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Erinnerung

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Irland/Oktober 1783

Ieuan saß wie an so vielen Abenden unter der alten, knorrigen Eiche, die mit ihrem gewaltigen Wuchs alle Bäume des Waldes überragte. Ihre Blätter schienen wie jedes Jahr dem Herbst zu trotzen.

Es war der schönste Ort am Rande von Clar Cloinne Mhuiris. Die Dorfbewohner nannten ihn die 'Ebene von Maurice'. Den Namen hat sie vom normannischen Eroberer Maurice de Prendergast, der um 1170 dies Land sein Eigen nannte.

Schon seine Mutter liebte diesen Ort. Als Ieuan gerade fünf Jahre alt war, wanderte Màire mit ihm ins Tal.

Viele Jahre vergingen seit her. Und viele Tage und Nächte quälten ihn seine Erinnerungen an die Zeit seiner Kindheit. So auch jener Tag im November 1758:

Sein Vater Aidan hatte drei Tage und Nächte in den Wäldern westlich von hier gelauert. Der kalte Wind und die immer andauernde Feuchtigkeit hatten ihm ordentlich zugesetzt. Am vierten Tag kam er erschöpft, doch erfolgreich von der Jagd. Die Hungersnot sollte nun ein Ende haben. Das Schwein, das Aidan erlegt hatte, stand allerdings selbst kurz vor dem Hungertod. Und damit war nicht viel Fleisch an ihm. Aber es sollte für die nächsten Wochen reichen.

„Ich werde mich an die Arbeit machen und das arme Tier abziehen“, sprach Màire, endlich wieder Hoffnung schöpfend.

„Lennon, Ieuan, lauft schnell in den Wald und holt Holz!“

„Heute Nacht werden wir satt zu Bett gehen.“

Aidan rieb sich den knurrenden Bauch, als befände der saftige Braten sich bereits in ihm. Die Sorge in den müden Augen des Vaters war verschwunden. Das gefiel Ieuan sehr.

Die Jungen flitzten wie der Wind, der sie flugs ins Tal führte.

„Lass uns nach rechts gehen.“

„Aber dort ist das Moor. Da dürfen wir nicht hin.“

Ieuan wusste, ihr Vater würde sie hart bestrafen.

Da liegt massenhaft trockenes Holz. Ich sah es schon beim letzten Mond. Wir brauchen es nur noch einsammeln."

„Aber wir werden großen Ärger bekommen.“

Lennon war sieben Jahre älter als Ieuan und ignorierte seine Worte. Er rannte, von seinem Schatten gejagt. Er schien beinah abzuheben. Sein braunes Haar hüpfte bei jedem Sprung mit und fiel zunehmend schwerer vom feuchten Hauch des aufsteigenden Abendnebels auf seine schmalen Schultern.

Ieuan konnte ihm nicht folgen. Seine kleinen Füße trugen ihn nicht schnell genug. Sie hatten seit Tagen so gut wie nichts gegessen. Und der Hunger zeichnete seinen kleinen Körper am meisten. Die scharfen Halme des Moores schnitten ihn zwischen seine Zehen. Die kalte Nässe kroch in seinen Körper. Und etwas hatte ihn in die Wade gebissen. Es brannte wie Feuer. Doch die Wut über Lennons Ignoranz ließ ihn durchhalten.Völlig außer Atem erreichte er schließlich seinen Bruder, nur um die Worte deutlicher zu wiederholen:

„Aber wir werden großen Ärger bekommen.“

Sein großer Bruder riss die Arme weit zu den Sternen, und jeder Zug in seinem Gesicht jubelte. Sein Blick zeigte auf einen umgefallenen Baum, der auf dem Moorboden über einem Graben lag.

„Was habe ich dir gesagt? Wir brauchen nur noch alles zusammenbinden. Und dann nach Hause.“

Die Kiefer musste im vergangenen Herbst der starke Sturm umgerissen haben. Es war genau zu sehen, an welcher Stelle das Unwetter sie brach.

Ieuan hatte noch nicht die Kraft, Zweige und Äste zu brechen. Er sammelte einfach nur das herumliegende Holz und packte es auf einen Haufen. Beide machten sich keine Gedanken darüber, wie sie es den ganzen Weg zurück tragen sollten.

Lennon trat gegen die dicksten Äste und sprang auf ihnen herum. Der erste Sprung gab den Takt an. Er tanzte auf den Ästen. Die Zweige wippten mit, und er fühlte den Trommelschlag unter seinen nackten Füssen. Er trat und sprang, und sprang und trat. Und dann passierte es.

Er rutsche ab und fiel in den Graben.

Es war tief genug, dass ein spitzer Ast sich in seinen Brustkorb bohrte.

Dieses Bild brannte sich für immer in Ieuans Kopf.

Die ganze lange Nacht schluchzte er, legte sich auf die Brust des Toten. Bis zur Erschöpfung weinte er und wischte sich die Tränen von den Wangen, und so vermischte sich das Nass auf seinem Gesicht mit dem Blut von Lennon. In diesen Stunden verschwand die Unschuld, die Reinheit aus dem Gesicht des Vierjährigen. Seine Augen hatten den kindlichen Blick verloren. Die zusammengepressten Lippen verrieten seine Verzweiflung. Er hoffte so sehr, dass bald jemand käme. In seinen Gedanken wiederholte er den immer gleichen Satz:

Das ist nicht fair, Vater wird schimpfen, weil wir nicht auf ihn gehört haben.

Und sein winziger Körper krümmte sich vor Hunger, Angst und Kälte.

Doch Aidan Ó Briain schimpfte nicht, als er seine beiden Söhne am nächsten Morgen fand. Schweigend nahm er Ieuans Hand und hob seinen kleinen, erschöpften Körper hoch und drückte ihn an sich. Sein Blick richtete sich zögernd auf seinen Erstgeborenen. Das Leid schmerzte in jedem seiner Glieder, auf jedem Zentimeter seiner Haut.

Nein, er schimpfte nicht. Er schimpfte nie wieder seit jenem Tag.

My Siobhan

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