Читать книгу Die Sonne über Seynako - Sheyla McLane - Страница 9
ОглавлениеKapitel 6
„Azur, ich werde dir jetzt einige Fragen stellen. Es reicht aus, wenn du entweder nickst oder mit dem Kopf schüttelst.“ Allan ging langsam vor ihr auf und ab, kratzte sich hin und wieder am Kopf und seiner Miene nach zu urteilen stand er kurz davor, die Rätsel des Universums zu entschlüsseln. „Meiner Theorie zufolge hat der Mensch ein gewisses Maß an Fähigkeiten, die allerdings bei jedem auf ganz unterschiedliche Talente verteilt sind. Während der eine zum Beispiel gut rechnet, dafür aber keinen Ton singen kann, lässt ein anderer, dessen Stimme eine Kur für die Ohren ist, sich im Wirtshaus über den Tisch ziehen. Dir, meine liebe…“, er blieb abrupt stehen und deutete auf Azur „…geht eine wichtige Fähigkeit ab, nämlich die der Sprache. Und darum komme ich zu dem Schluss, dass eine andere Gabe bei dir stärker ausgeprägt sein muss als bei normalen Menschen. Vielleicht besitzt du sogar eine völlig neue, eine übernatürliche Fähigkeit?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. Wenn dem so wäre, dann hätte sie es sicher schon bemerkt, aber bis auf ihr Äußeres und die Tatsache, dass sie auf unerklärliche Weise verstummt war, unterschied sie nichts von allen anderen.
Allan klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Nur Mut, Azur. Wir werden das Kind schon schaukeln. Bist du bereit?“
Sie nickte anständig.
„Magst du die Sonne?“
Sie hob die Schultern. Was für eine seltsame Frage.
„Das gilt nicht!“, schimpfte Allan und fuchtelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. „Es gibt nur Ja oder Nein, also nochmal ganz eindeutig: Magst du die Sonne?“
Ja.
„Gibt es in deiner Familie noch jemanden, dessen Haar eine außergewöhnliche Färbung aufweist?“
Nein.
„Hattet ihr irgendwann einmal Kontakt zu jemandem aus Peiramos?“ Niemals. Wie hätte das auch vonstattengehen sollen?
„Hast du besondere Fähigkeiten? Irgendetwas, was normale Leute nicht können?“
Nein.
„Kannst du vielleicht mit Tieren sprechen?“
Nein.
„Das Pflanzenwachstum beschleunigen?“
Nein.
„Oder Gedanken lesen?“
Ne-ein.
„Besitzt du überzählige Gliedmaßen? Eine elfte Zehe, oder eine Hundeschnauze am Steiß?“
Wie bitte? Nein!
„Träumst du oft?“
Ja.
„Hattest du schon einmal eine Vision?“
Ja… oder doch nicht? Azur zögerte. Ob man das, was unten im Kerker geschehen war und den merkwürdigen Traum, der sie danach heimgesucht hatte, als Vision bezeichnen konnte, war fraglich. Außerdem war sie sowieso nicht in der Lage, zu beschreiben, was sie gesehen hatte.
Allan kniff die Augen zusammen, unschlüssig, wie er ihre Reaktion zu deuten hatte, kam aber bald zu der Überzeugung, dass Azurs Zögern als zustimmende Antwort gewertet werden durfte. „Wann war das?“
Sie zeigte zwei Finger.
„Vor zwei Jahren?“
Nein!
„Vor zwei Tagen? Beim mächtigen Sol, warum hast du denn nichts gesagt?“
Er zog den Schlüssel aus seiner Tasche und schob ihn in das Schloss, für das er geschmiedet war. Man musste ihn unüblicher Weise nach links drehen, um aufzuschließen. Würde ein Unwissender ihn nach rechts drehen, täte sich augenblicklich eine Falltür unter seinen Füßen auf. Ein kompliziertes, mechanisches System machte dies möglich. Alefes war der einzige, der wusste, was sich hinter der Tür befand und das sollte auch so bleiben.
Er trat ein und schloss hinter sich wieder ab. Dann stieg er die Stufen hinab, die in das Kellergewölbe führten. Dabei vermied er es, diejenigen Stufen zu berühren, die einen weiteren tödlichen Mechanismus ausgelöst hätten. Zwar konnten diese Fallen einem Unsterblichen nichts anhaben, doch Pfeile und Flammenfontänen hätten zumindest die Kraft, ihm ein paar Unannehmlichkeiten zu bescheren.
