Читать книгу Die Sonne über Seynako - Sheyla McLane - Страница 5
ОглавлениеKapitel 2
Obgleich sie verstand, wieso ihr Vater über die Prophezeiung geschwiegen hatte, wäre es ihr lieber gewesen, er hätte sich eher dazu durchgerungen. Erst jetzt, dreizehn Jahre später, da der König sie zu sich befahl, erfuhr sie von jener Aufgabe, deren Bedeutung sie noch nicht zu verstehen vermochte. Wie kam der Seher dazu, ihr eine Kraft zuzusprechen, die sie unmöglich besitzen konnte? Welche Gefahr sollte das sein, die auf sie zukam? Und wieso gerade jetzt?
Doodle gewöhnte sich nur langsam an seine neue Rolle als Reitpferd. Azurs Beine schmerzten, so sehr musste sie ihn antreiben, um mit den langbeinigen Schimmeln ihrer Begleiter Schritt halten zu können. Auf einer Brücke, die über einen Fluss führte, blieb das Tier plötzlich stehen und rührte sich keinen Millimeter mehr von der Stelle. General Balfor und sein Begleiter merkten es nicht gleich, denn Azur hatte keine Stimme, mit der sie ihnen zurufen und sich bemerkbar machen konnte.
‚Bitte lauf, Doodle!‘, flehte sie in Gedanken und klopfte ihm kräftig mit der flachen Hand auf die Kruppe, schon sah sie den Abstand zu ihren Begleitern größer werden, doch das Pony war nicht zu erweichen. Doodle stand mitten auf der Brücke, selbstsicher wie ein Fels.
Da stieg Azur ab, aber jeder, der einmal versucht hat, ein Pony an den Zügeln hinter sich her zu ziehen, wird verstehen, warum sie scheiterte. Sie probierte sogar, Doodle zu schieben, doch egal wie angestrengt sie sich auch gegen seinen Pferdehintern lehnte, er bewegte sich keinen Millimeter. Er drehte nur interessiert den Kopf, um Azurs Mühen besser beobachten zu können.
„Es ist ganz unterhaltsam, dir zuzusehen. Allerdings glaube ich, dass du die hohen Herren nicht zu lange warten lassen solltest.“
Sie wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme zu hören war. Am Wegesrand im Gras saß ein junger Mann, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und betrachtete sie grinsend. Sie blickte nach General Balfor, der eben um eine Straßenbiegung ritt und sie noch immer nicht bemerkt hatte.
„Darf ich dir einen guten Rat geben? Vielleicht lockst du dein Pferd mal mit was Essbarem.“, schlug der Wegelagerer vor. Azur klopfte auf ihre leeren Schürzentaschen. Sie hatte nichts, womit sie Doodle locken konnte.
„Pass mal auf.“, sagte der junge Mann, rupfte ein Büschel Gras vom Wegesrand und wedelte damit vor Doodles Maul herum. Dieser reckte sich zwar danach, hielt es aber nicht für nötig, auch nur einen Schritt vorwärts zu tun. „Vielleicht hat er Angst vor der Brücke? Du solltest ihm zeigen, dass keine Gefahr von ihr ausgeht.“
Azur zuckte ratlos mit den Schultern. Auf einmal ging er neben dem Pferd auf alle Viere, wieherte und patschte mit zur Schau gestellter Gelassenheit auf Händen und Füßen an Doodle vorbei, der sich sichtlich unbeeindruckt zeigte. Am Ende der Brücke drehte er sich um, wieherte noch einmal und scharrte unbeholfen mit einer Hand im Dreck. Dann stand er wieder auf und klopfte sich den Staub von den Sachen. „Ich hatte gehofft dich zu Lachen zu bringen.“, sagte er und schaute fragend zu Azur, der die Tränen in die Augen getreten waren, weil sie herzhaft hatte lachen müssen. Nur war dabei kein Laut über ihre Lippen gekommen und deshalb hatte er es nicht wahrgenommen. Er interpretierte ihre Reaktion falsch. „Warum um alles in der Welt weinst du denn?“
Sie schüttelte den Kopf und gab ihm zu verstehen, dass sie stumm war, indem sie auf ihren Hals deutete. „Oh, ich dachte, du seist einfach überheblich.“, gab er zu und kratzte sich verlegen am Kopf. „Tut mir leid. Ich heiße übrigens Neal.“
Azur zwinkerte ihm versöhnlich zu.
„Sag mal…“ Wieder diese Geste. Sie konnte nicht anders, als in sich zusammen zu zucken, wenn man mit dem Finger auf sie zeigte. Dabei hätte sie sich längst daran gewöhnen sollen. „Du bist wohl nicht aus Seynako?“, fragte der junge Mann. „Jemanden mit… blauen Haaren habe ich noch nie gesehen.“ Offenbar fiel ihm auf, wie traurig diese Frage sie stimmte. Schnell fuhr er fort: „Einer der Männer, mit denen du unterwegs bist, ist General Balfor, nicht wahr? Ich hab ihn schonmal gesehen.“
Sie nickte.
