Читать книгу Die Sonne über Seynako - Sheyla McLane - Страница 10

Оглавление

Kapitel 7

Erschrocken riss Azur die Augen auf. Ihre Hände suchten vergeblich nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Durch das kleine Fenster der Kutsche sah sie die Welt in einem flüchtigen Farbenmeer an sich vorbei rasen, der Kutscher auf dem Bock rief den Pferden zu, schneller zu laufen und knallte mit der Peitsche. Da fuhr der Wagen über eine Unebenheit und hüpfte abermals. Alec fluchte auf und ruderte mit den Armen, um nicht gegen Allan geschleudert zu werden.

Als der Seher von einem „kleinen Ausflug“ gesprochen hatte, war Azur von einer kurzen, gemütlichen Fahrt ausgegangen. Damit hatte diese Raserei allerdings nichts zu tun. Prinz Alec schien ihren Gedankengang zu teilen, denn er fragte: „Beim Sonnengott, Allan! Wann hat das bloß ein Ende!“

Anstelle einer Erklärung streckte der Seher seinen Kopf durch das kleine Fensterchen und blaffte den Kutscher an: „Schneller! Was trödelt Ihr denn so!“ Vielleicht hätte er noch mehr gesagt, wenn nicht ein tief herabhängender Ast ihn dazu genötigt hätte, seinen Kopf wieder einzuziehen.

„Ich verlange eine Erklärung. Jetzt sofort.“, forderte Alec.

„Wir fahren natürlich nach Ghabran!“, rief Allan über die preschenden Hufe und das Knarzen der Kutsche hinweg. „Es ist das am weitesten nördlich gelegene Dorf Seynakos. Vielleicht finden wir dort Hinweise zu den seltsamen Vorkommnissen.“

Als die Kutsche endlich hielt und Azur ausstieg, dankbar dafür, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, taumelte sie zunächst ein paar Schritte, ehe sie sich wieder an das Gefühl gewöhnte, ihre Bewegungen selbst koordinieren zu können. Von der wilden Fahrt war ihr noch ganz schwindelig.

Besorgt umfasste Alec ihre Schultern, damit sie nicht fiel. „Ist alles in Ordnung, Azur?“

Allan nickte ihr aufmunternd zu, seine kurzen, weißen Haare standen noch wirrer ab als sonst. Es war ihr unangenehm, dass die beiden ihr so viel Aufmerksamkeit schenkten, doch sie kam nicht dazu, heiße Wangen zu kriegen. Fast zeitgleich sahen sie sich um und erschauderten.

„Allan? Bist du sicher, dass wir… ich meine, dass wir hier richtig sind?“ Alecs Stimme war so flau wie Azur sich fühlte. Dieser Teil des Landes wirkte wie ein abgetrenntes Körperteil Seynakos. Der Himmel war grau, die wenigen Häuser sahen abweisend und ungepflegt aus und waren von riesigen, knorrigen Bäumen mit dichtem Blätterwerk umgeben, die weite, dunkle Schatten warfen, was den Eindruck erweckte, als sei der Boden hier von Abgründen zerklüftet.

„Seht nur.“ Allan deutete in Richtung der Felder, die kümmerlich und winzig aussahen im Vergleich zu den weiten, sattgoldenen Äckern, die Azur vertraut waren. Dahinter türmte sich eine gigantische Nebelwand auf. „Das ist die Grenze.“, erklärte Allan mit gesenkter Stimme. „Dahinter liegt das Feoras-Gebirge, das unsere Länder Seynako und Peiramos trennt. Nur wenige von denen, die sich bis dahin vorgewagt haben, sind lebendig wieder zurückgekehrt. Und keinem ist es jemals gelungen, die andere Seite zu erreichen.“

Alec kniff die Augen zusammen. „Mein Vater hat mir manchmal davon erzählt, als ich noch ein kleiner Junge war.“, sagte er.

