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Meine Marionetten

Es ist Freitagabend, Sammy und Pascal sind gut gelaunt ins „Papa-Wochenende“ aufgebrochen und ich freue mich, dass ich bis Sonntagabend Zeit habe, mich meinem Marionettentheater zu widmen. Ich mache es mir auf der Couch gemütlich und bin gespannt, ob und was sich mir zeigen wird. Als Kind habe ich es geliebt, in meine innere Welt zu reisen und sie lebendig werden zu lassen. Wie oft sind meine Freunde und ich in Rollen geschlüpft, oft inspiriert durch unsere damaligen Helden, wie Winnetou und Peter Pan. Wir spielten unsere Rollen mit Hingabe und Leidenschaft und vergaßen, wer wir wirklich waren. Selbst in meinen Träumen begleiteten mich unsere spielerischen Aufführungen. Wie oft war ich Winnetou, gefesselt an einem Marterpfahl, bis mein bester Freund Old Shatterhand mich rettete, oder konnte fliegen wie Peter Pan. Mein Herz fängt an zu rumoren, so, als ob etwas aufbricht, und zwei Tränen bahnen sich ihren Weg. Tränen der Erinnerung und Sehnsucht. Sehnsucht, die mich ruft und lockt, mich bittet, einzutauchen in meine vergessene Welt.

Kann ich das heute noch, obwohl ich es so viele Jahre nicht mehr gemacht habe? Wieso eigentlich? Weil Erwachsensein bedeutet, den Ernst des Lebens zu erkennen? „Das Leben ist kein Ponyhof!“ „Hör auf zu träumen und stell dich der Wirklichkeit!“ „Zum Spielen ist die Kindheit da!“ Hat mein Leben dadurch seinen Glanz und sein Strahlen verloren? Die Leidenschaft und Begeisterung? War das der Grund, wieso ich nicht mehr träumen kann, meine Leichtigkeit und Verspieltheit verloren habe? Dass ich mich getrennt von allem fühle? Als Kind war ich mit allem verbunden, was mir begegnete: mit Menschen, Tieren, Bäumen, Pflanzen, den Wolken, dem Regen, der Sonne. Habe ich meinen Schlüssel zur Magie des Lebens einfach fallen lassen und vergessen, ihn wieder aufzunehmen, weil die äußere Welt wichtiger wurde als die innere? Meine Augen werden feucht. Traurigkeit und Wehmut bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Ich fühle mich, als ob ich das Wertvollste, was es in meinem Leben gab, einfach aufgegeben hatte. Nicht wissend um den Preis, den es mich kosten würde. Ich habe mein Kindsein verloren, meine kindliche, fröhliche Begeisterung und Neugier durch Wissen und Fakten ersetzt. Was hat es mir gebracht? Anstrengung, Schmerz, Kampf, Gefühllosigkeit. Ein Leben, gestaltet wie eine unendliche To-do-Liste in einem tristen Grau. Nur unterbrochen durch das Aufblitzen flüchtiger, farbiger Momente, die viel zu schnell vergehen. Mein Gott, was habe ich getan? Ich weine, bis mein Herz sich beruhigt und Wehmut, Traurigkeit und diese lockende Sehnsucht sich in sanfte Stille verwandeln. Überrascht und verwundert öffne ich meine Augen. Was war denn das? Woher kamen all diese Gedanken und Gefühle? Ich wollte doch nur meinem Eindruck, dass mein Leben manchmal einem Marionettentheater gleicht, auf die Spur kommen. Im Moment fühle ich mich jedoch eher, als hätte ich den Schlüssel zu einer vergessenen und mir verborgenen Welt gefunden. Ich fühle mich zarter, weicher und auch verletzbarer. Es fühlt sich sonderbar an. Ungewohnt. Ich atme tief ein, so, als ob ich diesen neuen Zustand in mich aufnehmen möchte. Das ist verrückt und unendlich schön.