Ohne jegliches Zutun seinerseits flammten die Fackeln auf, an denen er vorbeikam und brachten zuckendes Licht ins Dunkel des engen Ganges. Wie alles hier unterlagen auch sie seinem Willen.
Vor seinen Füßen huschte eine Ratte vorbei. Mit ihren schwarzen Knopfaugen musterte sie ihn einen Herzschlag lang, bevor sie sich durch einen der Risse im Mauerwerk zwängte. Unten erwartete ihn ein Kaminzimmer, in dem er die Aufzeichnungen seiner magischen Studien sammelte, doch er war nicht gekommen, um es sich in einem der schweren Sessel gemütlich zu machen. Die Bücher drehten sich mitsamt der Wand, an der sie aufgereiht waren, um neunzig Grad. Alefes schritt durch den Durchgang, der sich hinter ihm knirschend schloss.
Er vernahm das Rascheln von Stroh und verängstigtes Winseln. Jemand weinte leise vor sich hin. Einen Moment blieb er im Dunkeln stehen und genoss diese beruhigenden Klänge, als handle es sich um Musik.
Eine einfache, kaum merkliche Bewegung seiner Rechten erleuchtete das hohe Gewölbe. Die Wände waren unverputzt und da sein Spielzimmer sich tief unter der Erde befand, gab es keine Fenster. Alefes liebte den Keller. Das einzige, was ihn störte, war der Gestank. Aber wenn er daran dachte, welche besonderen, ekstatischen Momente er hier unten erlebt hatte und auch in Zukunft noch erleben würde, konnte er darüber hinwegsehen. Andächtig streichelte er das Tuch aus dickem, dunkelblauem Samt, das über dem ersten Käfig hing. Das Metallgestell erbebte unter seinen Fingern.
Er ergriff den Stoff und riss ihn mit einer kraftvollen Geste beiseite. Die Gestalt, die darunter zum Vorschein kam, krümmte sich zusammen und schlang ihre Arme schützend um den Kopf. Dabei rasselten die Ketten an Händen und Füßen.
„Phelan!“, rief Alefes den abgemagerten, jungen Menschen an.
Ängstlich lugte Phelan zwischen den Fingern, die er vors Gesicht geschlagen hatte, zu ihm hinauf. „Meister, seid Ihr es?“
„Ja, Phelan. Hast du auf mich gewartet?“
„Habe ich, Meister. Habe ich. Macht Ihr mir heute die Ketten ab? Bitte, Meister?“
„Wir werden sehen. Das kommt ganz auf unsere kleine Freundin an...“ Mit diesen Worten befreite er den zweiten Käfig von seinem dunkelblauen Gewandt. Darunter war ein Mädchen verborgen. „Enya.“
„Meister?“, flüsterte sie, als er sie ansprach. „Ich habe mich nach Euch gesehnt.“ Hilfesuchend streckte sie einen Arm aus, der inzwischen so dünn war, dass er durch die Stäbe passte, und kam Alefes` Umhang damit gefährlich nahe.
„Wage es nicht!“, schrie dieser erbost. „Niemals dürft ihr mich berühren, niemals! Hast du das noch immer nicht verstanden, Enya? Wenn du so etwas tust, musst du sterben!“
„Aber ich möchte Euch so gern anfassen…“, flüsterte sie und wischte eine Träne von ihrer Wange. „Ich will Euch nah sein.“
„Sieh dich an!“, versetzte Alefes. „Willst du meinen Umhang mit deiner unwürdigen Hand beschmutzen?“
Enya begann herzzerreißend zu weinen und zog sich den viel zu großen Lumpen, den sie trug, bis ans Kinn hinauf. „Verzeiht mir, Meister.“
„Vielleicht verzeihe ich dir, wenn du dich heute anstrengst und mir keine Schande machst.“ Er beglückwünschte sich selbst zu den Früchten der guten Erziehung, die die beiden durch ihn genossen hatten. Genauer gesagt hatte er sie einer Art Gehirnwäsche unterzogen.
