Читать книгу Nachdenkliches - Über den Alltag und die Dinge des Lebens - Sibyll Hähnel - Страница 6
ОглавлениеÜber den Alltag
Der Alltag ist grau, so sagen es die Dichter. Er ist eine Abfolge immer gleicher Tätigkeiten, der Notwendigkeit geschuldet, ohne Bezug zum wirklichen Leben. Ein Beruf, der Berufung ist, und eine Arbeit, die Freude macht, ist den wenigsten Menschen vergönnt. Und auch der Zeittakt, der mir mich in seinen Fängen hält, entspricht nicht meiner inneren Uhr.
Ich stehe noch vor Sonnenaufgang auf, versorge meine Kinder und verlasse das Haus, um pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Ich erledigte das was erledigt werden muss und sitze danach meine Zeit bis zum Feierabend ab, denn die Stechuhr ist unerbittlich. Auf dem Nachhauseweg erledige ich Einkäufe, Behördengänge, Bankgeschäfte und alles, was sonst noch anfällt. Jeden Tag erlege ich mir auf, eine Aufgabe abzuhaken, damit mir nicht alles über den Kopf wächst.
Dann muss ich das Abendessen zubereiten. Den Kindern zuzuhören und ihre Sorgen und Nöte mit ihnen zu teilen, erfordert manchmal viel Geduld. Sie müssen sehr selbständig sein. Und dann sitze ich noch vor dem Fernseher, fülle mich mit Informationen und fremden Leben, ohne dass ich abschalten kann oder es mir nützt. Mein Alltag gleicht einem Hamsterrad.
Doch eines Tages geschieht etwas. Ich sitze gedankenverloren in der Straßenbahn und verpasse es, an der richtigen Haltestelle auszusteigen. „Na gut“, denke ich. „Da muss ich die beiden Haltestellen zurück laufen. Es ist doch egal, ob ich zu spät zur Arbeit komme.“
Als ich aussteige und mich umsehe bemerke ich, dass ich die Gegend um mich herum noch gar nicht kenne.
Hier ist ja ein kleiner Hafen am Fluss. Das ist mir neu. Und die Häuser – mehrstöckige Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert teilweise im Jugendstil – sind schön anzusehen. Ich schlendere die Straße entlang und sehe mich um. Plötzlich überkommt mich eine große Freude.
Als ich in meinem Büro ankomme, lächelt mir die Sekretärin zu. Von diesem Tag an steige ich mit ganz anderen Gefühlen morgens in die Bahn. Ich sehe mir die anderen Fahrgäste an, überlege, was für Menschen sie sind, und was sie für einen Beruf haben könnten. Hoffentlich fällt meine Neugierde nicht zu sehr auf.
Mit dem Rücken zu mir steht eine Frau in einem roten Kleid mit einer sehr schönen schlanken Figur. Als sie aussteigt sehe ich ihr Gesicht und erkenne, dass sie mindestens 60 Jahre alt ist. Ist sie vielleicht eine Tänzerin? Auf dem Heimweg verwickelt mich ein älterer Mann in ein Gespräch. Er erzählt mir, dass er eine weltverändernde Entdeckung gemacht und diese auch dem Ministerium mitgeteilt hat. Bisher habe er keine Antwort erhalten, und so sei er auf dem Weg dorthin. Ich wünsche ihm viel Glück. Ich sehe ein junges Pärchen, ganz versunken in einen Kuss, und werde neidisch. Jeden Tag sehe ich den Menschen ins Gesicht und freue mich, wenn ich vertraute Gesichter wiedererkenne. Und auch die Außenwelt kommt mir neu entgegen, denn ich nehme viel mehr wahr, so auch Plakate, die Ausstellungen, Konzerte und andere interessante Veranstaltungen anzeigen. Vielleicht nehme ich mir die Zeit und gehe hin.
Aus meinem grauen Alltag ist ein bunter geworden.