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Was wollen Sie wirklich, wirklich tun?

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Wenn Sie ein bisschen tiefer in das Thema »New Work« eingetaucht sein sollten, haben Sie vermutlich während der letzten zwei Seiten gedacht: »Aber das ist doch viel mehr als flexible Arbeitszeiten und Homeoffice.« Definitiv ist es das – oder sollte es zumindest sein. So zumindest war es auch im ursprünglichen Konzept von Frithjof Bergmann angelegt. Für ihn war und ist Neue Arbeit nicht nur einfach eine bessere, andere, freiere Art zu arbeiten. Bergmanns Buch »Neue Arbeit, Neue Kultur« habe ich vor einigen Jahren an einem einzigen Tag durchgelesen. Es hat mich gefesselt, vor allem wegen des Geistes, in dem es geschrieben ist.

Der inzwischen über 90-jährige austro-amerikanische Philosoph beschreibt darin, wie er mit seinem Team schon Ende der 1970er-Jahre in der Automobilstadt Flint in den USA vor der Frage stand, wie mit den Folgen der zunehmenden Automatisierung in der Automobilindustrie umgegangen werden könnte. Massenentlassungen, so die Befürchtungen, standen unmittelbar bevor. Die Ähnlichkeiten mit der heutigen Diskussion um die Auswirkungen der Digitalisierung sind frappierend. Der durchaus radikale Vorschlag Bergmanns, wie Massenentlassungen zu vermeiden seien, lautete: Die Menschen arbeiten ein halbes Jahr am Fließband und tun ein halbes Jahr etwas anders. Etwas, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«. »Wie bitte?«, mögen Sie jetzt denken. »Die Menschen sollten ein halbes Jahr lang auf dem Sofa herumliegen und warten, dass sie wieder arbeiten können?« So haben Bergmann und seine Leute das nicht gemeint. Sie haben mit ihren »Zentren der Neuen Arbeit« Menschen unterstützt, herauszufinden, was es ist, das sie »wirklich, wirklich tun wollen« – und Wege aufgezeigt, damit Teile ihres Lebensunterhalts zu bestreiten. Das, so die Idee, sollten die Menschen in der anderen Hälfte ihrer Zeit tun.

Von diesen Erfahrungen hat Frithjof Bergmann 2017 anlässlich der Veranstaltung »New Work Experience« in Berlin eindrucksvoll berichtet. Menschen seien förmlich zusammengebrochen, weil sie erstmals gefragt wurden, was sie »wirklich, wirklich wollen«. Das hatte nie jemand gefragt – weder Eltern noch Pfarrer oder Lehrer oder sonst irgendjemand. Das scheint heute noch immer keine gängige Frage zu sein, wie auch Kathrins Dialog mit ihrem Mitarbeiter vermuten lässt, von dem ich im letzten Kapitel erzählt habe. Egal, ob in Flint oder in Hamburg, die Menschen hatten immer nur funktioniert, und jetzt sollte es darum gehen, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«?

Wie sehr die Frage berührt, war auch an diesem Spätnachmittag im Jahr 2017 in Berlin spürbar. Trotz der vielen Menschen im Saal war nicht ein Mucks zu hören. Ich vermute, es waren nicht wenige im Raum, die sich diese Frage eben so noch nicht oder lange nicht mehr gestellt hatten, geschweige denn gestellt bekommen hatten, und die gerade etwas Ähnliches erlebten wie die Automobilwerker im Flint der späten 1970er-Jahre.

Bergmann ging sogar noch weiter: Er habe immer wieder eine »Armut der Begierde« gespürt, als wenn Menschen verlernt hätten, etwas zu wollen. Das war ihnen, so seine These, durch ihre Erziehung abhandengekommen.

