Читать книгу Glutheiße Küsse/Verstohlene Leidenschaft - Shirlee Busbee - Страница 14
Оглавление6. KAPITEL
Jebs Van war kaum außer Sicht, als Roxanne Scotts Arm von ihrer Schulter fegte. »Lass das!«, knurrte sie ihn gereizt an. »So gute Freunde sind wir auch wieder nicht.«
Scott schien erstaunt. »He, du hast mich so herzlich begrüßt.«
»Mein Fehler.« Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen. Wir beide haben lediglich rein geschäftlich miteinander zu tun.«
»Kein Problem.« Er deutete mit einem Nicken in die Richtung, in der Jebs Van gerade verschwunden war. »Was läuft denn da zwischen dir und diesem Macho?«
»Das geht dich gar nichts an.«
»He, ich hab nur gefragt.«
»Dann frag nicht noch mal.« Sie runzelte die Stirn. »Was willst du überhaupt hier draußen?«
Es war nicht so, dass sie Scott direkt misstraute. Doch trotz ihrer kleinen Inszenierung vor Jeb interessierte sie sich nicht sonderlich für Scott. Das war auf der Highschool nicht anders gewesen. Er hatte schon damals etwas Verstohlenes, Unheimliches ausgestrahlt, und die Jahre hatten diesen Charakterzug nicht verändert. Roxanne musterte ihn unauffällig. Sein gleichmäßig geschnittenes Gesicht und sein welliges, blondes Haar verliehen ihm ein attraktives Äußeres, allerdings fand Roxanne ihn nicht sehr einnehmend. Etwas in dem ausdruckslosen Blick seiner dunkelblauen Augen und der Zug um seinen schmallippigen Mund bereiteten ihr Unbehagen. Scott war knapp einsachtzig groß und schlank und strahlte noch dieselbe drahtige Kraft aus wie auf der Highschool. Er war zwei Klassen über ihr gewesen, und als kichernder Teenager hatte sie den besten Quarterback der Schule angehimmelt. In einer kleinen Stadt wie St. Galen’s war Scott ein toller Hecht gewesen, aber schon damals hatte man ihn mit Drogenhandel in Verbindung gebracht. Es war ein offenes Geheimnis gewesen, dass man sich an Scott wenden konnte, wenn man Kokain wollte. Roxanne hatte schon seit ewigen Zeiten keinen Joint mehr geraucht, und um härtere Drogen hatte sie von jeher einen großen Bogen gemacht. Zu häufig hatte sie mit angesehen, wie Drogen Karrieren und Leben zerstörten. Jeb hatte ihr nichts Neues erzählt. Sie war oft genug zu Besuch im Tal gewesen, um zu wissen, dass Milo Scott weiterhin dealte und seinen Geschäftsbereich sozusagen erweitert hatte.
»Was also willst du hier draußen?«, wiederholte sie, als Scott schwieg.
»Ich wollte vor Montag einen Blick auf die Baustelle werfen«, erwiderte er gelassen.
Roxanne runzelte die Stirn. Es würde noch einige Tage dauern, bis Scotts Firma den Zement anliefern sollte, und es gab keinen plausiblen Grund, warum er vorher hätte herkommen müssen. Aber wenn er seine Zeit verschwenden wollte, war das nicht ihre Sache. »Einverstanden, ich führe dich herum.«
Scott zögerte, und Roxanne hatte den Eindruck, dass er sich lieber allein umgeschaut hätte. Sie musterte ihn misstrauisch. »Kanntest du Dirk Aston?«, fragte sie unvermittelt.
Scott ließ sich nicht anmerken, ob er von diesem plötzlichen Themenwechsel überrascht war. Er zuckte die Schultern. »Klar. Alle kannten Dirk.« Er deutete auf das Blockhaus. »Ich habe ihm geholfen, das Haus zu bauen.« Er lächelte und entblößte schöne, sehr ebenmäßige weiße Zähne. Doch Roxanne fiel auf, dass sein Lächeln seine Augen nicht erreichte. »Dirk und ich waren gute Kumpel. Wir haben zusammen Geschäfte gemacht.«
»Drogengeschäfte?«
»Vielleicht.« Er sah sie aufmerksam an. »Arbeitest du jetzt für das Büro des Sheriffs? Ermittelst in Jebs Auftrag?«
»Bleib auf dem Teppich«, erwiderte Roxanne verächtlich. »Ich war nur neugierig. Du kennst doch St. Galen’s. Es kursieren so viele Gerüchte, dass ich mir nur Klarheit verschaffen will. Wen sollte man da besser fragen als jemanden, der eventuell die wahre Geschichte kennt.«
Scott wich ihrem Blick aus. »Die Gerüchte stimmen, zur Hälfte wenigstens. Dirk hat hier ein bisschen Marihuana angebaut, aber er war keiner der großen Pflanzer. Er hat etwas für sich angebaut und den Rest verkauft, um sich mit dem Notwendigsten zu versorgen.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist eine Schande, wie er ums Leben gekommen ist. Typisch für den alten, dummen Dirk. Er war einfach zu dämlich. Er hätte wissen müssen, dass er besser hätte hier im Tal bleiben und seine Nase nicht in irgendwelche Dinge stecken sollen.«
Die Verachtung in seiner Stimme war unüberhörbar. Nach seiner Bemerkung über Astons Neugier vermutete Roxanne, dass er mehr über Dirk Astons Tod wusste, als er sagen wollte. Sie spielte kurz mit dem Gedanken, ob sie nachhaken sollte, doch seine verschlossene Miene verriet ihr, dass sie dazu nichts mehr aus ihm herausbekommen würde.
