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Der Richter

Die nächste Marionette, die sich mir vorstellt, trägt eine tiefschwarze Robe mit einer übergroßen Kapuze. Ihre gesamte Gestalt wirkt groß und übermächtig. Bevor sie mir ihre Karte zum Lesen überreicht, gibt sie mir zu verstehen, dass ich mich vor ihr niederknien und meinen Blick senken soll. Ihre imposante, dunkle Erscheinung wirkt so furchteinflößend, dass ich ihrer Anweisung, ohne zu fragen, folge. Sie greift in ihre Robe, zieht ihre Karte hervor und wirft sie vor mir auf den Boden. Zögerlich lese ich, was dort geschrieben steht:

Künstlername: Richter

Ursprünglicher Name: Schuld

Genre: schwarzes Drama

Kleidungsstil: tiefschwarze Robe mit übergroßer Kapuze

Besonderes Merkmal: riesige Gestalt, ausgestreckter Zeigefinger, neunschwänzige Peitsche

Angst überfällt mich. Reicht es nicht, dass sich mir beim bloßen Anblick bereits die Nackenhaare sträuben? Braucht sie jetzt wirklich noch eine neunschwänzige Peitsche, um ihrer Macht Ausdruck zu verleihen? In mir verkrampft sich alles. Mit gesenktem Blick hebe ich die Karte vom Boden auf und reiche sie ihr mit zittrigen Händen. Aufzuschauen getraue ich mich nicht, so machtvoll und beängstigend ist ihre Erscheinung.

Meine unterwürfige Haltung scheint sie gnädiger zu stimmen. Sie lässt sich herab und reicht mir die Hand, um aufzustehen. Mit einer harschen Kopfbewegung fordert sie mich auf, ihr zu folgen. Ich versuche, mein Zittern unter Kontrolle zu halten, und folge ihr in gebührendem Abstand. Auf einer Lichtung inmitten eines dunklen Waldes bleibt sie stehen. Am Ende der Lichtung kann ich die verwitterten Reste einer uralten Kirche erkennen, in deren Mitte ein steinerner Altar aus grauer Vorzeit thront. Der Waldboden ist mit feuchten Blättern bedeckt. Es ist Herbst und erste Nebelschwaden ziehen auf. Ein eisiger Wind weht über die Lichtung, verfängt sich in meinen Haaren und beginnt, mit ihnen zu spielen. Mit einem düsteren Blick gibt mir die Marionette zu verstehen, dass ich hier stehen bleiben soll, während sie weitergeht und hinter dem Altar ihren Platz einnimmt. Die große, schwarze Kapuze ihrer Robe wirft Schatten auf ihr Gesicht, was sie noch furchteinflößender erscheinen lässt. Mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger zwingt sie mich, vor sie zu treten. Wie durch ein unsichtbares Band verbunden zieht sie mich näher und näher zu sich heran, bis ich direkt vor dem Altar zu stehen komme. Ihr durchdringender, stechender Blick findet seinen Weg in mein Innerstes und lässt mich erstarren. Ich sinke wieder auf die Knie und erst jetzt entdecke ich, dass sie in der anderen Hand eine neunschwänzige Peitsche hält. Vor Angst fange ich an zu beben. Mit erhobenem Zeigefinger, in der anderen Hand die neunschwänzige Peitsche haltend, donnert ihre mächtige Stimme auf mich herab: „Du bist schuld! Schuldig! Schuldig! Schuldig! Im Namen aller Völker, im Namen aller Götter – du bist schuldig!!“

Jedes „Schuldig!“ ein Peitschenhieb, bis ich zerfetzt und blutig am Boden liege. Klein und wertlos. Abfall, der des Wegtragens nicht wert ist.

Die Marionette tritt hinter dem Altar hervor, beugt sich zu mir nieder und fragt mich mit vor Sarkasmus tropfender Stimme, ob ich ihre Karte nochmals sehen möchte. Kopfschüttelnd lehne ich ihr Angebot ab. Ihre Vorstellung war einprägsam genug.

