Читать книгу Die Begine und der Siechenmeister - Silvia Stolzenburg - Страница 18
Kapitel 12
ОглавлениеAm nächsten Morgen ging es Gertrud schlechter. Das Fieber brannte so heftig in ihr, dass sie kaum bei Besinnung war. Die Wunde unter ihren Rippen hatte sich entzündet, die Ränder waren flammend rot und eitrig.
»Sie muss ins Spital«, sagte die Meisterin, nachdem Anna sie in die Herberge gerufen hatte. »Hier können wir sie nicht behandeln.« Sie schob das feuchte Haar zurück und fasste Gertrud an die Stirn. »Sie glüht.«
»Wir könnten den Wundarzt rufen«, schlug Anna vor. »Sie ist zu schwach, um zu gehen.«
»Sie wird nicht gehen müssen. Wir legen sie auf einen der Karren«, entgegnete die Meisterin. »Es wird Gerede geben, wenn wir sie nicht ins Spital bringen.«
Anna verstand. Gerede war das letzte, das die Beginensammlung brauchen konnte, nachdem ihre Feinde im Rat nur mit Mühe zum Schweigen gebracht worden waren. Jetzt, wo dieser grässliche Johannes den Posten des zweiten Bürgermeisters bekleidete, war die Gefahr vermutlich noch größer als zuvor. Auch wenn sie hoffte, dass die Ereignisse der Vergangenheit sie nicht einholen würden, war sie sich insgeheim sicher, dass Johannes auf Rache sann. Er war ein bösartiger, gefährlicher Mann, den man nicht unterschätzen durfte.
»Hilf mir, sie anzuziehen«, bat die Meisterin. Sobald Gertrud bekleidet war, wurden zwei Knechte gerufen, welche die Kranke auf eine Trage legten und zu einem der Karren brachten. »Bleib bei ihr auf der Pritsche«, trug die Meisterin Anna auf. Dann sah sie dem Fuhrwerk nach, bis es das Tor des Beginenhofes erreicht hatte.
Die Fahrt zum Spital erschien Anna länger, als wenn sie den Weg zu Fuß zurücklegte. Bei jedem Holpern, jedem Rumpeln gab Gertrud ein Stöhnen von sich, schien jedoch zu schwach zu sein, um die Augen zu öffnen. Wie am Vortag hing der Nebel dicht zwischen den Häusern und verwischte alle Konturen. Die unheimliche Entdeckung auf der Ziegenweide und ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung taten ihr Übriges, um Anna schaudern zu lassen. Nach ihrer Ankunft in der Beginensammlung hatte sie wegen Gertrud den Kopf des toten Kindes beinahe vergessen. In der Nacht waren die Gedanken daran jedoch zurückgekehrt und hatten ihr den Schlaf geraubt. Wer tat so etwas Furchtbares? Was für einen Grund gab es für einen solchen Mord? War es überhaupt ein Mord? Oder hatte eine Mutter ihr totes Kind irgendwo abgelegt und Tiere hatten den Leichnam zerfetzt?
Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, schalt sie sich wieder einmal und ließ den Blick zurück zu Gertruds bleichem Gesicht wandern. Auch wenn ihre Haut fleckig war, konnte man bei genauer Betrachtung erkennen, wie schön sie einmal gewesen sein musste. Wie alt sie wohl war?
»Wir sind da!«, riss der Lenker des Wagens sie aus den Gedanken.
Der Beschließer vertrat ihm den Weg.
Anna kletterte von der Pritsche. »Wir bringen eine Kranke«, erklärte sie. »Der Wundarzt muss sich ihre Wunde ansehen.«
Der Beschließer nickte und öffnete das große Tor, damit der Karren in den Hof fahren konnte. Vor der Dürftigenstube angekommen, holte Anna Hilfe und ließ Gertrud zu einem freien Lager bringen. Im Anschluss daran machte sie sich auf die Suche nach dem Wundarzt.
»Er ist nicht da«, ließ sie eine der Mägde wissen. »Vielleicht kommt er heute gar nicht.«
»Wieso?«
»Er soll dem Henker bei einer Leichenschau helfen. Hast du es nicht gehört?«
Anna heuchelte Unwissenheit.
»Der Leibhaftige hat ein Neugeborenes aus dem Leib seiner Mutter gestohlen und es in der Mitte zerrissen.« Sie bekreuzigte sich. »Der Herr sei seiner armen Seele gnädig.« Sie ließ Anna stehen und eilte in eine der Badestuben, aus der kurz darauf ein Klappern erklang.
Anna biss sich auf die Lippe. Gertrud brauchte dringend Hilfe, sie konnte nicht warten, bis der Wundarzt von der Leichenschau zurückkehrte. Wenn sich ihr Zustand weiter verschlechterte, starb sie. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach Lazarus zu machen.
Sie fand ihn am Lager einer alten Frau, deren ganzes Gesicht von eiternden Geschwüren entstellt war. Er redete ihr gut zu, bestrich die Pusteln mit einer Salbe und sprach ein Gebet über ihr. Als er Anna kommen sah, richtete er sich hastig auf und machte Anstalten, ihr auszuweichen.
»Bruder Lazarus!«, rief sie.
Er hielt in der Bewegung inne und wandte sich widerwillig zu ihr um.
