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Einer oder alle?

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Während ich auf dem Rückweg von Berlin in die mecklenburgische Nacht hinausschaute, fragte ich mich, was wohl noch zu dem beeindruckenden Echo auf den Vortrag des alten Philosophen beigetragen haben mag. Mir gingen einige Thesen durch den Kopf, darunter eine besonders deutlich: Die Resonanz war Ausdruck einer großen Sehnsucht, einer Sehnsucht nach einer anderen, sinnstiftenden und selbstbestimmten Arbeit. Diese Sehnsucht ist mir in den letzten Jahren immer wieder begegnet. So auch bei intrinsify, dem Netzwerk für Neue Arbeit mit dem so einprägsamen Slogan »Happy Working People«.

Nicht nur den beiden Gründern, Lars Voller und Mark Poppenborg, waren und sind glückliche und zufriedene Menschen am Arbeitsplatz ein Anliegen, sondern auch den vielen Mitgliedern und Teilnehmern an den Veranstaltungen des Netzwerks. Nur bei dem Weg, wie dies zu erreichen sei, tauchten spürbare Unterschiede auf. Immer wieder haben wir lange Diskussionen darüber geführt, ob für mehr Glück der Einzelne oder das gesamte System in den Blick zu nehmen sei. Kurz gesagt: Psychologie oder Soziologie? Während die einen glauben, dass sich das System verändert, wenn sich Menschen und deren Verhalten verändern, denken die anderen, ein anderes System würde zu anderem Verhalten führen.

In der öffentlichen Diskussion und in unseren Unternehmen dominiert gefühlt die individuelle Sicht. Weshalb gibt es all die Führungskräftetrainings, die den Chefs eine andere Haltung, ein neues Verhalten antrainieren sollen? Weshalb die gut gemeinten Hinweise im alljährlichen Mitarbeitergespräch? Weshalb die Selbstmanagement- und Achtsamkeitstrainings? Weshalb der Austausch des CEO, weil die Zahlen nicht stimmen? Weshalb der neue Teamleiter, weil es in der Montage immer wieder zu Verzögerungen kommt? Diesen Maßnahmen liegt die These zugrunde, dass anderes Verhalten oder gleich andere Menschen zu anderen, besseren Ergebnissen führen werden.

Mit dieser Argumentation können Sie die beiden intrinsify-Gründer und noch einige mehr so richtig auf die Palme bringen. Kurz gefasst lautet deren Botschaft: »Wer anderes Verhalten will, muss das System ändern, nicht die Menschen. Lasst die Menschen in Ruhe!« Vielleicht sind also gar nicht die Führungskräfte kaputt und müssen in Trainings repariert werden, sondern das Spiel, das sie im sozialen System namens »Unternehmen« spielen (müssen), taugt nicht? Dieser Blick auf soziale Systeme, zuerst von dem Soziologen Niklas Luhmann eingeführt, entlastet die Menschen in – großen und kleinen – Organisationen. Das finde ich ausgesprochen wichtig. Mir wird manchmal ganz schwindelig bei dem, was Führungskräfte – und Mitarbeiter überhaupt – alles sollen. In den Tagen, in denen ich dieses Kapitel schreibe, geht gerade ein Aufruf von Helmut Diess, Chef des VW-Konzerns, durch die Presse. Er forderte in einer Ansprache seine Führungskräfte auf, die Denkmäler des Alltags beiseitezuräumen, wenn aus Volkswagen kein Industriedenkmal werden soll. »Das«, so der VW-Boss, »habe ich zu unseren Azubis gesagt. Und das sage ich auch zu Ihnen.« In derselben Rede beklagt Diess fehlende Schnelligkeit und fehlenden Mut zu radikalem Umsteuern.

Wer rein systemtheoretisch argumentiert, dem geht bei diesen Klagen und Forderungen die Hutschnur hoch – weil der Blick darauf fehlt, wie das System ein beobachtetes Verhalten hervorbringt. Davon habe ich in der Zusammenarbeit mit großen Unternehmen auch immer wieder Kostproben bekommen: Da dauert es ein halbes Jahr, bis die Nutzung einer Online-Plattform im Rahmen eines Ausbildungsprogramms vom Datenschutz geprüft wurde, dort verhindert der Betriebsrat aus gut gemeintem Schutzinteresse ein bis Samstagmittag gehendes Seminar – obwohl alle Teilnehmer damit einverstanden sind. Das tun aber nicht, oder zumindest nicht nur, die einzelnen Datenschützer oder Betriebsräte, sondern das tut das System, in dem diese Menschen agieren. Sie können quasi nicht anders. Jedenfalls nicht ohne einen hohen Preis zu zahlen, wenn sie sich gegen das herrschende System stellen. Wer nicht nach den Regeln spielt, ist schnell draußen – wie bei »Mensch ärgere dich nicht«.