»Und jetzt besitzt du eine Betonfirma?« Sie wechselte das Thema.
Er lächelte. »Stimmt. Ich beliefere das ganze County. Und ich besitze mehrere Firmen. Du weißt ja, der Rubel muss rollen.«
Roxanne fragte sich, wie viel Geld er tatsächlich mit diesen Firmen erwirtschaftete. Allerdings hütete sie sich, darauf anzuspielen. Es ging sie nichts an.
»Gut für dich«, sagte sie. »Es ist stets erfreulich, wenn jemand erfolgreich ist.«
»He, Baby, ich bin vielleicht erfolgreich, aber das ist nichts im Vergleich zu dir. Du bist Roxanne! «
Sie zog die Nase kraus. »Ich war Roxanne. Damit ist es vorbei. Ich bin nach Hause gekommen. Vielleicht sage ich Ja, wenn mir ein besonderer Job angeboten wird, aber ab dem ersten September bin ich offiziell raus aus dem Geschäft.«
Scott schaute sie ungläubig an. »Du willst mich veralbern, stimmt’s? Du verzichtest auf den Ruhm und das viele Geld, um dich ausgerechnet hier in St. Galen’s zu vergraben? Bist du verrückt geworden?«
Sie lachte und hakte sich bei ihm ein. »Im Gegenteil. Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl, vernünftig zu sein. Und jetzt komm, ich habe eine Kopie der Baupläne in meinem Jeep. Wir holen sie und fangen mit der Inspektion an.«
Mit den Plänen in der Hand wanderten sie um das Haus. Roxanne erklärte Scott die Veränderungen, die sie vorhatte. Scott zeigte jedoch überraschend wenig Interesse für jemanden, der hierher gekommen war, um die Baustelle zu inspizieren. Roxanne wusste, dass er die Pläne längst in Augenschein genommen hatte. Immerhin hatte er sich um den Auftrag beworben und den Zuschlag erhalten. Sein Desinteresse gab ihr zu denken. Während sie sich unterhielten, fiel ihr auf, wie oft er zu den Gewächshäusern hinübersah, zu der Garage, dem kleinen Brunnenhaus und dem verrotteten Schuppen.
Sollte sie ihn darauf ansprechen? Roxanne vermutete, dass er ihr ausweichen würde, also ließ sie es bleiben. Allerdings verschwendete er ihre Zeit. Sie rollte die Pläne zusammen. »Das genügt doch, oder?«
»Ja, klar.« Scott schaute sie an. »Don Bean erledigt die Erd- und Schachtarbeiten, richtig?«
Roxanne nickte. »Ja. Er beginnt Montag früh. Es dauert sicher knapp zwei Wochen, bis du den Zement liefern kannst.«
»Das ist in Ordnung. Meine Leute stehen in den Startlöchern.« Er ließ seinen Blick noch einmal über das Gelände streifen. »Gut, dann fahre ich los. Es war nett, dich wieder zu sehen.«
Roxanne sah Scott nachdenklich hinterher, während sie in ihren Jeep stieg. Sie wurde aus seinem Verhalten nicht schlau. Scott hatte das Haus kaum eines Blickes gewürdigt und viel zu bereitwillig zugestimmt, als sie die Besichtigung abgebrochen hatte. Sie biss sich auf die Lippe. Sie kannte Scott. Wahrscheinlich wartete er nur darauf, bis sie weg war. Dann kam er vermutlich zurück und tat das, was er eigentlich vorgehabt hatte. Es bestätigte ihre Meinung, dass er ein aalglatter Mistkerl war.
Die Aussicht, dass Scott hier herumschlich, gefiel ihr gar nicht, aber sie konnte nichts dagegen tun. Es sei denn, sie hielte vierundzwanzig Stunden am Tag Wache. Sie schüttelte den Kopf. Das kam natürlich nicht in Frage. Sollte Milo Scott doch seine Spielchen treiben! Sie warf einen letzten Blick auf das Blockhaus, ließ den Motor an und fuhr davon.
Der Familiensitz der Ballingers lag an der Adobe Lane in der Mitte des Tals. Als Roxanne die fast eine Meile lange Auffahrt hinauffuhr, die durch einen jahrhundertealten Eichenpark führte, überkam sie das Gefühl, in Louisiana zu sein. Es hing sogar graugrünes Moos von den mächtigen Zweigen der Bäume herunter, wenn es auch nicht so üppig oder gespenstisch wirkte wie im Süden. Der Anblick des dreistöckigen Hauses mit den dorischen Säulen an der Front und den beiden Freitreppen rechts und links ließ Roxannes Herz wie immer höher schlagen. Obwohl sie hier aufgewachsen war und das Haus gut kannte, begeisterte sie sein Anblick jedes Mal.