Während ich das schreibe, muss ich wieder an das denken, was meine Tochter gesagt hatte: Sie habe in der Schule verlernt, etwas Besonderes zu sein. Im Saal in Berlin konnten Sie nach dem Satz mit der »Armut der Begierde« Stecknadeln fallen hören. Was die Leute denn nun »wirklich, wirklich wollen«, wurde Frithjof Bergmann gefragt. Seine Antwort war kurz: »To make a difference.« Etwas tun, das einen Unterschied macht – für sich selber und für andere. Von Menschen, die solche Unterschiede machen, wird in den nächsten Kapiteln noch ausführlich die Rede sein.

Doch selbst das wäre Bergmann nicht genug. Ihm geht es außerdem darum, das Lohnarbeitssystem zu überwinden, so wie wir es seit 200 Jahren kennen. Es ist so gebaut, dass Menschen darin verkümmern. »Jobs machen abhängig, Jobs erniedrigen Menschen«, kritisierte Bergmann auf der Veranstaltung. Und doch geht es ihm nicht um die Abschaffung des Kapitalismus, sondern um dessen Weiterentwicklung. Oberflächliche Verbesserungen helfen dabei allerdings nicht, es geht um das System selbst. Das Gelächter war groß, als der Philosoph ganz pragmatisch formulierte, es käme ihm oft so vor, als sei New Work inzwischen für viele etwas, was Arbeit ein bisschen reizvoller macht, quasi Lohnarbeit im Minirock. Er redete uns, seinem Publikum, ins Gewissen, New Work nicht einfach in die Art und Weise einzubauen, wie wir die Dinge schon immer gemacht haben. Es ginge um nicht mehr und nicht weniger als eine andere Art zu leben. »Das wird großartig«, schloss Bergmann seine Ausführungen. Die neue Kultur werde wirklich, wirklich anders sein. Während es in der alten, zurzeit noch vorherrschenden Kultur darum ging, Menschen zu zähmen, würden in der neuen Kultur Menschen vor allem gestärkt werden. »Das ist, was wir brauchen.«

Wissen Sie, was mich an dem Tag in Berlin am meisten ermutigt hat? Dass die Stimmung im Saal war, wie sie war, nämlich emotional und bewegend. Und dass Frithjof Bergmann mit frenetischem Applaus, mit nicht enden wollenden Standing Ovations gefeiert wurde. Er wurde nicht mehr ausgelacht, so wie am Anfang seines Engagements für New Work, oder ignoriert, so wie viele Jahre zwischen den späten 1970er-Jahren und dem Beginn dieses Jahrtausends.

Es war schon spät, als ich nach diesem Vortrag in den ICE von Berlin nach Hamburg stieg. Dennoch war ich hellwach, und Züge sind für mich ohnehin gute »Denkorte«. Ich ließ meine Emotionen und Gedanken, die ich während der Rede von Frithjof Bergmann hatte, noch einmal Revue passieren. Wie schon beim Lesen seines Buches merkte ich, dass viel von dem, was er sagt, sehr an meine Sichtweisen anschließt. Menschen dabei zu unterstützen, herauszufinden, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«, war viele Jahre lang auch ein Schwerpunkt meines beruflichen Tuns, und die Frage läuft auch in meinem heutigen beruflichen Wirken immer mit, weil ich sie für sehr zentral halte.

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine andere Art, zu leben.

Was auch gut tat: Bergmann war irgendwie unaufgeregter als seine Vorredner, er stieg aus dem »höher, schneller, weiter, bunter, schöner« aus, das sich durch die gesamte Veranstaltung gezogen hatte. Mal auszuatmen, das war den ganzen Tag nicht wirklich vorgesehen, ein Vortrag über großartige Gründungen, verdiente Millionen und agile, hippe Abteilungen jagte den nächsten. Puh. Bergmann war da definitiv von einer anderen Sorte, er brachte neben dem Aspekt der eigenen Berufung so etwas wie Genügsamkeit, Ganzheit und Sinn in den Saal. Das tat gut, denn diese Aspekte kamen und kommen mir in vielen Vorträgen, Veröffentlichungen und Diskussionen rund um New Work zu kurz.

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