Phelan und Enya stammten beide aus einer kleinen Stadt, nur etwa eine Tagesreise von hier entfernt. Sie, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns, hatte sich in den etwas älteren Bäckergesellen verliebt. Eine Verbindung, die der gesellschaftlichen Norm wegen unter keinem guten Stern stand. In einem Ausbruch törichter Verliebtheit waren beide aus der Stadt geflohen. Sie waren schon weit gekommen, als ein schlimmes Unwetter sie überraschte, vor dem sie in der alt ehrwürdigen Kathedrale Schutz suchten, welche Trivia geweiht war.
Unglücklicherweise hatte sich Alefes kaum eine Stunde zuvor in selbige zurückgezogen, um der Göttin ein Opfer zu bringen. Zuerst hatte er die beiden aus Wut darüber, dass sie ihn bei der Zeremonie gestört hatten, töten wollen, es sich dann aber anders überlegt. Immerhin gaben die beiden ein so hübsches Paar ab, dass er sich gefragt hatte, ob das Band ihrer Liebe, das so unzerstörbar schien, seinen telepathischen Fähigkeiten standhalten würde.
Wie zu erwarten gewesen war, konnte es sich der Magie des mächtigen Halbgottes nicht erwehren. Ohne großen Aufwand hatte er ihre Erinnerungen gelöscht und sie in Käfige gesperrt wie Vieh, was sie mit hündischer Unterwürfigkeit hinnahmen. Mehr noch. Sie waren ihm dankbar dafür, liebten ihn und buhlten voreinander um seine Gunst.
Erhaben ließ er sich in seiner persönlichen, kleinen Loge nieder und die Ketten, die Phelan und Enya in Zaum gehalten hatten, fielen von ihnen ab. Im selben Moment öffneten sich auch die Käfige. Ein Vorgang, den beide schon so gut kannten, dass sie nicht mehr erschraken. Ähnlich der Ratte, die Alefes vorher über den Weg gelaufen war, krochen sie heraus und musterten sich gierig.
„Meister. Ich bin hungrig.“, knurrte Enya und fixierte dabei Phelans Hals, als ob sie ihm die Kehle zerfleischen wolle.
„Ich werde euch Essen geben.“, erwiderte Alefes. „Aber nur einem von euch. Nur dem, der es geschafft hat, mich stolz zu machen.“
Phelan ballte entschlossen seine hagere Faust. „Ich werde Euch stolz machen, Meister.“
Zwei Wölfe, kurz vor dem Kampf und das einzige Stück Fleisch. Ausgehungert, kampfeslustig, jeder noch so verkümmerte Muskel aufs Äußerste gespannt. Alefes tat ihnen den Gefallen und flüsterte die Worte, auf die sie gewartet hatten: „Die dunkle Macht ist in euch. Kämpft!“
Zufrieden gewahrte er, wie Enya ihre Fäuste gegen Phelans Brust schlug, sodass dieser nach hinten stürzte und beide zu Boden gingen. Trotz ihrer dürren Statur wohnte ihr eine ungeheure Kraft inne.
Er packte ihre Handgelenke, die knackten, als ob sie unter seinem festen Griff aufschreien würden, zog sie auseinander, worauf sie den Halt verlor und vornüberkippte. Das nutzte er aus, um ihr eine kräftige Kopfnuss zu verpassen. Benommen ließ sie sich auf den Rücken rollen. Phelan saß nun auf ihr und schlug gnadenlos auf sie ein. Die Schläge waren zielgerichtet und wuchtig. Alefes sah ihnen noch eine Weile zu, wie sie sich gegenseitig drangsalierten, austeilten, einsteckten und immer wilder wurden, anstatt zu ermüden.
Schließlich sprang Enya ihren einstigen Geliebten an, klammerte sich mit Armen und Beinen an ihn und biss ihn so heftig in die Schulter, dass er vor Schmerz aufjaulte. Blind vor Zorn rammte er sie gegen die Gitterstäbe seines Käfigs. Sie ließ von seiner Schulter ab, nun ihrerseits schreiend, die Zähne rot vom Blut ihres Gegners. Immer wieder rannte Phelan gegen die Stäbe, doch sie ließ nicht eher von ihm ab, als bis der Käfig verbeult und ihr Rückenmark zu Matsch geschlagen war. Erst dann lockerte sich ihr Griff und sie sackte zu Boden, kaum noch fähig, die Glieder zu rühren. Um sicherzugehen, dass sie nicht wieder aufstehen würde, versetzte Phelan ihr einen Tritt gegen die Schläfe. Schwer atmend, die Hand an der verletzten Schulter, wandte er sich zu seinem Meister um. „Seid Ihr zufrieden mit mir, Meis…“
„Warum hat das so lange gedauert?“
„Verzeiht mir.“
„Du bist dein Futter nicht wert. So schlecht, wie du gekämpft hast, verdienst du es nicht. Aber weil ich heute in gnädiger Stimmung bin, sollst du das Essen bekommen.“ Alefes warf ihm eine rohe Keule zu.
