„Man nennt mich Pooka“, antwortete er. „Und es beliebt mir ganz und gar nicht, mich in der Menschenwelt aufzuhalten, das dürft Ihr annehmen. Kommen wir darum gleich zum Punkt, Blair von Donovon. Wenn Ihr nun endlich die Güte besäßet, näher zu treten.“

Er schwenkte etwas an einer Kette, das im Licht der Lampe funkelte. Und nun durchschaute Estana, wo das zweite Gesicht, die zweite Präsenz herrührte, die Tallulah und sie wahrgenommen hatten. Der Gestaltenwandler musste das Schmuckstück eng bei sich getragen haben, sodass ihre Felder nahezu verschmolzen. Sie sandte die Erkenntnis hinaus, wo Tallulah noch immer wachte.

„Er kann die Form einer Ziege annehmen. Und er trägt etwas bei sich, das eine eigene Aura besitzt, viel bedrohlicher als seine. Einen Gegenstand.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, erfolgte prompt Tallulahs Resonanz. „Aber wenn du es selbst ohne Zweifel vor dir siehst, muss es wohl wahr sein.“

„Ohne Zweifel“, bestätigte Estana.

„Lauf zu Ivar“, sagte Blair, ohne seine Tochter anzublicken. „Na los.“

Doch als Estana sich im Schutze seines Schattens aus der Haustür stehlen wollte, war diese auf unerklärliche Weise verschlossen.

„Es ist weder in meinem noch in Eurem Interesse, dass jemand von unserer Unterredung erfährt“, näselte der Fremde. „Leider ist schon viel zu viel über die Art meines Besuches bekannt geworden.“ Er bedachte Estana mit einem Blick. „Die Raben werden es von den Dächern schreien. Dennoch muss ich Eure Hilfe in Anspruch nehmen.“

„Unsere Hilfe?“ Beschützend legte Blair eine Hand auf Estanas Hüfte und verstärkte mit den Fingerkuppen kaum merklich den Druck gegen das Heft des Dolches, den sie an einem Lederriemen um den Oberschenkel trug, unsichtbar unter dem Rock ihres Kleides. Die Klinge war so kurz, dass sie sich nicht einmal zum Zerteilen von Äpfeln eignete. Nichtsdestotrotz war sie scharf und konnte dem Ziegenmann beträchtlichen Schaden zufügen, wenn Estana sie schnell genug erreichte und an der richtigen Körperstelle ansetzte.

„Ich möchte vermeiden, dass noch mehr Einzelheiten unseres Gesprächs dieses Haus verlassen“, sprach der Fremde. „Lasst mich dafür sorgen, dass Eure Tochter von alldem unbehelligt bleibt. Ihr wird nichts geschehen.“

„Was immer Ihr für einen gerechten Anlass halten mögt, hier einzudringen, geht sie ebenso gut wie mich etwas an.“

„Was, wenn meine Schilderung in den Ohren Eures Kindes misstönen und Alpträume heraufbeschwören würde? Ich habe eine Warnung für Euch und die Details sind nicht nur vertraulich, sondern ebenso unangenehm. Wie wäre es“, fuhr Pooka fort, als Blair noch keine Absicht zeigte, sich zu rühren, „zum Beispiel mit Baumnymphen, in die der Blitz eingeschlagen hat. Verkohlte, schwarze Körper, die neben der gespaltenen Ruine ihres Baumes liegen. Oder Hippocampi, die von Flutwellen an den Strand gespült werden, um dort zu verenden, nur Zentimeter von ihrer Heimat entfernt, das Salzwasser noch in den Nüstern, und dennoch nicht fähig, sich zu retten. Während das Meer immer mehr der Wüste weicht. Drachen, deren Flügel von Eisspeeren durchstoßen werden, die vom Himmel fallen wie Geschosse, angetrieben durch den nicht enden wollenden Sturm, der plötzlich einsetzt und gleich darauf wieder schweigt, nur um mit doppelter Wucht zurückzukehren.“

„Genug!“, sagte Blair, aber aus Pooka schien nun gleichfalls ein Sturm hervorzubrechen, der sich lange in ihm angestaut hatte.

„Selbst die Pilzgnome!“, rief er aus. „Ich habe nie behauptet, gut mit diesen kleinen Biestern auszukommen. Aber ich kann nicht hinsehen, wenn sie da entwurzelt und zertrümmert am Boden liegen, umringt von toten Schmetterlingen, zerknickten Blumen und faustgroßen Hagelkörnern! So vieles, was stirbt in diesen Zeiten und ich kann es nicht aufhalten. Ich kann es nicht aufhalten. Dabei muss ich es.“

„Das hat nichts mit uns zu tun“, gab Blair zurück.

Estanas Zunge aber wurde trocken. Was der Ziegenmann berichtete, ging ihr nah, obwohl es in einer fernen Welt geschah und sie sich nichts unter einem Pilzgnom vorzustellen vermochte. War das alles tatsächlich so weit weg wie sie glaubte?

„Nein“, fauchte Pooka. „Ihr habt gar nichts damit zu tun. Noch nicht. Aber es wird auch Euer Kampf sein, bald schon,

Ihr werdet sehen. Und nun –„

Er vollführte eine Handbewegung voll Entschlossenheit und Ungeduld und Estanas Sichtfeld verschleierte sich, als ob Schnee auf ihre Sinne fiele. Die Lider wurden schwer, ihre Beine knickten ein. Sie verspürte den übermächtigen Wunsch, zu schlafen…

Die Rache des Mondes

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