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Kapitel 9

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Lazarus schlug die Tür seiner Zelle zu und lehnte sich heftig atmend mit dem Rücken dagegen. Die Begegnung mit Anna hatte all seine Vorsätze, all seine Schwüre schneller ins Wanken gebracht, als er befürchtet hatte. Ihr Anblick riss alle Barrieren nieder, die er errichtet hatte, um sich vor einem weiteren Bruch seines Gelübdes zu schützen. Sie war so wunderschön! Ihre Augen schienen bis auf den Grund seiner Seele zu blicken und der Schmerz darin tat ihm mehr weh als alle Leibstrafen, die ihm drohten, sollte er nochmal gegen die Regeln des Ordens verstoßen. Warum konnte sie nicht verstehen, dass sie die Prüfung war, die Gott ihm auferlegt hatte? Sie war die Versuchung, der er widerstehen musste, wenn er nicht bis in alle Ewigkeit im Fegefeuer brennen wollte. Mit einem Stöhnen rutschte er zu Boden und vergrub das Gesicht zwischen den Knien.

»Barmherziger Gott, bewahre mich vor meinen unreinen Gedanken, führe mich und gib mir die Kraft, stark zu bleiben«, betete er. »Lass einen Sünder nicht allein in seiner Not.« Einen Moment lang war er versucht, sich einem der anderen Brüder in der Beichte anzuvertrauen, doch etwas hielt ihn davon ab. Es war nichts geschehen zwischen ihm und Anna. Er musste sich damit abfinden, dass er sie vom heutigen Tag an immer wieder sehen, sich Seite an Seite mit ihr um die Kranken kümmern würde. Sie war eine Begine! »Warum, Herr?«, fragte er tränenerstickt. »Warum lässt du mich wanken im Glauben?«

Er erhielt keine Antwort.

Dennoch saß er lange Zeit reglos auf dem Boden und betete weiter, bis ihm die Beine einschliefen. Mühsam rappelte er sich auf, verstaute das Weihwasser und die Säckchen mit der Asche, dem Salz und den Kräutern und fuhr sich mit dem Ärmel seines Habits übers Gesicht. Er fühlte sich ausgelaugt und leer, beinahe so, wie er sich kurz nach seiner Ankunft in Rom gefühlt hatte. Es gab einen Grund, dass Gott ihn so prüfte. Vielleicht wollte Er ihm damit Seine Güte und Sein Vertrauen zeigen. Lazarus straffte die Schultern, öffnete nach kurzem Zögern die Tür und trat auf den Gang. Dann verließ er das Hauptgebäude, um in der Dürftigenstube nach dem Rechten zu sehen. Seine Arbeit als Siechenmeister wartete auf ihn.

Als er kurz darauf das Spital betrat, schlug ihm der wohlbekannte Geruch von Schweiß, Urin und Blut entgegen. Wie immer waren sämtliche Betten mit Bedürftigen belegt, die entweder fieberten, an Durchfall oder anderen Krankheiten litten. Auch zahlreiche Handwerker der Münsterbaustelle wurden vom Wundarzt zusammengeflickt, begleitet von Ausdrücken, die den Magister Hospitalis mit Entsetzen und frommer Empörung erfüllt hätten.

»Bruder Lazarus«, begrüßte ihn der Wundarzt. »Du bist wieder da.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Lazarus nickte.

»Gut.« Der Wundarzt schien noch etwas hinzufügen zu wollen, schluckte die Worte jedoch. Stattdessen zeigte er auf einen Mann in einem Bett, dessen Laken steif waren von getrocknetem Blut. »Du solltest einen Blick auf ihn werfen. Ich musste ihm die Beine abnehmen, aber ich fürchte, er wird es nicht überstehen.«

*

Nachdem Anna den Säugling zurück in die Stube der Wöchnerinnen gebracht hatte, ließ sie die Mutter mit dem Kind und einer Amme allein und ging zurück in die Dürftigenstube. Schon beim Betreten der großen Halle sah sie Lazarus und den Wundarzt, die sich über den armen Tropf beugten, der seine Beine verloren hatte. Anna warf einen Blick an die Decke des Kreuzrippengewölbes und sandte ein kurzes Gebet zum Himmel, in dem sie um Stärke flehte. Sie durfte sich vor den Insassen nicht anmerken lassen, was sie empfand. Da das Stundengebet der Non bald beginnen würde, herrschte schon wieder reger Betrieb in der Stube. Mägde und Knechte halfen den Kranken beim Ankleiden, von denen sich einige lautstark jammernd beklagten. Manche waren so schwach, dass sie zum Ausgang getragen werden mussten, andere humpelten auf Krücken. Wieder andere wirkten auf Anna vollkommen gesund und würden vom Spitalmeister im Anschluss an den Kirchgang gewiss zum Holzhacken, Kehren oder zu anderen Arbeiten eingeteilt werden. Nur diejenigen, die zu krank oder zu schwach waren, durften in ihren Betten bleiben, die sie sich oft zu zweit teilten.