Dieser Systemblick ist ausgesprochen wertvoll, denn er lehrt Demut vor dem System – und davor, wie schwierig es ist, in Systemen Veränderungen zu bewirken, erst recht, wenn die Systeme sehr groß und sehr alt sind. Mit dieser Perspektive wird viel eher möglich anzuerkennen, was alle trotz des Systems leisten, statt ihre Unzulänglichkeiten anzuklagen. Und sie macht darauf aufmerksam, dass Menschen – egal auf welcher Ebene einer Organisation – sehr häufig unter begrenzenden Rahmenbedingungen handeln. Deswegen ist ein Hebel für Veränderungen genau dort, bei den Bedingungen, bei den Strukturen, Vorschriften und Gepflogenheiten.

Doch so einfach, wie es manchmal bei überzeugten Systemdenkern wie Reinhard Sprenger klingt, ist das nicht. Man kann den institutionellen Rahmen leicht ändern, behauptet der »Managementdenker«. Dass das aber nicht so leicht ist, wird schon daran deutlich, dass das Subjekt in diesem Satz »man« ist. Wer genau sollte handeln und wer kann es?

Die Antwort auf diese Fragen bleibt der Systemblick schuldig. Und nicht nur das. Es fehlt auch die Berücksichtigung der psychischen Prozesse in jedem Einzelnen von uns. Die laufen immer ab, ob wir wollen oder nicht, willkürlich oder unwillkürlich, bewusst oder unbewusst, und sie prägen Ihr Verhalten mindestens ebenso wie die Sie umgebenden Kontexte. Muster, die sich in Ihrem Leben bewährt haben, wenden Sie wieder an. Da kann der Kontext sein, wie er will.

Wer jahrelang gelernt hat, seine eigene Leistung zu optimieren – angespornt von Noten für Einzelleistungen und individuellen Belohnungen –, wird nicht zum Teamplayer, weil jetzt die Gruppe gemeinsam einen Bonus bekommt. Der wird weiterhin zusehen, seine eigene Leistung zu maximieren, und vielleicht sogar entnervt das Unternehmen verlassen, weil seine Anstrengungen nicht mehr nach dem gewohnten Muster belohnt werden. Wer umgekehrt das Unternehmen wechselt und von einer Teamkultur in ein Umfeld kommt, in dem ganz klar die Leistung des Einzelnen im Vordergrund steht, wird sich vermutlich ebenso mit der Anpassung an dieses System schwertun. Unsere eigenen Gewohnheiten und gelernten Muster spielen eine mindestens ebenso große Rolle wie die Kontexte, in denen wir uns bewegen. Wir nehmen uns selbst immer mit, wohin wir auch gehen.

Das bedeutet auch, dass uns trotz aller äußeren Zwänge immer noch eine Menge Möglichkeiten bleiben, autonom auf den Kontext zu reagieren. Ein gutes Beispiel dafür ist für mich Paul Polman, der frühere CEO von Unilever. Der Niederländer setzte unter anderem die an der Börse üblichen Quartalsberichte aus, da er sie als hinderlich für die Entwicklung des Unternehmens erlebte. Er entschied sich, an dieser Stelle das gängige Spiel nicht mitzuspielen. Von Paul Polman wird später noch einmal die Rede sein. Er hat sich an vielen Stellen nicht damit zufriedengegeben, dass das System nun mal so ist und er daher nur in bestimmter Weise handeln kann. Solche Sätze höre ich – leider – nur allzu oft. Das ist auch nur zu verständlich angesichts der gefühlten Aussichtslosigkeit, in der eigenen Organisation Impulse für Veränderungen zu setzen. Doch für mich ist die Frage nicht wirklich, ob es möglich ist. Denn das ist es für mich ganz klar. Die für mich viel spannendere Frage lautet: »Wie ist es möglich?«

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