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Die Eisprinzessin

Eine kühle Schönheit in einem eisblauen Prinzessinnenkleid erwartet mich bereits. Ihre tiefschwarzen, langen Haare hat sie streng nach hinten geflochten. Huldvoll und distanziert zieht sie ihre Karte aus ihrem Kleid und reicht sie mir. Mit gebührender Hochachtung lese ich, was auf der Karte steht:

Künstlername: Eisprinzessin

Ursprünglicher Name: Stolz

Genre: Tragikomödie

Kleidungsstil: eisblaues Prinzessinnenkleid

Besonderes Merkmal: hoch zu Ross, distanziert, arrogant

Als ich einen Schritt auf sie zugehe, um ihr die Karte zurückzugeben, weicht sie erschrocken zurück. Vielleicht hat sie Bedenken, dass ich ihr prachtvolles Prinzessinnenkleid beschmutze. Sie weiß sicher, was ich mit Madame Eva und dem Richter erlebt habe. Geziert streckt sie mir ihre Hand entgegen und ich lege ihre Karte hinein. Ohne ein Wort oder eine Geste, die mich erkennen lässt, was sie vorhat, verlässt sie die Bühne. Ich schaue mich ein wenig um und entdecke eine Bank. Wenn ich schon warten muss, kann ich dies auch auf bequeme Weise tun. Auf der Bank sitzend schaue ich mir das Bühnenbild der Eisprinzessin genauer an. Sie hat sich eine bezaubernde Winterlandschaft ausgesucht. Ich sehe glitzernden Schnee, Eiszapfen, die von Bäumen hängen, Kinder, mit ihren Schlitten fahrend, Hunde, die im Schnee tollen, spazierende Menschen, welche die kühle, frische Luft genießen, warm eingemummelt und mit dampfendem Atem. Etwas verloren schaue ich dem bunten Treiben zu. Nur zu gerne würde ich mitmachen, anstatt einsam und alleine hier auf der Bank zu sitzen. Von hinten dringt leises Hufgeklapper an mein Ohr. Ich drehe mich um. Ein edles, weiß schimmerndes Ross, auf dessen Rücken die schöne Eisprinzessin in ihrem eisblauen Kleid sitzt, reitet auf mich zu. Einen eleganten Bogen um die Bank schlagend kommt sie mit ihrem Pferd vor mir zum Stehen. Kühl und herablassend schaut sie mich an, während sie mir ihre Hand reicht. Ich ergreife sie und ihre Berührung lässt mich erzittern: Sie ist eisig kalt und hart wie Stahl. Ich spüre, wie sich ihre Kälte über meine Finger in meinem gesamten Körper ausbreitet. Sie zieht mich hinter sich auf den Rücken ihres Rosses und reitet mit mir in die weite Winterlandschaft. Über ihre Schulter schauend erkenne ich in der Ferne ein Schloss aus glitzernden, funkelnden Eiskristallen. Wunderschön anzuschauen und doch so kalt. Als wir am Schloss ankommen, fordert sie mich auf abzusteigen. Sie steigt nach mir ab und stolziert Richtung Tor. Ich folge ihr. Mein Blick geht nach oben zum Torbogen. Messerscharfe Eiszapfen hängen herab und ich spüre die kühle Bedrohung, die von ihnen ausgeht, als wir hindurchschreiten. Angekommen im Schlosshof fordert mich die Eisprinzessin auf, ihr ins Innere zu folgen. Ich trete ein und ein kühler Hauch von Einsamkeit streift mein Herz. Die Eisprinzessin öffnet die Tür zu einem Raum, der nur aus einem einzigen, glänzenden Spiegel besteht. Sie nimmt mich mit in die Mitte des Raumes und stellt mich auf ein Podest aus Eis. Das Podest beginnt sich zu drehen und ich spüre, wie jede Zelle meines Körpers zu Eis erstarrt. Mein Herz pocht und ich sehe im Spiegel, wie sein leuchtendes Rot sich in kristallklares Blau verwandelt und es zu Eis erstarrt. Als das Eispodest sein Werk vollendet hat, kommt die Eisprinzessin auf mich zu und dreht eine Pirouette. Dann zeigt sie auf mich. Mich um mich selbst drehend bewundert sie ihr Meisterwerk. Immer schneller und schneller drehe ich mich um meine eigene Achse, bis ein klirrendes Lachen erklingt. Ich blicke in den Spiegel: Eine Rüstung aus stahlhartem, glitzerndem Eis und ein kristallharter Blick treffen sich im eisig kalten Niemandsland.

Zufrieden mit ihrem Werk gibt sie mir ein Zeichen, vom Podest zu steigen. Sie kommt auf mich zu, stellt sich vor mich hin, zieht erneut ihre Karte hervor und streckt sie mir huldvoll und mit stolzem Blick entgegen. Sie ist sich sicher, dass ich sie nicht vergessen werde.