Annas Blick fiel auf den Amputierten. Für ihn würde der Gang zur Spitalkirche ausfallen, da sein Gesicht inzwischen grau und eingefallen war. Obwohl ihr Verstand ihr riet, sich so weit wie möglich von Lazarus fernzuhalten, wurde sie beinahe magisch von dem Sterbenden angezogen.

»Wie geht es ihm?«, fragte sie, als sie das Bett erreichte.

Lazarus zuckte beim Klang ihrer Stimme kaum wahrnehmbar zusammen. Er schien sie nicht kommen gesehen zu haben.

»Ich fürchte, er stirbt«, erwiderte der Wundarzt. »Ich kann nichts mehr für ihn tun. Vielleicht gibt es eine Arznei, die ihn kräftigen kann, sonst helfen ihm nur noch Gebete.«

Lazarus beugte sich über den Mann, fühlte seinen Aderschlag und schüttelte schließlich den Kopf. »Es ist kaum mehr Leben in ihm. Seine Seele ist bereit für die Reise.«

Obwohl Anna Mitleid für den Mann empfand, war sie erleichtert, dass ihm weitere Qualen erspart blieben. Der Gedanke daran, was für unglaubliche Schmerzen er erdulden musste, sollte er das Bewusstsein wiedererlangen, war schlimmer als die Vorstellung, dass er Frieden im Tod fand.

»Hat man ihm die Beichte abgenommen?«, erkundigte sich Lazarus.

Der Wundarzt nickte.

»Dann kann ich nichts weiter für ihn tun, als für ein schnelles Ende zu beten.« Lazarus zog sich einen Schemel heran und setzte sich neben das Lager, während die Glocken der Spitalkirche anfingen zu läuten. »Du solltest besser zum Gebet gehen«, riet er, ohne Anna anzusehen. »Ich komme hier allein zurecht.«

Sein barscher Ton verletzte Anna. Ohne etwas zu erwidern, kehrte sie dem Lager des Sterbenden den Rücken und verließ die Dürftigenstube. Draußen strömten die Insassen aus allen Gebäuden zur Kirche. Nur in der Nähe der Fuhrwerke und schweren Gerätschaften hatte sich eine kleine Menschentraube um einen Mann gebildet, der mit wilden Gesten etwas erzählte. Obwohl Anna Besserung gelobt hatte, regte sich ihre Neugier. Bevor ihre Vernunft sie davon abhalten konnte, näherte sie sich der Gruppe und blieb in Hörweite stehen.

»Das ist Teufelswerk, sage ich euch!«, raunte einer der Zuhörer. »Wer sonst sollte so etwas Grässliches tun?«

»Bist du sicher, dass man dir keinen Bären aufgebunden hat?«, fragte eine Magd.

Der Mann, um den sich alle geschart hatten, nickte. »Ich bin selbst an der Wiese vorbeigekommen.« Er sah zum Himmel, an dem seit einigen Stunden die Sonne lachte. Vergessen war der dichte Nebel des Morgens. »Gott ist mein Zeuge!«

»Und du hast es mit eigenen Augen gesehen?«

Er nickte. »Die Wachen haben es aus dem Trog gezogen.«

Mehrere Frauen schlangen schaudernd die Arme um sich.

»Vielleicht geht ein Menschenfresser um«, mutmaßte eine.

»Unsinn!«

»Woher willst du das wissen?«

»Wenn schon Schelmbein und Armsünderschmalz zauberkräftig sind …« Die Frau, die gesprochen hatte, bekreuzigte sich.

Anna runzelte die Stirn. Worum ging es? Als Schelmbein bezeichnete man die Knochen eines Hingerichteten, als Armsünderschmalz sein Fett. Diese Arme-Leute-Reliquien galten vielen Abergläubischen als heil- und zauberkräftig. Ein Diebesdaumen sollte gar Glück im Spiel bringen.

»Auf welcher Wiese war es denn?«, fragte ein Knecht, der sich zu der Gruppe gesellt hatte. »Ich will mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass du uns nicht zum Narren hältst.«

»Willst du behaupten, ich würde lügen?«, empörte sich der Mann in der Mitte.

Der Knecht schnaubte. »Du bist ein Wichtigtuer, das wissen wir alle.«

»Dann geh selbst zur Ziegenweide«, war die Antwort. »Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich gelogen habe.«

»Was soll das?«, ertönte die Stimme des Spitalmeisters, der mit wehendem Gewand auf die Gruppe zukam. »Was steht ihr hier rum und tratscht. Macht, dass ihr in die Kirche kommt!«

Anna beeilte sich, hinter eines der Fuhrwerke zu treten, damit der Magister Hospitalis sie nicht sehen konnte. Sie war ihm ohnehin ein Dorn im Auge, weil ihr Bruder, der Spitalpfleger, die Ordensbrüder zu immer mehr Sparsamkeit antrieb. Seit das Spital dem Rat unterstand, stritten die beiden regelmäßig wie zwei Kampfhähne. Sie beschloss, sich nach dem Stundengebet weiter umzuhören. Was der Mann erzählt hatte, klang erschreckend. Sie hoffte inständig, dass nicht schon wieder ein Mörder in der Stadt umging.

Die Begine und der Siechenmeister

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