Noch einmal nehme ich einen tiefen Atemzug, schließe meine Augen und versuche, mir mein Theater vorzustellen. Es fühlt sich seltsam an, meine innere Welt nach so langer Zeit zu betreten. Langsam formt sich vor meinem geistigen Auge ein Raum, eingehüllt in einen dichten grauen Schleier. Ich schaue genauer hin. Nein, das ist kein Schleier. Das ist eine dicke, fette Staubschicht. Kein Wunder, es ist sicher schon über zwanzig Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Ich hole tief Luft, puste kräftig und finde mich hustend und spuckend in einer gigantischen Fusselwolke wieder. Es wird Zeit, gründlich sauber zu machen. Mit einem überdimensionalen Staubwedel bewaffnet mache ich mich ans Werk. Was für eine Freude! Ich kann es noch. Peter Pan und Winnetou leben. Wie sehr ich dieses Spiel vermisst habe, wird mir erst jetzt richtig bewusst. Mit steigender Begeisterung befreie ich das Theater von seiner Staubschicht, bis es vor Glanz erstrahlt. Fröhlich blicke ich mich um. Auf den ersten Blick sieht es ziemlich unspektakulär aus: ein Zuschauerraum, eine Bühne aus Holz mit einem purpurroten Vorhang. Die Wand der Bühne, die wohl das Bühnenbild darstellen soll, ist dunkel und leer. Über der Bühne hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Mein Marionettentheater“. Etwas fantastischer habe ich mir das schon vorgestellt. Ein wenig enttäuscht von der Einfachheit meines Theaters frage ich mich, ob es hier auch Marionetten gibt. Kaum zu Ende gedacht, färbt sich die dunkle und leere Wand in ein strahlendes Weiß und der Raum erwacht zum Leben. Staunend beobachte ich, wie Marionetten von oben auf die Holzbretter gleiten und beginnen ein Stück aufzuführen. Es sieht fantastisch aus. Welches Schauspiel sie darstellen, kann ich nicht erkennen, doch ich spüre die Begeisterung und Leidenschaft, mit der die Marionetten ihr Spiel vortragen. Sie spielen so virtuos und perfekt, mit vollendeter Hingabe, dass ich mich in ihrem Anblick verliere. Plötzlich beenden sie ihr Spiel und stellen sich nebeneinander auf. Nacheinander zieht jede der Marionetten eine Karte aus ihrer Kleidung hervor und hält sie mir entgegen. Stolz schauen sie mich an. Ihre Karten scheinen beschriftet zu sein. Mit zugekniffenen Augen versuche ich die Buchstaben zu entziffern, doch die Karten sind zu weit weg. Ich beginne die Marionetten zu zählen. Zwölf Augenpaare blicken mich herausfordernd an, als wollten sie sagen: „Komm, trau dich und spiele mit uns!“ Wie sie so erhobenen Hauptes und prachtvoll gekleidet auf der Bühne stehen, wirken sie sehr mächtig auf mich. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. Die Vorstellung, mit zwölf Marionetten gleichzeitig zu spielen, überfordert mich, doch vielleicht ist es möglich, jede einzeln kennenzulernen. Beeindruckt schaue ich mir jede Marionette genau an. Sie scheinen meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu genießen. Ich beschließe, mir Zeit zu nehmen und mich jeder Marionette einzeln zu widmen. Als mein Beschluss feststeht, verneigen sich die Marionetten vor mir, stecken ihre Karten zurück in ihre Kleidung und verlassen die Bühne. Die Wand wird dunkel und Stille umfängt mich.

Meine Augen öffnend denke ich, dass das Kennenlernen von zwölf Marionetten etwas dauern und eventuell auch etwas ungemütlich werden kann. Will ich das wirklich? Ja, ich will! Was habe ich schon zu verlieren, außer, dass ich weniger Zeit mit Brüten darüber verbringe, wie ich mein Leben in den Griff bekomme, oder mir die Zeit mit Fernsehschauen vertreibe?

Wohlig kuschle ich mich in meine Decke ein und freue mich auf das erneute Eintauchen in meine innere Welt. Das Schöne an inneren Reisen ist, dass Zeit ihre Bedeutung verliert. Wie oft hatte ich als Kind den Eindruck, stundenlang geträumt zu haben, dabei waren es nur Minuten. Es erschreckt mich, als mir erneut klar wird, wie sehr ich mein Leben in den letzten Jahren verplant hatte. Fast so, als wären Termine, To-do-Listen und Planung Gradmesser dafür, wie wertvoll und wichtig ich bin. Je mehr Termine und Ziele, desto wichtiger und wertvoller bin ich. Immer am Tun – und die Momente, in denen es nichts zu tun gibt, werden mit Fernsehschauen, Internet und Informationen von anderen Menschen gefüllt. Vielleicht ist das der Grund, wieso ich mich manchmal, selbst inmitten von Menschen, so verloren fühle.

Aufgeregt betrete ich wieder die Bühne meines frisch geputzten Marionettentheaters. Ob sich wohl eine der Marionetten zeigen wird? Und was das mit den Karten auf sich hat, möchte ich auch zu gerne wissen! Da sich nichts tut, setze ich mich in den Zuschauerraum. Kaum habe ich Platz genommen, verwandelt sich das Bühnenbild in einen leeren Ballsaal majestätischer Pracht mit strahlenden Kronleuchtern. Musik aus einer vergangenen Welt erklingt. Ein sanftes Vibrieren erfüllt das Theater, als aus dem Nichts eine königlich gekleidete Marionette mit einer venezianischen Augenmaske auf der Bühne erscheint. Von ihrer Schönheit berauscht sitze ich mit offenem Mund auf meinem Stuhl und starre sie an. Sie kommt auf mich zu und präsentiert mir mit einem formvollendeten Hofknicks ihre geheimnisvolle Karte. Die Musik verstummt.

Neugierig lese ich, was auf der Karte geschrieben steht:

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