„Ehrlich gesagt, das macht mich schon neugierig.“
Hier schüttelte sie den Kopf und legte den Zeigefinger auf die Lippen.
„Streng geheim, was?“
Doodle war das Gerede entschieden zu langweilig geworden. Er setzte sich in Bewegung und so stur er sich erstmals geweigert hatte, einen Schritt zu tun, reagierte er diesmal nicht auf Azurs Versuche, ihn aufzuhalten. Er trottete über die Brücke, bog nach rechts auf einen Pfad, der dicht ans Ufer des Flusses heranführte, senkte seinen Kopf und schlürfte in aller Seelenruhe das klare Wasser.
Neal schlug sich selbst vor die Stirn. „Darauf hätte ich auch kommen können! Autsch…“
Azur musste erneut über ihn lachen. Als Doodle sich gesättigt fühlte, hob er den Kopf und schnaubte zufrieden. Ein Echo aufgeregten Wieherns antwortete ihnen, begleitet vom näherkommenden Donnern schnellen Hufschlags. General Balfor und sein Kumpan galoppierten auf ihren Schimmeln heran, als gelte es, einen entflohenen Sträfling einzufangen.
„Ich sollte jetzt lieber verschwinden, bevor es Schwierigkeiten gibt.“, sagte Neal. „Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. Wer weiß, manche Wege kreuzen sich mehr als einmal im Leben.“ Er tat, als lifte er seinen nicht vorhandenen Hut, wie ein Edelmann, der sich als Bauer verkleidet hatte.
Neal verschwand gerade rechtzeitig, um nicht von Balfor gesehen zu werden, der just in diesem Moment um die Wegbiegung preschte. Die Farbe wich aus Azurs Wangen, als sie dem Blick seiner drohend verkniffenen Augen begegnete. Selbst wenn er guter Stimmung war – und das kam selten genug vor – konnte der Anblick des Generals einem bereits das Fürchten lehren.
Eine breite, wulstige Narbe kroch von seinem Kinn hinauf bis zum linken Wangenknochen, als habe jemand versucht, ihm an die Kehle zu gehen. Und das war auch in der Tat geschehen, aber Balfor hatte sich zu wehren gewusst. Nur der zuvor geleerten Flasche Branntwein in seinem Blut war es geschuldet, dass er dabei überhaupt eine Verletzung davontrug. Die Narbe erinnerte ihn zeitlebens daran, dass Alkohol auch den stärksten und grimmigsten Mann zum leichten Ziel angriffslustiger Neider machen kann. Seither hatte er nie wieder einen Tropfen angerührt, denn Neider umgaben so ihn so zahlreich wie Fliegen einen Haufen Pferdedung. Das mochte nicht zuletzt an seinem hohen Rang liegen, noch mehr verabscheuten ihn die Soldaten aber wegen seiner unerbittlichen Strenge und die Berater konnten nicht begreifen, wie er trotz seiner unleidlichen Art überhaupt in die Position des zweithöchsten Generals gelangt war.
Die Antwort kannten sie so gut wie er. Sie war gleichsam der Grund für die Narbe in seinem Antlitz und dafür, dass er noch am Leben war. Er war gut. Gnadenlos gut. Nur General Raghnal, der den Oberbefehl über das königliche Heer innehatte, stand über ihm. Wenn er erst einmal Raghnals Alter erreicht hatte, würde man ihm auch dessen Erfahrung und Umsichtigkeit zutrauen und ihm, sobald der alte Langbart das Schwert niedergelegt hatte, das Amt des ersten Generals verleihen. Den Soldaten, wie auch den Beratern des Königs, graute vor diesem Tag.
Azur konnte von alledem nichts wissen, als sie in seine funkelnden Pupillen blickte. Sie fragte sich, was die Narbe auf seiner Wange bedeuten mochte. Sie kündete davon, wie hart das Leben zu ihm gewesen war. Härter, als er es zu erwidern vermochte, dachte sie teilnahmsvoll. Sein Charakter allerdings war nicht schwer zu durchschauen, denn aus dem machte Balfor keinen Hehl.
„Aufsteigen!“, plärrte er. „Wie kommst du dazu, Maulaffen feil zu halten? König Darius hat befohlen, dich unverzüglich, unverzüglich ins Schloss zu bringen.“ Selbst, wenn er den Befehl des Königs nur mit halbem Nachdruck wiederholt hätte, hätte Azur sofort die Röcke gerafft, um so unverzüglich wie möglich auf Doodles Rücken zu klettern. „Ab jetzt reitest du mir nach und mein Begleiter wird sich dicht hinter dir halten, damit du uns nicht noch einmal aufhälst.“, ordnete er an und so geschah es.
Die goldenen Türme Schloss Cians ragten so hoch empor, dass sie sie schon erblickten, lange bevor sie ankamen. Die ganze Zeit über ritten sie schweigend. Nur ein einziges Mal drehte General Balfor sich zu ihr um und musterte sie mit einem Schulterblick, der vermuten ließ, dass er sich die gleichen Fragen stellte wie Azur.