Breite, schattige Balkons im ersten und zweiten Stock liefen rings um das Haus. Vom Stil her hätte es ohne weiteres auf einer Anhöhe mit einem großartigen Blick auf den Mississippi liegen können. York Ballinger, der als erster Ballinger in das Tal gekommen war, hatte das Haus Ende der Sechzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts erbaut. Roxanne hatte sich häufig gefragt, wie York, ein Yankee aus Boston, der während des Bürgerkriegs für die Union gekämpft hatte, wohl auf die Idee gekommen war, ein Haus in einem typischen Südstaatenstil zu errichten. Vielleicht hatte er sich in die eleganten Anwesen der reichen Südstaatler verliebt, die er beschlagnahmt und niedergebrannt hatte? Roxanne schüttelte den Kopf. Vermutlich hatte seine Entscheidung etwas mit der Ballinger-Granger-Fehde zu tun gehabt. Wahrscheinlich hatte York geglaubt, dass der alte Jeb Granger genau solch ein Haus bauen würde, also wollte er ihn darin übertreffen. Sie nickte. Ja, das klang eher nach den alten Hitzköpfen der beiden verfeindeten Sippen.
Sie bog von der großen, kreisförmigen Auffahrt vor dem Haus auf einen kleinen Nebenweg ab, der auf die Rückseite führte. Eine Minute später sprang sie die breite Treppe zu der ausladenden Veranda des Hauses hinauf.
Sie durchquerte die große Waschküche, die als Vorraum benutzt wurde, und betrat die geräumige Küche, deren Renovierung ihre Mutter vor zehn Jahren durchgesetzt hatte. Es hatte ihr allerdings niemand ernstlich widersprochen. Die letzte Renovierung war in den fünfziger Jahren vorgenommen worden, und die Familie hatte sich längst an der überladenen Gold-Avocado-Farbe übergesehen, vor allem an dem Bodenbelag aus avocadofarbenem Linoleum.
Roxanne schaute unwillkürlich zu dem großen Esszimmer hinüber, das von der Küche abging. Der unaufdringlich elegante, sonnendurchflutete Raum war ein beliebter Treffpunkt der Familie und wurde von einer mit Felsen eingefassten Esse in einer Ecke beherrscht. Man hatte darin einen mit Messing und Bronze verkleideten Kamin eingearbeitet, und die breite Glasscheibe davor machte ihn so einladend und behaglich wie einen offenen Kamin. Fenster säumten die Wände, und zwei gläserne Doppelschiebetüren führten auf den Wintergarten an der Rückseite des Hauses und auf die nach Süden gelegene Veranda. Roxannes Mutter Helen und ihre jüngere Schwester Ilka saßen dort. Ihre Mutter ruhte auf einer gemütlichen Recamiere, die mit leuchtendem, weinrotem Samt bezogen war, und ihre Schwester hockte auf einer mit Kissen übersäten Ledercouch. Die beiden Frauen schauten von ihren Büchern auf, als die Tür zuschlug.
»Endlich bist du zu Hause.« Ihre Mutter lächelte. »Ich wusste nicht, ob du zum Essen kommen würdest.«
Helen Ballinger war mit ihren zweiundsechzig Jahren immer noch eine wunderschöne Frau. Sie sah zehn Jahre jünger aus. An einem guten Tag sogar fünfzehn, wie ihre Kinder sie manchmal neckten. Schon in ihrer Jugend hatte sie herrliches aschblondes Haar gehabt. Im Alter war es zunehmend heller geworden, bis es den heutigen champagnerblonden Ton angenommen hatte. Und sie trug es, seit Roxanne denken konnte, auf stets dieselbe Art: in einem kurzen, schwingenden Pagenschnitt. Helen sah selbst in Blue Jeans und einer saphirblauen Bluse, die den Farbton ihrer beeindruckenden silberblauen Augen betonte, elegant aus.
Ilka wirkte wie die jüngere Zwillingsschwester ihrer Mutter. Sie hatte das gleiche aschblonde Haar und die gleichen kühlen, blauen Augen. Roxanne, Sloan und die anderen Ballingers hatten dagegen den großen, schlanken Körperbau, das schwarze Haar und die bernsteinfarbenen Augen ihres Vaters geerbt. Ilka war ebenso zierlich und ätherisch wie ihre Mutter. Die meisten Menschen, die ihre Familie nicht kannten, mochten kaum glauben, dass Ilka ebenfalls eine Ballinger war. Bis sie Helen sahen. Zwischen Roxanne und Ilka lagen fast fünf Jahre Altersunterschied, und die beiden Schwestern hatten sich nie sehr nahe gestanden. Roxanne hatte ihr Zuhause verlassen, als Ilka gerade ins Teenageralter gekommen war. Sie teilten zwar einige gemeinsame Kindheitserinnerungen, gingen als Erwachsene jedoch eher distanziert miteinander um. Ihre Leben waren sehr unterschiedlich verlaufen, und es fiel ihnen schwer, eine gemeinsame Grundlage zu finden. Roxanne hoffte, dass sie jetzt, da sie in Oak Valley lebte, ihren Geschwistern wieder näher kommen konnte, Ilka eingeschlossen. Im Oktober wurde Ilka dreiunddreißig. Und wenn Roxanne ihre Bande zu ihren Geschwistern festigen wollte, war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Das Alter war kein Thema mehr, denn sie waren alle erwachsen. Jedenfalls hoffte Roxanne das. Gelegentlich beschlichen sie leise Zweifel, was das anging, und wenn sie ihr Verhalten in letzter Zeit betrachtete, hatte sie wirklich allen Grund dazu.
