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Pandora

Mit einem dicken Grinser auf dem Gesicht stehe ich auf der Bühne, als plötzlich aus dem Nichts eine verführerische Schönheit auftaucht. Mein Grinsen weicht ehrfürchtiger Bewunderung. Ihr Körper ist in ein Gewand aus purer, leuchtender Seide gekleidet, das rotbraune, wallende Haar mit Blumen geschmückt. Ihr eng anliegendes Kleid wird von purpurnen Spangen auf den Schultern zusammengehalten, ein breites Band aus Seide unterhalb ihrer Brust unterstreicht ihre betörende Weiblichkeit auf anmutige Weise. Sie wirkt, als wäre sie einer Sage der griechischen Mythologie entsprungen. Ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden, so sehr verzaubert mich ihr Anblick. Mit einer graziösen Bewegung zieht sie eine Blume aus ihrem Haarschmuck und reicht sie mir. Als ich die Blume berühre, verwandelt sie sich in eine Karte aus Blütenblättern. Noch immer im Bann ihrer betörenden Schönheit beginne ich zu lesen:

Künstlername: Pandora

Ursprünglicher Name: Ohnmacht

Genre: Tragödie

Kleidungsstil: türkisfarbenes, um die Schultern drapiertes Gewand

Besonderes Merkmal: verziertes Gefäß

Bevor ich mir auch nur einen Gedanken zur Bedeutung ihres Ursprungsnamens machen kann, formt sich die Karte wieder in eine Blume und schwebt zurück auf ihren Platz in Pandoras Haarschmuck. Pandora verbeugt sich vor mir und beginnt mit lieblicher Stimme zu singen. Anmutig schaut sie in den Himmel. Ich folge ihrem Blick und sehe, wie sich der Himmel öffnet und Universen offenbart: ein Meer aus Sternenbildern, Planeten, Kometen und Sternschnuppen, die ihren leuchtenden Schweif hinter sich herziehen. Unerwartet fährt ein gewaltiger Blitz zu uns auf die Bühne herunter und katapultiert uns ins Weltall. Übermütig jubelnd landen wir auf einem Planeten, der einem Paradies gleicht. Überall, wo ich hinschaue, erblicke ich lachende und tanzende Menschen, die sich umarmen und gemeinsam singen. Die Natur blüht üppig in einer Farbenpracht, wie ich es noch niemals zuvor gesehen habe. Die verschiedensten Tierarten ziehen ihrer Wege, Kinder, die voller Freude laut lachend ihre Welt erkunden. Frieden und pure Harmonie scheinen auf diesem Planeten zu herrschen. Was für ein Geschenk, das erleben zu dürfen! Tanzend und singend folge ich Pandora zu einem Platz, auf dem ein verziertes, mit Deckel verschlossenes Gefäß steht. Sie nimmt es auf und reicht es mir mit den Worten: „Dies wunderschöne, verzierte Gefäß ist mein Geschenk für dich. Es soll dich immer an mich erinnern. Doch du darfst es niemals öffnen. Unter keinen Umständen! Gleichgültig, was auch geschieht. Versprich mir, dass du es nicht öffnen wirst.“ Dankend nehme ich ihr Geschenk an und verspreche ihr, das Gefäß niemals zu öffnen, obwohl ich bereits jetzt meine Neugier kaum im Zaum halten kann: Was war so bedeutungsvoll und so mächtig, dass es verschlossen bleiben sollte? Als Pandora sich einen Moment von mir abwendet, kann ich meiner Neugier nicht widerstehen und öffne behutsam den Deckel des Gefäßes. Noch nicht ganz geöffnet verdunkelt sich das strahlende Blau des Himmels und ich schließe es rasch wieder. Doch es ist zu spät: Dunkelheit zieht auf, Donner, Blitz und ein gewaltiger Sturm zerstören in rasanter Geschwindigkeit das gesamte Paradies. Wassermassen fließen in die Ebenen. Hilflos und benommen schaue ich zu, wie die eben noch so friedlichen, tanzenden Menschen bei ihrem Versuch, sich zu retten, wild um sich schlagen, sich gegenseitig verletzen und töten, wie sich ihr Blut mit den Wassermassen mengt und den Erdboden in rote Farbe tränkt. Machtlos stehe ich da und kann nichts tun, was diese schreckliche Szenerie beendet. Tränen rinnen über mein Gesicht und eine unbändige Wut auf Pandora breitet sich in mir aus. Ich schaue mich nach ihr um und entdecke sie weit oben auf einem Berg stehen. Mittlerweile bin ich so rasend vor Wut, dass ich Pandora in kürzester Zeit erreiche. Ich will sie büßen lassen für das, was sie mir angetan hatte. Pandora sieht mich aus mitleidigen Augen an, gibt mir einen Schubs, sodass ich vom Berg in eine dunkle Zelle falle, aus der es kein Entrinnen gibt. Ich bin gefangen in einem dunklen Loch, ohne Nahrung, ohne Trinken, ohne Aussicht auf Rettung, als Begleiter einzig die Bilder der Zerstörung, des Blutes, die stummen Schreie und meine grenzenlose Ohnmacht.

Nach einer gefühlten Ewigkeit taucht Pandora in ihrer betörenden Schönheit vor mir auf. Sie reicht mir erneut eine Blume aus ihrem Haarschmuck, zur Erinnerung an ihr beeindruckendes Spiel und verlässt anmutig die Bühne.

Verzweifelte, wütende Ohnmacht umklammert mein Innerstes, als ich beginne, mich von den Bildern und Eindrücken zu lösen. Ja, ich kenne dieses Gefühl – und ich hasse es. Ich hasse es, ohnmächtig zuzuschauen, wie meine Freundin seit Jahren im Wachkoma liegt, wie meine Mutter im Alkohol ertrinkt. Ich habe es gehasst, meiner Schwester beim Sterben zuzusehen. Mich erfasst Wut, wenn ich immer und immer wieder dieselben Szenarien in meinem Leben erlebe, unfähig, sie zu verändern. Genauso hilflos stehe ich Terror und Krieg gegenüber. Noch gut erinnere ich mich an den Tag, als die World Trade Center in sich zusammenbrachen und Tausende Menschen in den Tod rissen; vollkommene Ohnmacht gegenüber den Ereignissen, Verzweiflung und Antriebslosigkeit kennzeichneten meinen Alltag, weil es auch all die ohnmächtigen Momente und Situationen in meinem persönlichen Leben hervorrief. Nein, ich mag Pandora wirklich nicht, da kann sie sich noch so hübsch verkleiden und betörend singen. Ich will sie nicht in meinem Leben haben. Punkt und Ende! „Such dir einen anderen Spielgefährten!“, würde ich ihr am liebsten zurufen. Wie soll ich denn mich und auch noch die ganze Welt retten? Bei diesem Gedanken überkommt mich erneut pure Hilflosigkeit und bevor ich vor Wut um mich schlage oder in verzweifelter Stagnation verharre, beschließe ich, mir lieber die nächste Marionette anzuschauen, und verbanne Pandora aus meinen Gedanken.

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