Der Nordwind trug hier und da Nebelschwaden über das Feld bis zu den Häusern, wo sie sich im Nichts auflösten. Azur sah zu der Wand aus scheinbar undurchdringbarem Nebel hinüber, die sie mit einer Mischung aus Beklemmung und Anziehung erfüllte. Die Luft war durchtränkt von einer diffusen Bedrohung, die Azur in den Ohren flirrte und schwer auf ihre Lungen drückte. Es war, als greife etwas nach ihrem Herzen. Ein geheimnisvoller Zauber lag über der Grenze wie leiser, ferner Gesang – klar und deutlich, und doch war sie nicht sicher, ob er zur Wirklichkeit gehörte. Trotz ihrer Furcht schien ihr der Ruf des Nebels auf seltsame Weise vertraut. Die weißen, tanzenden Schwaden starrten sie an. Azur fühlte sich beobachtet.

„Scheint als wäre unsere Ankunft nicht unbemerkt geblieben.“, raunte Allan. Hinter den blinden Fenstern der Häuser tauchten Gesichter auf, in denen sich Neugier und Misstrauen spiegelten. Eine Tür wurde aufgestoßen und eine Frau erschien. Sie winkte. Unsicher folgten Alec und Azur dem Seher, der die Geste der Fremden erwartet zu haben schien.

Die Frau verbeugte sich vor jedem von ihnen und bat sie mit ehrerbietigen Gesten herein. Ihr Heim war einladender, als es sich von außen den Anschein gab. Auf einer Bank lagen Felle ausgebreitet, auf dem Tisch stand ein dampfender Topf mit Suppe und die Wärme des Kaminfeuers sandte ihnen einen wohligen Schauer über die fröstelnden Glieder. Ein kleiner Junge, der gedankenverloren mit einer Holzpuppe spielte, hockte vor dem Ofen. „Es ist mir eine Ehre, Euch in meinem Haus willkommen heißen zu dürfen. Nehmt bitte inzwischen Platz.“, sprach sie und verschwand in einem Nebenzimmer.

Während Allan es sich in dem einzigen Sessel bequem machte, standen der Königssohn und Azur unschlüssig auf der Schwelle. „Seid freundlich zu ihr und achtet auf eure Wortwahl, diese Frau hat fast alle ihrer Kinder verloren.“, mahnte der Seher leise.

Im nächsten Moment kam sie schon mit ein paar Schüsseln auf dem Arm wieder zurück. „Nehmt bitte Platz, wenn es Euch beliebt.“, wiederholte sie und bedachte Azur mit einem verschämten Lächeln. Sie fühlte sich nicht ganz wohl dabei, das Mädchen mit dem blauen Haupt persönlich im Haus zu haben und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. „Man sagte mir, Ihr wolltet mich sprechen?“, fragte sie, als alle am Tisch saßen. „Und… Ihr wüsstet, was mit meiner Tochter geschehen ist?“

Allan schlürfte bedächtig einen Löffel Suppe. „Darf ich fragen, wie es Eurem Mann geht?“

„Der Medikus hielt es für das Beste, ihn vorerst bei sich zu behalten. Er besaß die Güte, ein Zimmer in seinem eigenen Haus freizumachen. Seine Verletzungen sind… schlimm. “ Sie unterbrach sich und schluchzte leise.

„Ich weiß, es ist schwer für Euch, aber sicher wäre es hilfreich, wenn Ihr uns schildern würdet, was genau passiert ist.“, sagte Allan.

Die Frau, die den kleinen Jungen auf ihren Schoß gesetzt hatte, seufzte schwer und senkte den Blick. „Ich will es versuchen. Erst meine Mutter und dann noch… meine süße Irina.“ Schnell wischte sie eine Träne fort. „Vor wenigen Wochen waren mein Mann und meine drei ältesten Söhne draußen mit der Feldarbeit beschäftigt, während Mutter, Irina und ich in der Küche das Mittagessen zubereiteten. Plötzlich schwankte meine Mutter und sagte, sie fühle sich schwach und fiebrig. Wir führten sie hinaus an die frische Luft, wo sie sich setzte und tief durchatmete. Sie versicherte uns, es gehe ihr schon besser, wir sollten uns keine Sorgen machen und uns weiter um das Essen kümmern. Als wir ein paar Minuten später nach ihr sehen wollten, war sie auf einmal ganz verändert. Sie sprach davon, dass jeder seine Bestimmung habe und bat mich, zum Bader zu gehen und Medizin gegen ihre Schmerzen zu holen. Sie war schon sehr alt, seht Ihr, und ich habe mir Sorgen um sie gemacht, ich konnte doch nicht ahnen, dass…“ Ihre Stimme versagte und sie drückte das Kleinkind fest an ihre Brust.