Sie ließ sich in einen Sessel fallen, der mit demselben Stoff wie die Recamiere ihrer Mutter bezogen war. »Ja, ich bin zu Hause.« Sie lachte bedauernd. »Manchmal kann ich es kaum glauben.«
»Warum?« Ilka betrachtete sie forschend. »Du bist doch schon vorher hier gewesen. Mehrmals sogar.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Roxanne. »Aber das war nur zu Besuch. Diesmal ist es anders. Ich bin für immer nach Hause gekommen. Wenn du mich vor zwei Jahren gefragt hättest, wo ich den Rest meines Lebens verbringen wollte, hätte ich Stein und Bein geschworen, dass es überall wäre, nur nicht in Oak Valley.«
»So schlimm ist die Gegend nicht«, erwiderte Ilka abwehrend. »Die meisten Menschen in Oak Valley, sogar wohlhabende, gebildete Menschen, möchten nirgendwo anders leben. Sie lieben das Tal und seine Abgeschiedenheit. Nicht jeder hält es für hinterwäldlerisch.«
»He, ich wollte nicht mit dir streiten. Schließlich wäre ich nicht hier, wenn ich das Tal nicht lieben würde. Ich finde es nur merkwürdig, welch seltsame Wendungen das Leben manchmal nimmt.«
Ilkas Miene wurde verschlossen. »Ja, das stimmt.« Sie vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Mist, dachte Roxanne, ich bin schon wieder ins Fettnäpfchen getreten. Sie seufzte, sah ihre Mutter an und verdrehte die Augen. Ihre Mutter erwiderte den Blick mitfühlend und zuckte unmerklich mit den Schultern.
Roxanne konnte sich kaum noch vorstellen, dass Ilka einmal der Rebell in der Familie gewesen war. Ihre störrische Haltung hatte tragische und verheerende Folgen gezeitigt. Ilka war eine schreckliche Tragödie widerfahren, das wollte Roxanne nicht in Abrede stellen. Aber immerhin war das vor beinahe vierzehn Jahren geschehen! Ilka tat manchmal so, als wäre es erst letztes Jahr passiert. Natürlich würde niemand es vergessen, seine Babys verloren zu haben, und Roxanne warf Ilka auch nicht vor, dass sie um die beiden trauerte. Aber sie fand, dass ihre Schwester allmählich aufhören könnte, den Rest der Familie für unschuldige Bemerkungen zu bestrafen. Außerdem: Hätte Ilka dem Rat ihrer Freunde und dem Flehen ihrer Eltern nachgegeben und diesen Mistkerl sofort verlassen, nachdem er sie das erste Mal geschlagen hatte, wäre es gar nicht zu dieser Katastrophe gekommen. Noch besser wäre es gewesen, dachte Roxanne grimmig, wenn sie den Hundesohn gar nicht erst geheiratet hätte. Dann wäre gar nichts passiert. Allerdings hatte sie keinen Grund, ihre Schwester zu verurteilen. Ihr Leben war nicht gerade so verlaufen, dass sie auf alles stolz gewesen wäre.
Trotzdem hätte Ilka Delmer Chavez nicht heiraten sollen. Roxanne knirschte fast mit den Zähnen. Die Familie ihres Ehemannes war für ihren Jähzorn berüchtigt. Außerdem tranken sie und nahmen Drogen. Die meisten Bewohner aus dem Tal hielten sie für eine Bande von Schmarotzern, die sich ihren Lebensunterhalt mit kleineren Gaunereien statt mit ehrlicher Arbeit verdiente. Hatte Ilka auf ihre besorgten, verzweifelten Eltern gehört? Oder auf ihre Freunde? Nein. Stattdessen war sie zum Entsetzen aller an ihrem achtzehnten Geburtstag mit Delmer davongelaufen und hatte ihn in Reno, Nevada, geheiratet.
Und als wäre es nicht genug, dass Delmer Ilka während ihrer zweijährigen Ehe brutal misshandelt hatte, er hatte sich auch noch schrecklich gerächt, als Ilka endlich ihren Mut zusammengerafft und ihm erklärt hatte, dass sie ihn verlassen wollte. In dieser furchtbaren Nacht im Oktober hatte er unter Drogeneinfluss seine kleine Familie mit Waffengewalt in den Pick-up verfrachtet und war die kurvige Straße von Oak Valley hinuntergedonnert. Ilkas Tränen und Flehen hatten ihn nicht aufhalten können. Zehn Minuten später war er von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gerast. Ilka hatte den Unfall als Einzige schwer verletzt überlebt. Ihre drei Monate alte Tochter und ihr vierzehn Monate alter Sohn waren wie Delmer selbst ums Leben gekommen. Mit knapp zwanzig hatte sie auf einen Schlag ihre ganze Familie verloren.