Die Worte, die er ihr bei ihrer letzten Begegnung ins Gesicht geschleudert hatte, hallten in ihrem Kopf nach.
»Dein Verlangen ist sündig. Tu Buße!«, hatte er ihr geraten. Das war leichter gesagt als getan, denn jedes Mal, wenn sie ihm in die Augen sah, regte sich etwas in ihr, das sich nicht unterdrücken ließ.
Auch ihm war anzusehen, dass ihr Anblick ihn aufwühlte. Allerdings biss er die Zähne aufeinander, reckte das Kinn und fragte kühl: »Was gibt es?«
Zu Annas Verdruss zitterte ihre Unterlippe. »Du musst nach einer Kranken sehen«, bat sie, um eine feste Stimme bemüht. »Eigentlich sollte sich der Wundarzt um sie kümmern, aber er ist bei einer Leichenschau.«
»Davon habe ich gehört«, gab Lazarus zurück.
»Wenn sie keine Hilfe bekommt, stirbt sie«, setzte Anna hinzu.
»Ich sehe sie mir an«, sagte Lazarus nach kurzem Zögern.
Wenig später erreichten sie das Lager, auf das Gertrud gebettet worden war. Sie war noch bleicher als vor dem Aufbruch vom Beginenhof, ihre Lippen blau, die Augen geschlossen.
»Wer ist sie?«, wollte Lazarus wissen. »Eine Begine?«
Anna schüttelte den Kopf. »Eine Reisende, die in unserer Herberge Zuflucht gesucht hat.«
»Woher kommt sie?«
»Das weiß ich nicht.«
Lazarus sah sie erstaunt an. »Ihr wisst nicht, wem ihr Zuflucht gewährt?«
»Solche Fragen stellen wir nicht«, belehrte Anna ihn. »Jede Frau auf Reisen, die einen Platz für die Nacht braucht, ist bei uns willkommen. Ihr Name ist Gertrud, mehr hat sie mir nicht gesagt.«
Lazarus runzelte die Stirn und wandte sich wieder Gertrud zu. »Wo ist sie verwundet?«
»Unterhalb der Rippen.«
»Dann müssen wir sie entkleiden.«
Anna half ihm, sie von dem störenden Stoff zu befreien, was nur möglich war, indem die beiden sie auf den Bauch drehten. Sobald Gertrud ausgezogen war, wurde das volle Ausmaß der Misshandlungen, die sie erlitten haben musste, deutlich. Anna zog scharf die Luft ein, als sie sah, dass der gesamte Rücken von verheilten Striemen überzogen war. Bei dem kurzen Blick in der Herberge war nur ein Teil der Wunden zu sehen gewesen.
»Sie muss mehrfach ausgepeitscht worden sein«, stellte Lazarus fest und strich mit dem Finger über die wulstigen Narben. »Das hier scheinen Brandmale zu sein.« Er drehte Gertrud auf die Seite und untersuchte die entzündete Wunde. »Könnte von einem Messer oder einem Schwert herrühren«, murmelte er. »Oder von einem anderen scharfen Gegenstand.«
»Sie hat gesagt, sie sei gestürzt.«
Lazarus lachte freudlos. »Das ist sie ganz gewiss nicht.« Er entdeckte die Verletzung hinter ihrem Ohr und betastete den umliegenden Bereich. »Jemand hat versucht, ihr den Schädel einzuschlagen.« Er richtete den Blick auf Anna. »Wir sollten die Wache holen. Hier liegt eindeutig ein Verbrechen vor.«
Anna erschrak. Was, wenn der Verdacht wieder auf die Beginen fiel?
»Warte!«, bat sie, als Lazarus einen Burschen herbeiwinken wollte. »Sollten wir nicht warten, bis sie aufwacht, damit wir sie fragen können, was passiert ist?«
»Ich denke, sie hat behauptet, sie sei gestürzt«, hielt Lazarus entgegen. »Wenn sie dich einmal belogen hat, wird sie dir beim zweiten Mal wohl kaum freiwillig die Wahrheit sagen.« Er stieß einen Pfiff aus, woraufhin der Bursche zu ihm kam. »Hol den Hauptmann der Wache«, trug er ihm auf. »Diese Frau ist das Opfer eines Verbrechens geworden.«
Der Junge stob davon.
»Wenn die Wachen sie befragen, ist die Chance größer, dass sie zugibt, wer sie so zugerichtet hat.«
Anna verkniff sich ein Stöhnen. Ihr Bruder würde es als vom Rat bestellter Spitalpfleger bestimmt nicht gerne sehen, wenn sie schon wieder in ein Verbrechen verwickelt war.
Lazarus wandte sich wieder Gertrud zu und nahm die eiternde Wunde genauer in Augenschein. »Sie muss ausgebrannt werden«, stellte er fest. »Ich kann im Augenblick nicht mehr für sie tun, als ihr einen Trank gegen die Schmerzen zu geben und eine Salbe aufzutragen.« Er legte Gertrud vorsichtig auf den Rücken und beugte sich über sie, um das Ohr an ihre Brust zu drücken. »Sie ist sehr schwach, ihr Atem rasselt.«
»Was bedeutet das?«
Er presste die Lippen aufeinander. »Dass es ihr sehr, sehr schlecht geht.«
»Glaubst du, sie stirbt?«
Er blies die Wangen auf. »Das liegt in Gottes Hand.«