Читать книгу Nachdenkliches - Über den Alltag und die Dinge des Lebens - Sibyll Hähnel - Страница 7
ОглавлениеÜber das Spazierengehen
Der Wald ruft, und ich mache mich auf den Weg. Zuerst durchquere ich den Friedhof und begrüße die mir vertrauten Steine der Erinnerungen. Ja, da ich jetzt seit 22 Jahre in meinem Dorf wohne, habe ich einige der Verstorbenen auch gekannt. Die Familie Schneider ist hier sehr präsent. Mit der Witwe vom Vater und Mutter des verstorbenen Sohnes führe ich öfters ein „Wie geht’s, wie steht’s“-Gespräch, wenn ich durch den Ort laufe.
Auch die Grabsteine unbekannter Personen erzählen ihre eigene Geschichte. Nicht nur wer Pfarrer oder Ortsvorsteher war, auch Künstler und Politiker haben hier am Rande von Bonn gelebt. Man erfährt auch, dass kurz vor Kriegsende in der Weihnachtsnacht 1944 eine ganze Familie ums Leben kam. Wie erschütternd. Was mich jedoch immer noch empört, ist dass Ehefrauen hier in der Gegend gar keine eigene Existenzberechtigung zu haben scheinen, denn sie werden meist unter dem Namen ihres Ehemannes beerdigt, auch wenn sie ihn lange überlebt haben. „Eheleute Jacob Schmidt und Eheleute Johann Schmidt“ steht auf einem monumentalen Grabstein über einem pompösen Familiengrab mit Granitabdeckung. Und ich glaube nicht, dass man durch die fehlende Erwähnung der Namen der Ehefrauen die Kosten für den Steinmetz niedrig halten wollte. „Die Frau“ gibt es im kölschen Dialekt ja auch nicht, sie ist „dat Mädche“, und bei den Personalpronomen existierten nur „hä“ und „it“.
Meine Schwiegermutter wurde ebenfalls schon auf diese Weise beim Tod ihres Ehemannes in Eitorf an der Sieg „beerdigt“, dafür haben ihre Schwägerinnen gesorgt. Als sie dann 30 Jahre später tatsächlich starb, existierte das Grab schon nicht mehr. Sie hat ihre Beerdigung rechtzeitig selbst geregelt und war auch mit einer Urnenbeisetzung auf der anonymen Gräberwiese einverstanden. Dort besuchen ihre Kinder sie ab und zu.
Doch nun zurück zu meinem Spaziergang. Angekommen im Wald mache ich Halt an der kleinen Kapelle und zünde vielleicht auch eine Kerze an, übergebe damit meine Besorgnisse, Wünsche und Hoffnungen der Madonna aus Lindenholz auf einem Schiff. Dass sie wundertätig ist, bezeugen die Marmorplatten rechts von ihr, und auch der Blumenschmuck wird ständig erneuert.
Am Rande meines Waldes, an der Grenze des Kottenforstes, fließt der Hardtbach am Fuße einer Anhöhe. Er hat bisher allen Bestrebungen der Landwirtschaft getrotzt und mäandert zwischen Feld und Wald durch die Landschaft, bildet Prall- und Gleithänge und wird gelegentlich durch Wasseraustritte aus dem ansteigenden Gelände gespeist. In den Altarmen kann man gelegentlich Molche beobachten.
Die Bäume, es sind Erlen, Weiden, Buchen und Eichen, dürfen so wachsen und fallen, wie sie möchten. Lediglich nach einem Sturm wird ein über den Weg gefallener Baum zersägt und beiseite gelegt. Und so ist hier eine kleine Wildnis entstanden. Ein Baum ist direkt über den Bach gestürzt und bildet eine Brücke für Wagemutige. Das herumliegende Holz – Stämme und Äste – scheint kleine Baumeister inspiriert zu haben. Am Wegrand findet man die Reste eines zusammengetragenen Spieldorfes mit Zäunen und Unterständen, die dann verlassen und der Natur wieder zurück gegeben wurden.
Die Bäume sind Individuen und halten sich mit ihren starken Wurzeln unverrückbar im Untergrund fest, bilden lockere Gemeinschaften und erzählen sich Geschichten.
An ihren Rufen erkenne ich die Mönchsgrasmücke, den Buchfink und den Buntspecht. Am Ende des Sommers höre ich die kleinen Eulen schreien und weiß so, dass die Brut wieder erfolgreich war.
Hier sagen sich Fuchs und Hase Gutenacht, zumindest der Fuchs hat seine scharf riechende Markierung hinterlassen. Auf der Mitte der Anhöhe hat ein Dachs schon seit vielen Jahren seinen Bau. Ob er noch bewohnt ist frage ich mich, denn seit kurzen tummeln sich Mountainbike-Fahrer in meinem Wald, bauen Schanzen und fräsen ohne Rücksicht den Waldboden ab, um steile Kurven zu schaffen. Diese Bahnen durchziehen neuerdings den Hang. Das zu sehen tut mir weh, und ich fürchte um den letzten Rest ursprünglicher Natur in meiner Nähe.