Die Gemeinde war vor Entsetzen wie gelähmt gewesen und hin- und hergerissen zwischen Wut auf Delmer und Trauer über den entsetzlichen, sinnlosen Verlust zweier unschuldiger Leben. Da Ilka die einzige Überlebende war, hatten sich diese Gefühle und die Aufmerksamkeit aller auf sie konzentriert. Selbst vollkommen Fremde hatten Ilka ihre Trauer über diese Tragödie versichert. Kaum jemand erwähnte Delmer. Nur seine Familie und seine Freunde trauerten um ihn.
Roxanne warf ihrer Schwester einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie war ebenfalls bestürzt über das, was ihrer Schwester zugestoßen war, aber sie wünschte sich, dass Ilka endlich ihre Depression abschüttelte und aufhörte, so empfindlich und zickig zu sein.
Allerdings musste Roxanne einräumen, dass das Verhalten der Familie viel zu dem Problem beitrug. Alle ignorierten nur zu geflissentlich die Tatsache, dass Ilka mit einem Idioten verheiratet gewesen war, der sie geschlagen und geschwängert hatte. Roxanne empfand zwar Mitgefühl über den Verlust der beiden Babys Bram und Ruby, aber sie brachte kein Verständnis für Ilkas Wahl ihres Ehemannes auf. Wie konnte sie nur einen Kerl aus einer der verrufensten Familien des Tales heiraten, noch dazu einer, die wegen Gewalttätigkeiten und Drogenmissbrauch berüchtigt war? Delmer Chavez! Was hatte sich Ilka dabei gedacht?
Roxanne seufzte, als sie sich dabei ertappte, wie sie Ilka verurteilte. Und das nach dem, was zwischen ihr und Jeb Delaney vorgefallen war! Sie runzelte die Stirn. Man konnte wohl für viele Übel in der Welt Hormone verantwortlich machen!
Ilka sah hoch, als hätte sie Roxannes Blick bemerkt. »Was?«
»Nichts«, erwiderte Roxanne. »Ich denke nur nach.«
»Ich weiß genau, was du denkst!«, fuhr Ilka sie an. »Du denkst: ›Die arme Ilka. Sie ist schon wieder so empfindlich.‹ Habe ich Recht?«
Roxanne fragte sich, ob sie ehrlich antworten oder einer Konfrontation aus dem Weg gehen sollte. Wollten sie und Ilka jemals eine gemeinsame Grundlage finden, war der erste Schritt, aufzuhören, sich gegenseitig mit Samthandschuhen anzufassen. »Ja, du hast Recht. Genau das habe ich gedacht.«
Ilka stand auf. »Vielen Dank. Ich möchte gern sehen, wie du damit fertig wirst, wenn du alles verlierst, was du liebst.«
Sie streckte trotzig das Kinn vor, zog die Schultern hoch und rauschte hinaus.
Roxanne sah ihre Mutter schuldbewusst an. »Ich wollte nur ehrlich sein«, sagte sie.
Helen seufzte. »Mach dir keine Gedanken, Honey. Du hast richtig gehandelt. Es ist nicht deine Schuld, dass sie so empfindlich ist.« Sie sah unglücklich aus. »Es liegt an der Jahreszeit. Meistens kommt sie ganz gut damit zurecht, aber wenn der Oktober näher rückt ...«
»Meine Güte!« Roxanne war entsetzt. »Das habe ich völlig vergessen. In ein paar Wochen jährt sich ja ...« Sie schluckte. »Ich und meine große Klappe.« Sie sprang auf. »Ich werde mit ihr reden und versuchen, die Luft zu reinigen.«
»Sei vorsichtig und mach dir keine Vorwürfe, wenn sie abweisend reagiert. Meistens vergräbt sie sich einige Stunden in ihrem Zimmer. Wenn sie herauskommt, tut sie, als wäre nichts gewesen.« Helen verzog das Gesicht. »Dein Vater und ich haben uns mittlerweile darauf eingestellt. Das mag falsch sein, aber manchmal ist es einfacher, als sie ständig zurechtzuweisen.«
Die Hintertür schlug zu, und ein großer, stämmiger Mann schlenderte durch die Küche. Als er Helen und Roxanne im Esszimmer entdeckte, blieb er stehen, lächelte und griff sich ans Herz. »Ich weiß nicht, ob ich den Anblick von so viel Schönheit unter meinem Dach überlebe«, lachte Mark Ballinger. »Wie geht es meiner Lieblingsfrau und meiner berühmten Lieblingstochter?«
Roxanne und Helen verdrehten gleichzeitig die Augen.
»Da Mom deine einzige Frau ist, und ich zurzeit deine einzige berühmte Tochter bin, verpufft das Kompliment ein wenig.« Roxannes Augen funkelten.