Ruhig bleibe ich liegen und warte, bis das Schauspiel an Kraft verliert. Das ist ja eindrucksvoller als ein Psychothriller. Die peitschenden Worte „Du bist schuldig!“, hallen in mir nach. „Ich bin schuldig! Ich bin schuldig!“ Immer wieder sage ich diese Worte zu mir, bis sie sich in Tränen auflösen. „Oh Gott, ich fühle mich so verdammt wertlos. Ich habe es nicht verdient zu leben – und schon gar nicht zu lachen oder gar zu lieben. Nimm mich einfach fort von hier!“ Als ich diese Worte laut zu mir selber spreche, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Deswegen kann ich also niemals wirklich frei lachen, tanzen und singen! Wer schuldig ist, darf das nicht! Erneut fließt ein Tränenstrom aus mir heraus. Mit tropfender und schniefender Nase frage ich mich, ob das Wirken der Schuld vielleicht auch der Grund sein kann, wieso ich immer Partner wähle, die mich mit Nichtachtung strafen, mich schlagen oder betrügen? Das wäre verrückt. Doch, wieso heißt es denn „Schulden machen“ und nicht einfach „Leihgabe“? Es wäre doch möglich, dass dieses Schuldgefühl in mir dafür sorgt, dass ich in meinem Alltag nicht vergesse, wie unwürdig ich bin. Wenn ich mich tief in mir drin so schuldig fühle, habe ich es doch nicht anders verdient. Wenn ich mich selbst als wertlos, als Abfall empfinde, wie kann ich dann etwas Gutes, Wahres und Schönes überhaupt annehmen? Vielleicht habe ich deswegen die Männer, die mich wirklich auf Händen getragen hätten, abgelehnt und immer wieder Schulden gemacht, wenn ich kurzzeitig „frei von Schulden“ war. War die Schuld eventuell auch für meinen Perfektionsanspruch, den ich an meine Kinder und mich stellte, verantwortlich?

Oh, Himmel hilf! Wie soll ich mich denn unschuldig fühlen, wenn ich doch so viel Schuld auf mich geladen habe? Ich bin schuld daran, dass die Ehe meiner Eltern auseinanderging, dass meine Schwester in ihrer Kindheit so lange Zeit auf ihre Mutter verzichten musste und hin- und hergeschoben wurde, vielleicht war das Miterleben des Unfalles und die Zeit danach auch der Grund für ihren frühen Tod. Ich trage Schuld daran, dass meine Mutter begann, ihr Heil im Alkohol zu suchen. Schuldig fühle ich mich auch, weil ich meine Tochter und später auch meinen Sohn so früh in die Tagesbetreuung abgab, um wieder arbeiten zu gehen – und noch so viele andere Dinge.

Während ich mich an all die Situationen und Erlebnisse erinnere, erkenne ich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Marionetten „der Richter“ und „Madame Eva“. Sie scheinen miteinander zusammenzuhängen, nur, dass das Wirken der Schuld sich auf einzelne Personen bezieht und die Scham dafür sorgt, dass ich aus der Allgemeinheit ausgestoßen werde, wenn all meine Verfehlungen ans Tageslicht kommen. Wie verworren das ist – und doch habe ich den Eindruck, dass sich in mir etwas zu klären beginnt. Mir fällt ein Satz ein, den Jesus gesagt haben soll: „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.“ Es tut gut, sich zu erinnern, dass Schuld bereits vor Tausenden von Jahren ein Thema war und ich nicht die Erste bin, die sich damit rumschlägt, auch wenn mir dieses Wissen jetzt nicht hilft, mich unschuldig zu fühlen.

Langsam werde ich ruhig. Ich stehe auf und hole mir etwas zu trinken. Während ich in die Küche gehe, werfe ich im Vorübergehen einen Blick in den Flurspiegel. Vom Weinen gerötete Augen, die Haare zerzaust – nur gut, dass ich heute keinen Besuch mehr erwarte. Mit einer Tasse Tee bewaffnet begebe ich mich wieder ins Wohnzimmer. Soll ich mir die nächste Marionette anschauen oder reicht es für heute? Ich mache weiter, wer weiß, was morgen ist, und ausschlafen kann ich auch. Langsam trinke ich meinen Tee. Die Wärme fühlt sich gut an. Eingekuschelt in meiner Decke bin ich bereit, der nächsten Marionette meines eindrucksvollen Marionettentheaters gegenüberzutreten.

SoulPassion

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