Während Phelan sich über die Henkersmahlzeit hermachte, wandte der Halbgott sich Enya zu. Er kniete sich neben sie und strich mit spitzen Fingern eine Strähne von ihrer schmutzigen, blutigen Stirn. Sie hatte gekämpft wie zehn Männer. Aber Phelan war stärker gewesen. Zauberformeln flüsternd streckte er seine Hand über ihr aus, setzte die gebrochenen Knochen und gerissenen Sehnen in ihr zusammen. Heilungszauber waren zwar nicht seine Spezialität, da er sie eigentlich nie verwendete, aber verfehlten sie dennoch nicht ihre Wirkung. Ohne sie zu berühren, rückte Alefes die Wirbel zurecht und ließ die Organe wieder ihre zugedachte Funktion aufnehmen. Der Körper des Mädchens verdrehte sich krampfartig, begleitet von unnatürlichem Knacken. Er hörte erst auf, als die Wunde an Enyas blasser Schläfe sich schloss. „Leg ihr wieder Fesseln an und bring sie in ihren Käfig.“, befahl er Phelan.
„Wie Ihr wünscht, Meister. Das nächste Mal mache ich Euch ganz gewiss stolz. Das schwöre ich.“
„Pst, Mädchen. Hier bin ich. Hallo.“
Azur blieb stehen und lauschte. Die leise Stimme hallte in dem langen, möbellosen Gang wieder. Links führte er zu den Stallungen, wo sie beabsichtigte, Doodle einen Besuch abzustatten. Rechterhand ging er in die königliche Küche.
„Hey!“
Erschrocken wirbelte Azur herum und presste eine Hand auf ihr rasendes Herz.
„Ich bin es. Tut mir leid, wenn ich dich überrascht habe.“, sagte Neal und zauberte ein Bündel hinter seinem Rücken hervor. „Weißt du, ich habe hier ein Stück wunderbares, zartes Rindfleisch. Und ich dachte – weil du praktisch hier zu wohnen scheinst, warum auch immer, also… vielleicht wäre es dir möglich, den Koch zu fragen, ob er es mit einer guten Rosmarinsoße zubereitet, und es mir dann zu bringen?“ Neal drückte ihr das eingewickelte Stück Fleisch in die Hand. „Danke, das ist lieb von dir. Ich warte bei deinem Pony auf dich.“ Und weg war er.
Zerstreut schüttelte Azur den Kopf. Was sollte sie nur mit dem Rindfleisch machen? In die Küche bringen konnte sie es nicht, doch wegwerfen wollte sie es ebenso wenig. Außerdem würde Neal morgen noch in Doodles Stall sitzen, wenn sie nicht kam. Seufzend wählte sie den rechten Gang.
In der Küche war es angenehm warm und es roch köstlich nach Gewürzen. Der Koch war alles andere als erfreut über ihren Besuch und die Mägde musterten sie argwöhnisch, aber da sie ein Gast Seiner Majestät war, trauten sie sich nicht, Azur vor die Tür zu setzen. Zaghaft drückte sie dem Koch das eingewickelte Fleisch in die Hand, zeigte auf ein Bündel Rosmarin, das auf dem Tisch lag, und setzte ein bittendes Lächeln hinzu.
„Hat das junge Edelfräulein sonst noch Anliegen?“, echauffierte sich der Mann mit erhobener Stimme und die Mägde kicherten schadenfroh. „Wie habt Ihr euch das vorgestellt? Ich bereite das Essen für Seine Majestät, seine Berater, die Wachen, das Gesinde und, seit Ihr da seid, auch noch für Euch und den alten Schwachkopf zu. Könnt Ihr mir verraten, woher ich die Zeit nehmen soll, Eure Extrawünsche zu erfüllen?“
Auf einmal löste sich eine Frau aus der feixenden Menge und streckte bittend eine Hand nach dem Bündel aus. „Wenn Ihr erlaubt, bereite ich es für Euch zu. Ich kann eine vortreffliche Rosmarinsoße dazu machen.“
„Tu was du nicht lassen kannst, Eva. Aber lass es dir bloß nicht einfallen, deine anderen Aufgaben dafür zu vernachlässigen.“ Warnend erhob der Koch einen Finger und wandte sich wieder seinen Töpfen zu.