Mark trat ins Esszimmer, küsste seine Frau auf die Wange und grinste. »Stimmt, das vergesse ich regelmäßig. Es muss am Alter liegen. Ich fühle, wie die Senilität näher und näher kommt.«
Sehr komisch!, dachte Roxanne. Der Verstand ihres Vaters funktionierte messerscharf. Man brauchte ihn nur mit einer schnippischen Bemerkung herauszufordern, dann stellte er das eindrucksvoll unter Beweis. Er war gerade fünfundsechzig geworden, doch Roxanne hielt ihn nach wie vor für einen der bestaussehenden Männer, den sie kannte. Er war groß, wie die meisten Ballingers, kräftig, hatte breite Schultern, eine muskulöse Brust, und seine Arme waren so stämmig wie die Äste von Eichen. Von großen Eichen. Sie erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er sie als Kind in diese Arme genommen und durch die Luft gewirbelt hatte, oder wie er sie sanft darin wiegte, wenn sie als Kind aus einem Albtraum aufgeschreckt war. Er war ein großartiger Vater. Nach außen hart und innen butterweich. Nachdem er ihr den ersten Zahn gezogen hatte, weil sie darauf bestand, hatte er anschließend mit ihr geweint, als sie feststellen musste, wie weh das tat.
Mark Ballinger war nicht attraktiv nach den gängigen Maßstäben. Dafür war sein Gesicht zu unregelmäßig, sein Kinn zu kantig und sein Mund zu breit. Trotzdem passte das Wort gut aussehend hervorragend. Sein sonnengebräuntes Gesicht verriet, dass er viel Zeit im Freien verbrachte, ebenso wie die vielen Falten an den Rändern seiner bernsteinfarbenen Augen. Um seinen Mund hatten sich Lachfalten gegraben. In seinem dichten, schwarzen Haar schimmerten mittlerweile einige graue Strähnen, und seine Schläfen waren silbern ergraut. Das Alter machte ihn nur attraktiver, fand Roxanne.
»Das Alter? Wen willst du damit veralbern?«, fragte sie.
»Bei dir verfängt es offensichtlich nicht«, gab er zurück. Er setzte sich auf die Couch, die Ilka gerade freigemacht hatte, und streckte seine Beine aus. Dann warf er Roxanne einen schläfrigen Blick zu. »Es wäre perfekt, wenn mir jetzt jemand ein großes geeistes Glas brächte, das mit dieser rubinroten Flüssigkeit gefüllt wäre, die deine Mutter im Kühlschrank verwahrt.«
Roxanne lachte. Diesen Wunsch erfüllte sie ihm gern. »Möchtest du auch eines, Mom?«, fragte sie auf dem Weg in die Küche.
»Ja, gern.«
Roxanne bereitete ihren Eltern die Getränke zu, und nachdem sie ihnen die hohen, blauen Gläser serviert hatte, sagte sie: »Ich sollte mich jetzt lieber um diese Angelegenheit kümmern.«
»Welche Angelegenheit?«, wollte Mark wissen.
Helen seufzte. »Um Ilka. Eine unschuldige Bemerkung von Roxanne hat sie beleidigt. Du weißt ja, wie sie sein kann.«
Mark schaute auf sein Getränk. »Ja«, meinte er leise. »Das weiß ich.« Dann warf er seiner Frau einen entschuldigenden Blick zu. »Soll ich dir etwas sagen? Obwohl es vierzehn Jahre her ist, würde ich diesen Dreckskerl immer noch am liebsten in den Boden stampfen!«
»Ich auch.« Roxanne ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten, entspannte sich jedoch sofort wieder. »Ich gehe jetzt besser zu Ilka und schließe Frieden.«
Ihr Dad nickte, und sie ließ ihre Eltern allein.
Die Schlafzimmer der Familie lagen im ersten Stock, und Roxanne sprang die elegant geschwungene Treppe zum Obergeschoss hinauf. Sie mündete in einer großen Galerie, die von einem Mahagonigeländer gesäumt wurde, von der aus man auf die Eingangshalle hinuntersehen konnte. Vor einigen Jahrzehnten war der erste Stock völlig umgebaut worden. Früher einmal hatten hier über ein Dutzend Schlafzimmer, Ankleidezimmer und sogar kleine Salons gelegen, doch jetzt befanden sich nur noch sechs Schlafzimmer dort. Sie alle verfügten über große, begehbare Kleiderschränke, kleine Salons und abgeschlossene Badezimmer.
Die Kinder der Ballingers hatten sich kein Zimmer teilen müssen. Jeder Spross herrschte über sein eigenes kleines Reich, und Roxanne erinnerte sich gern an die Pyjamapartys mit ihren Freundinnen zurück. Schwer beladen mit Leckereien aus dem Kühlschrank und den Vorratsschränken hatten sich acht oder zehn Teenager in ihrem Zimmer versammelt. Sie hatten die Tür hinter sich abgeschlossen und die ganze Nacht herumgekichert, sich über die Schule, über Jungs, über Kleider und über Jungs unterhalten. Und wieder über Jungs.
