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Prolog

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Rom, Anfang September 1412

Obwohl er aus dem winzigen Fenster seiner Zelle kaum etwas sehen konnte, reckte Bruder Lazarus sich an diesem sonnigen Septembermorgen auf die Zehenspitzen, um wenigstens einen Blick auf das glitzernde Wasser des Tibers zu erhaschen. Seit seiner Ankunft in Rom vor mehreren Wochen durfte er sein Gefängnis nur zu den Stundengebeten und Messen verlassen, die in der Hospitalkirche gehalten wurden. Der Komplex des Hospitals Santo Spirito in Sassia war auf einem weiträumigen Grundstück angesiedelt, das Lazarus aus seiner Zeit in Rom gut kannte. Es wurde von vier Straßen und einer Piazza umschlossen, bestand aus einem langgestreckten Bau, zahlreichen Innenhöfen mit Brunnen und kleinen Nebengebäuden. In dem Teil des Gebäudes, in dem Lazarus sich befand, herrschte vollkommene Stille. Nur das Lachen der jungen Männer unter den Zypressen am Ufer des Tibers wurde vom Wind in seine Zelle getragen.

Die Burschen wirkten unbeschwert und übermütig und schienen nur mit halbem Eifer bei der Arbeit zu sein. Während sie Netze in ihre Fischerboote warfen, sahen sie einer Gruppe junger Frauen hinterher, die tuschelnd die Köpfe zusammengesteckt hatten. Über ihnen wippten Vögel auf den Ästen der Bäume, die sich in der sanften Brise bewegten. Das Interesse der Frauen galt einer prächtigen Kutsche auf der Piazza, die von vier glänzenden Pferden gezogen wurde. Zwar war das Wappen auf den Türen aus der Entfernung nicht auszumachen, aber Lazarus vermutete, dass es sich um einen Sohn oder eine Tochter aus reichem Hause handelte. Immer wieder beklagten sich die Ordensmitglieder bei der Obrigkeit, dass einige Bürger den gebührenden Respekt in der Nähe der Hospitalkirche vermissen ließen. Doch diese Beschwerden stießen meist auf taube Ohren.

Mit einem Seufzen trat Lazarus vom Fenster zurück und kniete sich vor den kleinen Altar in der Ecke seiner Zelle. Während seine Finger eine Perle seines Rosenkranzes nach der anderen betasteten, flehte er um Vergebung für seine zahllosen Sünden. Die Strafe, die ihn erwartete, fürchtete er nicht so sehr wie den Zorn Gottes. Durch seine Schwäche, seine sündige Begierde für die Begine Anna, hatte er gegen das Gelübde des Gehorsams verstoßen. Als Mitglied des Heilig-Geist-Ordens war es ihm strikt untersagt, der fleischlichen Lust nachzugeben, auf einen Verstoß standen drakonische Strafen.

Die Gefühle, die er für Anna Ehinger hegte, quälten ihn trotz all seines Flehens um Läuterung immer noch. Allein die Erinnerung an ihre Berührung, ihre weichen Lippen, sorgte dafür, dass seine Körpersäfte ins Ungleichgewicht gerieten. Die Angst, die er ausgestanden hatte, als er fürchten musste, sie nie mehr lebend wiederzusehen, hatte ein Loch in sein Herz gefressen, das nicht mehr zu verschließen war. In den Momenten der Schwäche wünschte er sich nichts sehnlicher, als den Orden zu verlassen, um sie zu bitten, seine Frau zu werden.

Aber das war unmöglich.

Er vergrub das Gesicht in den Händen und betete immer verzweifelter. Ein Austritt aus dem Orden war ihm verwehrt, außer er wählte eine Bruderschaft mit strengeren Regeln. Lief er davon, drohten ihm Ächtung und die Exkommunikation durch den Papst. Seine Seele würde für eine solch ungeheuerliche Sünde ewig im Fegefeuer brennen. Wagte er dennoch den törichten Schritt und verließ ohne Erlaubnis den Orden, griff man ihn früher oder später gewiss auf und brachte ihn zurück. Dann erwarteten ihn entweder eine furchtbare Züchtigung, Degradierung oder Kerkerhaft.

»Barmherziger Vater, gib mir die Kraft, diese Prüfung zu bestehen«, flüsterte er. »Lasse Dein Angesicht leuchten über mir und behüte mich vor den Versuchungen Satans. Leite mich zurück auf den rechten Pfad und …« Ein Geräusch, das die Stille durchbrach, ließ ihn innehalten. Deutlich war das Hallen von Schritten im Kreuzgang vor seiner Zelle zu hören.

Lazarus umklammerte den Rosenkranz fester. War jetzt endlich die Zeit gekommen? Wurde heute das Urteil über ihn gefällt? Erwarteten ihn Jahre der Kerkerhaft? Er senkte den Kopf und hoffte, dass all sein Flehen, sein Bitten und seine Buße nicht umsonst gewesen waren. Denn obwohl er versuchte, sich davon zu überzeugen, dass er Anna aus seinem Herzen gerissen hatte, war der Gedanke an sie sein ständiger Begleiter. Was, wenn man ihm verwehrte, nach Ulm zurückzukehren? Oder ihn in ein anderes Land schickte? Als ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, bekreuzigte er sich, kam auf die Beine und setzte eine steinerne Miene auf.

Kurz darauf erschienen zwei Brüder auf der Schwelle. Schweigend, ganz in Schwarz gekleidet, wirkten sie im schwachen Licht, das durch das Fenster hereinfiel, bleich und leblos. Sie vermieden es, Lazarus direkt anzusehen, und gaben ihm mit einem Zeichen zu verstehen, ihnen zu folgen.

Obwohl ihm beim Gedanken an das, was ihm bevorstand, die Knie weich wurden, straffte er die Schultern, befestigte den Rosenkranz an seinem Gürtel und folgte den Brüdern den Kreuzgang entlang zu einem Teil des Gebäudes, in dem sich die großen Säle befanden. In einem davon erwarteten ihn die Oberen des Heilig-Geist-Ordens, aufgereiht wie schwarze Vögel auf einer Bankreihe am Kopf des Raumes. Die Kälte des Steins spiegelte sich in ihren Gesichtern wieder und Lazarus wagte nicht, auf Milde zu hoffen, als er vor dem großen Kruzifix an der Wand auf die Knie sank.

»Bruder Lazarus«, hob der Älteste der Versammelten an. »Bist du bereit für dein Urteil?«

Die Begine und der Siechenmeister

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