Azur tauschte einen schüchternen Blick mit Alec, nicht sicher, ob sie die Geschichte bis zum Ende hören wollte.

„Schon gut, meine Liebe.“, beschwichtigte der Seher die Frau. „Erzählt doch bitte weiter.“

Sie nickte und fuhr fort: „Was soll ich noch sagen? Als ich zurückkam, hörte ich von Weitem schon die Schreie. Unsere Nachbarn waren in heller Aufregung und liefen um das Haus herum, aber keiner getraute sich, hineinzugehen. Ich war es schließlich, die die Tür öffnete. Diesen Anblick… werde ich nie vergessen, so lange ich lebe.“ Bei der Erinnerung rannen Tränen über ihre Wangen, doch sie war zu ausgebrannt, um noch richtig weinen zu können. „Meine Mutter stand mitten im Raum. Und überall, ja überall war Blut.“, berichtete sie, während sie ihren kleinen Sohn mit nervösen Bewegungen wiegte.

Unwillkürlich ließ Azur ihren Blick über den Boden schweifen. Dort, wo das Holz der Dielen kleine Ritzen hatte oder sehr uneben war, konnte man noch die eingetrockneten Rückstände des Massakers erkennen. Übelkeit stieg in ihr auf.

„Sie hielt das lange Küchenmesser in der Hand und lachte hysterisch, ohne mich wahrzunehmen. Sie rief nach jemandem, ich weiß nicht mehr…“

„Nach ihrem Meister?“, fragte Alec unruhig, der den Ausgang der Geschichte schon erahnte.

„Ja, genau das war es. Sie rief, dass sie ihre Aufgabe erfüllt habe und für seine weiteren Befehle offen sei. Aber auf einmal… brach sie zusammen, begann zu weinen und… wusste nicht mehr, was geschehen war. Meine drei Söhne… sie waren tot. Nur der kleine Simon hier hat überlebt, weil Irina sich mit ihm in einem alten Schrank auf dem Dachboden versteckt hatte.“ Sie gab dem Kind einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Mein Mann wurde sehr schwer verletzt, sodass in den letzten Tagen nur Irina, Simon und ich auf dem Hof waren. Meine Tochter hat in dieser Zeit sehr schwer schuften müssen, aber was hätte ich denn machen sollen? Allein ist die viele Arbeit ja nicht zu schaffen. Und jetzt, wo auch noch Irina weg ist…“

Allan redete beruhigend auf die unglückliche Mutter ein, die ihr jüngstes Kind, das letzte, das ihr geblieben war, schützend in den Armen hielt und an sich drückte, während sie mit den Tränen und den grausigen Bildern vor ihrem inneren Auge kämpfte. „Gestern dann ist mein Mädchen plötzlich ganz unheimlich geworden. Sie schrie: ‚Da siehst du es, Mama! Der Meister hat mich schließlich auserwählt, zu ihm zu kommen!‘ Bitte, ich weiß wirklich nicht, was sie damit gemeint haben könnte.“

Schon bei den letzten Sätzen hatte Azur darum kämpfen müssen, sich nicht zu übergeben. Die schrecklichen Einzelheiten der Geschichte verknüpften sich mich der Erinnerung an den Kerker Cians. Sie hatte Irinas Großmutter in ihren letzten Minuten erlebt. Dieser Ort brachte ihr das schrille Lachen, den wahnsinnigen Singsang der Alten so lebhaft ins Gedächtnis, dass ihr Magen rebellierte und sie die Augen schließen musste, um nicht die Ritzen des Holzbodens anzusehen. Sie versuchte, ruhig und gleichmäßig durch die Nase zu atmen und die Tatsache, dass sie heute dort saß und Suppe schlürfte, wo vor wenigen Wochen Menschen auf bestialische Art und Weise ums Leben gekommen waren, zu verdrängen.