Nachdem die Kinder erwachsen geworden und ausgezogen waren, hatten Roxannes Eltern die Zimmer zu Gästezimmern umfunktioniert. Mark hatte in Sloans altem Zimmer ein Gymnastikstudio eingerichtet und sogar eine Sauna eingebaut. Die anderen Räume waren mit neuen Teppichen und Tapeten ausgestattet und frisch gestrichen worden. Wenn Roxanne zu Besuch kam, wohnte sie in ihrem früheren Zimmer. Natürlich bewohnte Ilka ihre ehemaligen Räume, die sie auch zur Zeit ihrer kurzen Ehe nie aufgegeben hatte.
Roxanne blieb vor der Zimmertür ihrer Schwester stehen und holte tief Luft. Sei nett, schärfte sie sich ein. Sei mitfühlend. Werd nicht ungeduldig. Sie ist deine Schwester. Und du willst dich mit ihr vertragen.
Auf ihr Klopfen antwortete Schweigen. Sie wartete und klopfte dann lauter. Sie wollte gerade noch einmal nachdrücklicher anklopfen, als die Tür aufgerissen wurde. Ilkas Gesicht war abweisend und unglücklich. Sie schien geweint zu haben.
»Was willst du?« Ilka wischte sich ärgerlich eine Träne von der Wange.
Sie sah so klein und verloren aus, dass Roxanne das Herz aufging. »Ach, Honey, ich wollte mich nur entschuldigen, weil ich so grob zu dir gewesen bin. Das war nicht meine Absicht.«
Ilka hickste und unterdrückte ein Schluchzen. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Ihre Stimme klang belegt. »Ich war zickig, wie üblich.« Sie sah Roxanne an, und ihre schönen Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Andere Leute kommen mit solchen Schicksalsschlägen zurecht, aber ich kann es anscheinend nicht ...« Sie wischte sich die Nase. »Ich brauche nur ein bisschen Ruhe, dann erhole ich mich schon wieder.«
»Gut möglich.« Roxanne wollte sich nicht abwimmeln lassen. »Doch diesmal brauchst du nicht allein zu sein. Deine große Schwester ist da.« Sie nahm Ilka in den Arm und zog ihre zierliche Schwester an sich.
Roxannes Umarmung löste eine wahre Tränenflut bei Ilka aus. Sie schluchzte an ihrer Schulter, als würde ihr das Herz brechen. Roxanne fühlte sich hilflos. Mit solchen Verletzungen konnte sie nicht gut umgehen. Sie klopfte Ilka unbeholfen auf den Rücken und kam sich nutzlos vor. »Aber, aber, Honey, nun wein doch nicht.«
Verblüfft stellte sie fest, dass ihr Trost zu helfen schien, denn eine Minute später löste sich Ilka aus ihrer Umarmung und wischte sich mit beiden Händen das Gesicht ab. »Komm rein. Ich will nicht, dass mich Mom oder Dad so sehen. Dann machen sie sich wieder Vorwürfe.«
Roxanne trat ein und setzte sich neben Ilka auf das gelb-weiß-schwarz karierte Sofa, das vor einer der Glastüren stand. Von dort konnte man auf den Balkon treten. Das Zimmer war gemütlich eingerichtet, die Wände waren gelb gestrichen, Holzläden schmückten die Fenster, und ein weicher, rostfarbener Teppich lag auf dem Boden.
Roxanne nahm die Hand ihrer Schwester. »Ich habe vergessen, dass sich jetzt bald wieder dieses Datum jährt ...« Sie hielt inne, als sie die Erinnerung an die schrecklichen Geschehnisse überrollte.
Ilka schniefte und putzte sich erneut die Nase. »Ich weiß. Alle wissen es. Ich wünschte, ich könnte es vergessen.« Ihre Augen begannen erneut zu schwimmen, und ihre Stimme klang erstickt, als sie weitersprach. »Doch dann würde ich ja meine Babys vergessen.« Ihre Stimme wurde kalt. »Was dagegen ihn angeht ... Ich bete jede Nacht darum, dass er in der tiefsten Hölle schmort.«
Roxanne horchte auf. Mit Tragödien kam sie nicht gut zurecht, aber Männer zu verdammen und über sie herzuziehen, o ja, darin war sie gut. »Vor allem sein Gemächt«, platzte sie heraus. »Männer sind an dieser Stelle äußerst empfindlich.«
Ilkas Tränenfluss versiegte. Sie blinzelte Roxanne verdutzt an. »Daran habe ich nie gedacht. Was für eine großartige Idee. Es soll in der Hölle braten. In alle Ewigkeit.«
Sie sahen sich an, lächelten und prusteten eine Sekunde später lauthals.