Die Magd nickte vergnügt und straffte die Schleife ihrer Schürze. „Ich weiß schon, wo Neal steckt.“, flüsterte sie. „Er ist ein alberner Schelm, aber ich mag ihn sehr.“ Dann vollführte sie einen eleganten Knicks und ging an die Arbeit.
Die anderen Mädchen tuschelten, stießen sich gegenseitig an und kicherten. „Schaut sie euch an, die Auserwählte. Gestern war sie noch eine von uns und heute trägt sie den edelsten Zwirn auf.“, sagte eine. „Was meint ihr, ob Prinz Alec mich auch so nett behandelt, wenn ich mir etwas Blaubeersaft in die Haare schmiere?“, eine andere. Entweder glaubten sie, dass Azur es nicht hörte, oder es war ihnen gleichgültig.
Eiligen Schrittes kehrte sie den Lästerbälgern den Rücken zu und ließ den Flur hinter sich, durch den sie gekommen war. Ärgerlich wischte sie eine Träne fort, die sie nicht hatte zurückhalten können. Vielleicht würden die Mägde nicht so hämisch über sie reden, wenn sie ahnten, dass Azur alles dafür gegeben hätte, um mit ihnen zu tauschen. Sollte doch eine von ihnen die Last der Prophezeiung auf ihren Schultern tragen, anstatt nur Körbe voller Kohl und Kartoffeln. Die waren leicht gegen das, was Azur aufgebürdet war.
Auf der Treppe lief sie Allan in die Arme, der, behände für sein Alter, die Stufen erklomm. „Gut, dass ich dich treffe, Azur. Du wirst verlangt. Ein junges Mädchen ist verschwunden, aus einem Dorf nahe der Nordgrenze Seynakos.“
Selbstsicher lehnte Alefes sich auf seinem Thron zurück. Der Saal füllte sich langsam, die edelsten und einflussreichsten Männer des ritterlichen Clans kamen auf seinen Befehl hin zur Tafelrunde.
Blair hatte einen der hinteren Plätze erwählt. Sein Argwohn stand ihm offen ins Gesicht geschrieben. Alefes lächelte milde in sich hinein. Die Menschen waren sich ihrer Sehnsüchte nicht bewusst, keiner von ihnen. Blair wollte Freiheit. Und um ihretwillen würde er nicht davor zurückschrecken, seinen Herren zu verraten, wenn sich ihm die Gelegenheit bot. Wieso hatte er Blair den Oberbefehl über den Clan zugestanden? Er konnte sich nicht erinnern, es lag Jahre zurück und er pflegte, Unwesentliches aus seinem Gedächtnis zu streichen. So, wie die lächerliche Prophezeiung.
Bei dem Gedanken daran fiel Alefes wieder ein, wieso er ausgerechnet Blair den Vorzug vor allen anderen gegeben hatte. Nicht, weil er der Stärkste, der Klügste oder gar der Geachtetste gewesen war. Blair erhob die Stimme auch dann, wenn ihm nach Schweigen zumute war. Er straffte entschlossen die Schultern, wenn seine dunklen Augen unruhig waren. Er zwang sich selbst, die Hand ans Schwert zu legen, obwohl Gewalt ihm zuwider war. Wenngleich er kein Krieger war, kämpfte er gut. Er verleugnete sich selbst, um seinem Clan zu dienen. Jeder Tag, an dem er vor Alefes knien musste, an dem es galt, Würde zu zeigen, wo er sie verlor, jeder Tag in seinen Diensten war ihm verhasst. Doch er gehorchte.
Sein Anblick amüsierte Alefes. Ja, er war fast gewillt, von Rührung zu sprechen. Er wusste, dass er sich auf Blair verlassen konnte – was ihn wiederum nicht darüber hinwegtäuschte, dass er dem Ritter sein Vertrauen eines Tages, wenn der richtige Augenblick gekommen war, wieder entziehen musste.