Das Aufwachen aus dem Bühnenschauspiel der Eisprinzessin fällt mir schwer. Mir ist wirklich kalt geworden und ich drehe die Heizung hoch. Brrrrr, was für ein kaltes und einsames Leben! Was wollte sie mir damit zeigen? Stolz auf etwas zu sein, was ich erreicht habe, oder der Stolz auf meine Kinder, ist daran etwas nicht in Ordnung? So ganz verstehe ich ihren Auftritt nicht. Noch am nachdenklichen Erkunden der Botschaft klingelt das Telefon. Mein Vater ist am anderen Ende und versucht mich auf seine sanfte Art zu überzeugen, einen Schritt auf meine Mutter zuzugehen, mit der ich bereits seit Wochen keinen Kontakt habe. Wir hatten uns wieder einmal gestritten und ich sehe überhaupt nicht ein, wieso ICH jetzt wieder den ersten Schritt machen soll. Sie war jetzt mal dran! Ende der Diskussion. Mein Vater hört schweigend zu und sagt dann mit seiner ruhigen Stimme: „Silke, leg doch mal deinen Stolz beiseite und betrachte die Situation noch einmal neu.“ „Nein, das werde ich nicht. Ich habe keine Lust ihr jedes Mal hinterherzurennen und immer den ersten Schritt zu machen!“, antworte ich. Wir beenden unser Gespräch und in dem Moment, als ich den Hörer auf die Station zurücklege, stutze ich: Was hatte er gesagt? Leg deinen Stolz beiseite? Wie kommt er denn auf so was? Ist das etwa Stolz, wenn alle Fakten für mich sprechen und ich mich deswegen weigere, einen Schritt auf sie zuzugehen? Gelinde ausgedrückt bin ich gerade etwas verwirrt. Mir schwirrt der Satz durch den Kopf: „Dabei wird dir schon kein Zacken aus der Krone brechen“ und ich sehe die Eisprinzessin vor meinem inneren Auge auftauchen, die einsam in ihrem kühlen, schönen Schloss lebt. In mir tauchen Bilder auf, die mich daran erinnern, dass ich mich auch schwertat, nach einem Konflikt auf meine Tochter zuzugehen, wenn ich der Ansicht war, dass es an ihr war, den ersten Schritt zu machen. Dann kann es Tage dauern, bis wir wieder miteinander sprechen. „Falscher Stolz“, schießt es durch meinen Kopf. Ja, anscheinend gibt es wirklich so etwas wie „richtigen“ und „falschen“ Stolz. Falscher Stolz scheint eher etwas zu sein, was mit Angst zu tun hat. Angst, etwas zu verlieren vielleicht. Nur was? Was würde ich verlieren, wenn ich auf meine Mutter zuginge? Meinen Stolz. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Was geschieht, wenn ich meinen Stolz aufgebe? Ich werde verletzt. Der Eispanzer ist mein Schutz vor Verletzungen. Dann muss ich ihn behalten. Nicht nur, weil meine Mutter die Macht hat, mich mit ihren Worten zu verletzen, sondern auch, weil das Leben immer wieder die Gefahr birgt, verletzt zu werden. So betrachtet ist der „falsche“ Stolz doch gut, oder nicht? Ich bin verwirrt. Wenn ich diesen Schutz loslasse, ist das so, als wenn ich mich sehenden Auges auf ein Nagelbrett fallen lassen. Da ich kein Fakir bin, werden sich die Nägel in meinen Körper bohren und mich schwer verletzen. Nein, nein, das mache ich auf keinen Fall. Wenn ich zwischen Eispalast und Verletzungen wählen muss, dann entscheide ich mich für den Eispalast. Der tut wenigsten nicht so weh.

Ich beschließe, dass es für heute genug mit meinen Besuchen im Marionettentheater ist, und gehe ins Bett. Einfach nur schlafen, das ist alles, was ich im Moment noch möchte.

Eine tiefe, traumlose Nacht hat dafür gesorgt, dass ich am nächsten Tag entspannt aufwache. Heute habe ich den ganzen Tag Zeit, mich meinen Marionetten zu widmen. Auch wenn die Erlebnisse mit den ersten drei Marionetten aufwühlend waren, so freue ich mich doch auf weitere Begegnungen. Ihre Aufführungen sind spannend und passen zu meinen Erlebnissen, sogar dann, wenn ich ihre Botschaften noch nicht vollkommen begreife.

Nachdem ich geduscht und gefrühstückt habe, mache ich es mir wieder auf meiner Couch gemütlich. Ich muss schmunzeln. Wenn jemand wüsste, wie ich mein Wochenende verbringe, würde ich wahrscheinlich für verrückt erklärt werden. Mit einem Grinsen auf den Wangen und gespannt, wen ich als Nächstes kennenlerne, schließe ich meine Augen und stelle mir mein Marionettentheater vor.

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