»Ach, Roxy!«, rief Ilka. »Ich bin wirklich froh, dass du wieder zu Hause bist. Ich wusste nicht genau, wie ich mich fühlen würde, dich wieder um mich zu haben, aber ich glaube, es gefällt mir.«
»Nur nicht zu voreilig«, gluckste Roxanne. »Wir alle werden uns daran gewöhnen müssen.« Sie zog die Nase kraus. »Mich eingeschlossen. Ich bin daran gewöhnt, allein zu leben. Es wird merkwürdig sein, wieder alle naselang über Familie zu stolpern.« Sie schaute Ilka an. »Wie hältst du das nur aus? Die ganze Zeit zu Hause ...« Sie unterbrach sich. »Trete ich da etwa wieder ins Fettnäpfchen?«
»Nein, das tust du nicht«, erwiderte Ilka. »Es ist eine gute Frage. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich nie auf die Idee gekommen bin, wegzuziehen. Als ich nach dem ... Unfall aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte ich zunächst nirgendwohin.« Ihre Stimme klang bitter. »Seine Familie wollte nichts mit mir zu tun haben. Ich brauchte Pflege, und Mom und Dad waren zur Stelle. Und als ich schließlich wieder gesund war ...« Sie zögerte. »Es erschien mir einfacher, hier zu bleiben.«
Roxanne runzelte die Stirn. »Das verstehe ich, Ilka. Nur ist es mittlerweile vierzehn Jahre her.«
»Ich weiß, aber es schadet doch niemandem, oder? Mom und Dad haben nichts dagegen, dass ich hier lebe«, erklärte sie ernsthaft. »Wir haben viel Spaß zusammen. In diesem Frühjahr haben wir sogar eine Kreuzfahrt unternommen, wusstest du das? Wir haben es sehr genossen.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, du solltest dein eigenes Leben führen.«
Ilka erstarrte und wirkte plötzlich verschlossen. »Ich will kein eigenes Leben führen«, sagte sie leise. »Ich hatte ein eigenes Leben, und was ist daraus geworden?« Sie schaute Roxanne beunruhigt an. »Ich könnte es nicht ertragen, Roxy, wenn ich so etwas noch einmal durchmachen müsste.«
»Wie kommst du darauf, dass dir das Gleiche noch mal passieren würde? Du bist älter geworden und klüger. Die Chancen, dass du noch einmal an jemanden wie Delmer gerätst, sind astronomisch klein.«
Ilka schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich würde es niemals riskieren.«
Roxanne ließ ihre Hand los und lehnte sich zurück. Nachdenklich betrachtete sie ihre Schwester. »Hast du Delmer so sehr geliebt?«
Ilka erwiderte ihren Blick skeptisch. »Ich habe ihn geliebt, als wir geheiratet haben, jedenfalls dachte ich das. Am Ende jedoch ...« Ihr Blick wurde hart. »Am Ende habe ich ihn mehr gehasst, als ich jemals jemanden gehasst habe oder hassen werde.«
»Warum lässt du es dann zu, dass er nach wie vor dein Leben bestimmt?«, erkundigte sich Roxanne ruhig. Als Ilka wütend werden wollte, fuhr sie beschwichtigend fort: »Das tust du nämlich, weißt du das nicht? Solange du dich hier bei Mom und Dad vergräbst und dich vor dem Leben versteckst, gewinnt er. Du lässt dein Leben von seiner Handlungsweise bestimmen.«
Ilka wollte etwas sagen, starrte Roxanne jedoch nur an. »Das ist nicht wahr!«, brach es schließlich aus ihr hervor. »Das ist nicht wahr!«
»Nicht?«
»Was verstehst du schon davon?«, fuhr Ilka hoch. »Du warst niemals verheiratet. Du hattest nie Kinder ...« Ihre Stimme klang belegt. »Und musstest sie nie begraben. Was zum Teufel weißt du also davon?«
Roxanne spürte, dass es besser war, sich zurückzuziehen, und stand auf. »Du hast Recht. Ich kann nicht nachempfinden, was du erlebt hast. Doch ich sage dir eines, kleine Schwester: Jeden Tag, jede Stunde, die du dich versteckst, ist eine Stunde, die Delmer dir von deinem Leben stiehlt.« Als sie Ilkas verletzte Miene sah, schwankte sie, fuhr jedoch entschlossen fort: »Willst du zulassen, dass er dir am Ende dein ganzes Leben wegnimmt?«
»Das verstehst du nicht! So ist es nicht!« Ilkas Stimme klang schrill.
Roxanne ging zur Tür. Sie hatte die Hand schon auf dem Türknauf, als sie sich zu ihrer Schwester umdrehte. »Du kannst es noch so sehr abstreiten, aber wenn du darüber nachdenkst, ganz ruhig darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass ich Recht habe. Trauere um deine Kinder, Ilka, aber führ endlich dein eigenes Leben! Lass dir das nicht auch noch von Delmer rauben.«
Sie schloss die Tür, bevor Ilka etwas einwenden konnte, und ging zu ihrem Zimmer am Ende des Flures. Sie trat ein, schloss die Tür hinter sich, lehnte den Kopf gegen das Holz und starrte ins Leere. Seit wann benahm sie sich so besserwisserisch? Hatte sie sich richtig verhalten? Hätte sie lieber schweigen sollen? Wenn sie sich nun irrte? Wenn sie alles verschlimmert, statt besser gemacht hatte?
Sie fühlte sich schrecklich. Ich versuche nur, mich wie eine Schwester zu verhalten, sagte sie sich. Woher hätte ich wissen sollen, dass das so kompliziert ist?