Der Meister erhob sich und schlagartig wurde es still. Er ließ den Blick von Mann zu Mann wandern. Sie begegneten ihm mit gemischten Gefühlen, manche mit geziertem Stolz, andere in angespannter Erwartung. Alefes breitete die Arme aus. „Meine tapferen Ritter von Donovon!“, begann er. „Seit vielen Jahren nimmt euer Clan nun seinen festen Platz in der Regentschaft von Peiramos ein. Ihr herrscht seit hunderten von Jahren über das große Reich des Nordens. Durch mich. Ich habe eure Vorgänger zu mächtigen Männern gemacht. Sie schworen mir Loyalität und Treue, ich mehrte ihren Wohlstand. Und den übertrugen sie auf euch, indem sie euch zu ihren Nachfolgern erwählten.
Wenn ich euch anschaue, sehe ich mutige, ehrenvolle Männer, deren Kraft und Ehrgeiz ich stets gewürdigt habe. Lasst mich euch sagen: Bald werdet ihr noch reicher und mächtiger sein, als es eure Vorfahren jemals waren. Ich werde euch alle zu Königen machen! Vielleicht hat sich manch einer gefragt, warum ich Jahrzehnte hier in dieser Burg zugebracht und mich nie meinem, will sagen unserem Volk gezeigt habe? Zweifelt nicht daran edle Ritter, dass ich es für euch tat. Ich habe alles für einen Angriff auf Seynako vorbereitet und gedenke, ihn bald durchzuführen. Es wird schneller gehen, als eine Ernte einzuholen, und wir werden keine Verluste dabei erleiden, das garantiere ich euch.
Hört mich nun an, tapfere Ritter von Donovon. Die Göttin Trivia hat mich zu einer Gabe befähigt, die ich im Laufe der Jahre getestet und perfektioniert habe, sodass ich als ihr direkter Nachfahre mit meinen magischen Fähigkeiten in der Lage bin, das Land einzunehmen.“
Erregtes Raunen brandete auf.
Alefes klatschte in die Hände. Die Tür öffnete sich und ein Mädchen trat ein. Sie war dünn und ihr Kleid, das verriet, dass sie aus einfachen Verhältnissen stammte, stand vor Dreck. Am Saum hing es in Fetzen und manche glaubten, Reste von Blut darauf zu erkennen. Auch ihre bloßen Füße waren schmutzig, ihr Gesicht gerötet. Entsetzen breitete sich unter den Männern aus. „Seht ihr das? Das ist blondes Haar.“, flüsterten sie sich zu.
Da erblickte sie Alefes. Ihre Miene erhellte sich und sie flog strahlend auf ihn zu. „Meister!“, jubelte sie und er umschloss sie sanft, als sie sich ihm in die Arme warf.
„Ja, Irina, ich bin es. Wie ich sehe bist du meiner Einladung gefolgt. War der Weg weit?“
„Ich habe das gesamte Feoras-Gebirge durchquert, um bei Euch zu sein, Meister.“
Diese Worte brachten die Ritter vollends aus der Fassung. Schließlich stand einer von ihnen auf, schlug mit der Faust auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen und rief: „Dieses kleine Mädchen kann niemals den weiten Weg aus Seynako allein hinter sich gebracht haben! Mit Verlaub, aber ich glaube, Ihr spielt uns hier etwas vor!“
Irina wandte sich zu ihm um und zischte: „Ich trage einen Teil der Kraft des Meisters in mir. Seine dunkle Macht hat mich geführt.“
Kennan schwankte leicht, gab sich aber nicht überzeugt. „Das ist völlig unmöglich.“, urteilte er.
„Wenn Ihr an meiner Glaubwürdigkeit zweifelt, dann tretet vor und überzeugt Euch selbst. Ich wette, dieses Mädchen hat die Kraft, Euch in die Knie zu zwingen.“, sagte Alefes ruhig.
„Lächerlich!“, höhnte Kennan. Zwar war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher wie am Anfang, doch er wollte sich nicht die Blöße geben, von seinem Standpunkt zurückzutreten und damit kampflos vor einem kleinen Mädchen zu kapitulieren. Darum trat er vor und baute sich neben Irina auf. Einige schlugen auf den Tisch und stampften, um ihn anzufeuern, doch die Mehrheit der Männer hielt den Atem an.