„Irina ist fortgelaufen.“, sagte die Frau. „Durch den Nebel hindurch Richtung Norden.“

Azur sprang auf und stürmte hinaus. Sie hatte das Gefühl, in diesem Haus ersticken zu müssen.

„Entschuldigt mich.“ Alec lief ihr nach. „Azur, was ist los? Hat dich die Geschichte erschreckt?“

Sie schüttelte den Kopf, zwang sich zu einem verunglückten Lächeln und wollte sich ein paar Schritte von ihm entfernen, doch ihre Beine gaben nach. Es ging zu schnell, als dass Alec sie hätte auffangen können.

Der Seher erschien im Türrahmen, die Stirn unwirsch in Falten gelegt.

Alec fühlte Azurs fiebrige Stirn. „Wie müssen sie sofort nach Cian bringen. Sie braucht einen Medikus.“

Doch Allan schüttelte entschlossen den Kopf. „Nein, mein Prinz. Es fängt gerade erst an, interessant zu werden.“

„Der Meister ist hier…“ Azur versuchte zu erfassen, woher die Stimme kam, aber bei der pechschwarzen Dunkelheit um sie herum war das ein Ding der Unmöglichkeit. Sie hörte Hufgetrappel sich nähern und erinnerte sich an das Heer, das sie gesehen hatte, bevor die Sonne sich verdunkelte. Ihr erster Instinkt war es, fortzulaufen und sich so vor der Horde in Sicherheit zu bringen. Die Soldaten würden sie nicht sehen und darum lief sie Gefahr, unter die Hufe ihrer Schlachtrösser zu geraten.

Aber etwas veranlasste sie dennoch dazu, stehen zu bleiben. Nein, die Geräusche stammten nur von einem einzelnen Pferd. Sie hörte auch nicht das metallische Scheppern der Rüstungen und Waffen, sondern nur das Wehen von Stoff im Wind, vielleicht das einer Fahne?

Plötzlich verstummten auch diese Laute. Wer auch immer es in dieser Dunkelheit geschafft hatte, nicht vom Pferd zu fallen, musste sich jetzt in ihrer unmittelbaren Nähe befinden und das brachte sie in enorme Bedrängnis. Sie hielt den Atem an. Wartete. Spitzte die Ohren.

Da spürte sie auf einmal einen Luftzug in ihrem Nacken, warmen Atem, und zwei Arme schlossen sich von hinten um sie wie eine Schraubzwinge. Sie wollte schreien, aber es gelang ihr nicht. Keinen Ton, nicht einmal ein schwaches Winseln brachte sie hervor.

Laute Flügelschläge durchschnitten die Nacht, wie eine scharfe Klinge Samt zerteilt. Sie blickte nach oben und sah Feuer. Fliegendes Feuer, das die Dunkelheit erhellte.

„Azur!“ Sie fuhr hoch, die Bilder in ihrem Kopf verblassten, stattdessen blickte sie in Alecs Gesicht, dankbar dafür, wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt zu sein. Allan erhob sich ächzend von seinem Stuhl und schlurfte an das Lager, auf dem Azur erwacht war. „Sie hatte eine Vision.“, stellte er fest, nachdem er kurz ihren Puls gefühlt und ihr tief in die Augen gesehen hatte. „Verflucht, ich möchte zu gern wissen, was ihr solche Angst eingejagt hat. Schaut sie Euch an, mein Prinz! Vielleicht besitzt sie die Fähigkeit Ereignisse vorauszusehen – und wir können diese Gabe nicht nutzen, weil das Mädchen stumm ist und uns ihre Visionen nicht mitteilen kann.“

Azur rollte sich wie ein getretener Hund zusammen und weinte leise in das Fell, auf dem sie lag und das ihr verriet, dass sie sich immer noch in Ghabran befanden.

„Gibt es denn nicht so eine Art Zeichensprache?“, fragte Alec, während er ihr mitfühlend über den Rücken strich.

„Die mag es geben, aber ich kenne keine.“

„Dann könnte sie das Schreiben lernen, oder?“

„Das wird sie müssen.“, erwiderte Allan. „Doch ich fürchte, wir haben die Zeit nicht mehr, junger Prinz.“

Die Sonne über Seynako

Подняться наверх