Allein die Zugbrücke vor dem Schlosstor hatte eine größere Fläche als die Wohnküche im Haus ihres Vaters. Üppigkeit und Fülle, die sie umgaben, sobald sie in den Schlosshof einritten, bezauberten und erdrückten Azur zugleich. Sofort kamen Diener herbeigeeilt und umringten sie. General Balfor und sein Kumpan ließen sich schwungvoll aus dem Sattel gleiten und warfen den Stalljungen die Zügel ihrer Rösser zu. Ohne ein Wort des Dankes. Der General winkte Azur, die vorsichtig von Doodles Rücken stieg und den Burschen, der ihr die Zügel des Ponys abnahm, mit einem Lächeln bedachte. Er tat, als habe er es nicht wahrgenommen. Stattdessen schlug er mit einer leichten Verbeugung den Blick nieder und wurde vor Scham purpurrot an den Ohren.
In Cian hätte ein Riese hausen können, ohne sich den Kopf an der Decke zu stoßen. Azur musste immer wieder ihre Schritte beschleunigen, um Balfor nicht in den ausladenden Gewölbegängen zu verlieren. Er ging eilig voran, bis sie zu einer von Wachen geschützten Tür kamen. „Der König wünscht, dich noch heute zu empfangen.“, sagte er, ohne sie dabei anzublicken.
Ein Wächter klopfte an die Tür, woraufhin eine ernste, hagere Frau erschien, die Balfor verkniffen zunickte und Azur mit einem „Komm.“ bei der Schulter fasste. Sie wandte sich noch einmal um, doch der General hielt den Kopf gesenkt und die Frau beeilte sich, die Tür hinter ihr zu schließen.
„Man nennt mich Dame Telda und ich habe den Auftrag, dich für die Audienz bei König Darius vorzubereiten. Zieh dich aus.“, wies sie Azur an. „Du wirst ein Bad nehmen und danach neue Kleider erhalten.“
Als sie gut eine halbe Stunde später aus dem Zuber stieg, mit edlen Ölen und duftendem Rosenwasser gepflegt, lag tatsächlich eine weiße Robe bereit, die mit Silberfäden durchwirkt war. Nie zuvor hatte Azur so edle Stoffe auf der Haut gespürt. Der Saum reichte bis zum Boden, wo der Stoff sich kräuselte wie mondbeschienene Gischt. Obwohl der prunkvoll verzierte Spiegel Azurs Bild deutlich wiedergab, erkannte sie sich beinahe nicht. Der Anblick ihrer eigenen Gestalt war ihr fremd, als habe sie die Kleider gestohlen, die sie trug.
Eine Dienerin, die einen vergoldeten Kamm hielt, trat an sie heran. Ihre blasse, kleine Hand zögerte, bevor sie das blaue Haar berührte und mit fahrigen Fingern zu kämmen begann. Dame Telda beobachtete sie. Im Spiegel konnte Azur sehen, wie die Augen des blonden Mädchens umherirrten. Sie wagte weder Azur noch ihre Vorgesetzte anzublicken. Doch schien es ihr ebenso unmöglich, sich auf das blaue Haar zu konzentrieren. Mehrere Male zog sie so ungeschickt an einer Strähne, dass es schmerzhaft ziepte. Sich ihres eigenen Fehlers bewusst, wurde sie immer gespannter und fahriger, weswegen Azur mindestens ebenso erleichtert aufatmete wie sie, als die Prozedur endlich vorüber war.
Azur musste in weiße Schuhe steigen, die an der Ferse einen Absatz hatten. So etwas Seltsames hatte sie bisher noch nie gesehen. Wie sollte es möglich sein, darin zu laufen?
„Du wirst ein wenig üben müssen.“, sagte Dame Telda. „Absatzschuhe sind am Hof der letzte Schrei. Du wirst wie ein Edelfräulein aussehen, wenn du erst einmal darin laufen kannst.“
Und so stakste und stolperte Azur unter Dame Teldas Anleitung im Zimmer auf und ab, bis ihr die Füße wehtaten. Schau geradeaus, nicht auf deine Füße, halt den Rücken gerade, spann die Schultern an, mach kleine Schritte, sachte, die Arme bleiben locker, Hüften aufrecht, du sollst nicht auf die Füße gucken. Wer hatte nur diese schrecklichen Schuhe erfunden? Auf dem Feld wäre sie damit in der Erde stecken geblieben. Und die harten Böden des Schlosses sorgten dafür, dass Zehen und Fußgelenke bei jedem Schritt schmerzten. Wenn man als Edelfräulein andauernd Absätze tragen musste, wollte sie doch lieber ein einfaches Bauernmädchen bleiben, das ungestraft barfuß laufen durfte, wann es ihm passte.
Auf einmal klopfte es. Dame Telda streckte den Kopf aus der Tür und wechselte ein paar Worte, während Azur dankbar ihre geschundenen Füße massierte. „Es ist so weit.“, verkündete Dame Telda, als sie ihre Unterredung beendet hatte. „König Darius ist nun bereit, dich zu empfangen.“