Alefes schloss für einen Moment die Augen und täuschte einen Zustand intensivster Konzentration vor, obwohl er Irina mit Leichtigkeit beeinflussen konnte, aber das Ganze sollte schließlich Eindruck auf seine Zuschauer machen.
Entschlossen trat Irina endlich dem Ritter, der gut zwei Köpfe größer als sie, muskelbepackt und bewaffnet war, gegenüber. „Zieht euer Schwert!“, forderte sie.
„Ich werde keine Waffe gegen eine wehrlose Jungfer erheben.“, erwiderte der Angesprochene und setzte mit einem überheblichen Grinsen hinzu: „Genauso wenig braucht ein Löwe einen Waffenrock, wenn er einem Lamm gegenübertritt.“ Vereinzelt war höhnisches Lachen aus den Reihen der Männer zu vernehmen.
Kaum hatte der Halbgott Irina in Gedanken den Befehl zum Angriff gegeben, da stürmte das schmächtige Lämmchen auch schon auf den vermeintlichen Löwen zu und schlug seine winzige Faust gegen den Brustpanzer des Ritters. Kennan hatte den Angriff kommen sehen, es aber nicht für nötig gehalten, zu reagieren, da er glaubte, die Kleine werde sich an seiner Rüstung höchstens die Hand brechen. Dementsprechend unerwartet traf ihn die Wucht des Schlages, der ihn umwarf, als sei er mit einem wildgewordenen Stier kollidiert. Er ruderte mit den Armen und ging scheppernd zu Boden.
Blair war entsetzt aufgesprungen und starrte den wie ein Käfer auf dem Rücken liegenden Mann bestürzt an. Er glaubte, auf dessen Brustpanzer eine Delle oder zumindest eine leichte Wölbung zu erkennen.
Irina schwitzte nicht einmal. Die Blicke der Männer sprangen von ihm zu ihr und dann zu Alefes, der die Szene beobachtete, ohne eine Regung zu zeigen. Inzwischen hatte es Kennan geschafft, sich aufzurappeln. Die Ritter atmeten scharf ein, als er sein Schwert zog und es auf das Mädchen richtete.
Die eben erlittene Blamage ließ ihn seine Prinzipien vergessen. Mit einem zornigen Aufschrei ging er auf Irina los und alles schien plötzlich in Zeitlupe abzulaufen. Sie duckte sich vor einem kraftvollen, zielsicheren Schwerthieb. Gleichzeitig machte sie einen Satz nach vorn, griff nach dem Dolch, den der Ritter bei sich trug und zog die Waffe blitzschnell aus seinem Gürtel. Ihr Gegner kam zum Stehen, wandte sich schwerfällig um und stieß noch einmal einen wütenden Schrei aus, bevor er wieder mit vorgestreckter Klinge auf sie zulief. Auch diesem Hieb entwand sich das Mädchen, vollführte eine Drehung und rammte dem Ritter seinen eigenen Dolch in den Rücken.
Das Schwert fiel scheppernd zu Boden, bevor er keuchend in die Knie ging, eine Hand mit schmerzverzerrtem Gesicht gegen die Brust gepresst. Irina kniff die Augen zusammen und musterte ihr Opfer mit dem aufmerksamen Blick eines Raubvogels.
Sie trat hinter ihn, packte die in seinem Rücken steckende Waffe und zog sie mit einem Ruck wieder heraus. Blut tropfte von der Klinge auf den Boden und bildete eine feine, glänzende Spur. Blair und die anderen waren gelähmt angesichts des grauenvollen Anblicks. Selbst dann noch, als Irina den Ritter grob an den Haaren packte, blieb jeder einzelne starr. Sie hatten das Gefühl, als spiele sich alles hinter einer Glaswand ab, die niemand zu durchdringen vermochte. „Nein…“, röchelte Kennan, doch im nächsten Moment sackte sein Körper schon in sich zusammen, während Irina den Kopf noch an den Haaren hielt. Mit einem einzigen, glatten Schnitt hatte sie ihn vom Rumpf getrennt und warf ihn Alefes nun triumphierend vor die Füße.
„Ich lieh dem Meister mein Gesicht, und seine Kraft erfüllte mich. Die dunkle Macht, er teilt sie gern, drum huldigt unserem neuen Herrn!“