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Kapitel 11

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Als sich der lange Tag im Spital endlich dem Ende neigte, war Anna so erschöpft wie lange nicht mehr. Der Tod des Knaben, das Leiden des Amputierten, das besessene Kind und die Begegnung mit Lazarus hatten sie ausgelaugt. Sie fühlte sich innerlich leer und war froh, als es endlich Zeit war, das Spital zu verlassen. Die Dämmerung zog bereits am Horizont auf und brachte die Nebelschwaden zurück, als sie sich dem Tor näherte.

»Hier kannst du nicht durch«, ließ sie der Beschließer wissen.

Ein Fuhrwerk versperrte den Weg.

»Geh hinten raus!«

Wenig begeistert über den Umweg, begab Anna sich zurück in den größeren der beiden Höfe und machte sich auf zu einem der Gärten neben dem Friedhof. Dort angekommen, öffnete sie das Gartentor und ging über das niedergetretene Gras zum anderen Ende, wo ein kleiner, mit einer starken Tür gesicherter Durchgang auf eine Weide hinter dem Spital führte. Die Erinnerung an das letzte Mal, als sie diesen Ausgang benutzt hatte, schob sie beiseite, zog das Tor auf und trat auf die verlassen daliegende Wiese hinaus. Zu ihrer Rechten befanden sich uralte Bäume, die dicht beim Ufer der Donau wuchsen. Links von ihr führte ein kleiner Trampelpfad zu einem Gatter im Zaun. Vom Fluss her waren die Geräusche von Ruderschlag und schnatternden Enten zu hören, sonst herrschte eine beinahe gespenstische Stille auf der Weide. Weder Gänse noch Schafe waren zu sehen, vermutlich weil es in den Nächten inzwischen zu kalt wurde.

Mit einem Gefühl der Beklemmung raffte Anna die Röcke und stapfte durch das hohe Gras zu dem Pfad, dem sie bis zum Zaun folgte. Das, was sie vor dem Stundengebet gehört hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wovon hatten die Knechte und Mägde gesprochen? Was hatte den Knecht so in Aufregung versetzt? Die Ziegenweide war nur einen Steinwurf entfernt, weshalb sie sich entgegen aller Vernunft nach Osten wandte, sobald sie das Gatter hinter sich geschlossen hatte. Was sollte das Gerede von einem Menschenfresser? Obwohl eine innere Stimme sie davor warnte, schlug sie das mahnende Gefühl in den Wind und machte sich auf zur Ziegenweide. Was sollte schon passieren? Vermutlich war es aufschneiderisches Geschwätz gewesen von einem Knecht, der sich wichtigmachen wollte.

Obwohl sie versuchte, sich das einzureden, nahm die Beklemmung zu, je näher sie der Weide kam. Nach kurzer Zeit erreichte sie den langgestreckten Flecken Gras, in dessen Mitte sich ein Wassertrog befand. Die Wiese lag verlassen da. Einerseits war Anna darüber erleichtert, andererseits beschlich sie eine leise Enttäuschung.

»Du kommst zu spät.«

Die Stimme ließ sie mit einem erstickten Laut herumwirbeln.

Ein Bursche, kaum älter als zehn Jahre, löste sich aus dem Schatten eines Baumes und starrte sie an. Er bohrte hingebungsvoll in der Nase. »Die sind alle schon längst weg.«

Anna fing sich wieder. »Hast du gesehen, was hier passiert ist?«, fragte sie.

Der Bengel zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

Anna sah ihn tadelnd an. »Ich bin eine Begine. Willst du mich belügen?«

Der Junge wirkte wenig beeindruckt. »Gib mir einen Pfennig, dann sag ich dir, was ich gesehen hab.« Er wandte den Kopf und sah zu dem Wassertrog. »Es ist aber ziemlich unheimlich.«

Anna überlegte nicht lange, holte einen Pfennig aus der Tasche und drückte ihn dem Bengel in die Hand. »Also?«

»Paul hat einen Kopf gefunden.«

Anna blinzelte. »Was?«

»Paul, der Ziegenhirte.« Der Junge holte den Finger aus der Nase und betrachtete ihn eingehend, ehe er ihn in den Mund steckte. »Da drin war ein Kopf.« Er zeigte auf den Trog.

»Ein Ziegenkopf?«

»Nö. Ein Kopf von einem Kind.«

Anna griff nach einem der Pfosten, um sich festzuhalten. »Lüg mich nicht an!«, flüsterte sie.

»Ich lüg dich nicht an«, verteidigte sich der Junge. »Die Wachen waren hier und haben den Kopf aus dem Wasser gefischt.« Er grinste. »Es sah echt gruselig aus. Die Augen waren ganz …«

»Sei still!«, fiel Anna ihm ins Wort.

»Den Rest von dem Kind haben sie nicht gefunden«, setzte der Bengel hinzu. »Den hat bestimmt ein Menschenfresser mitgenommen.«

Jetzt war wenigstens klar, woher das Gerede von einem Menschenfresser kam. Sicher ging das Gerücht inzwischen durch die ganze Stadt. »Es gibt keine Menschenfresser«, sagte Anna.

»Stimmt gar nicht! Paul hat erwähnt, dass er einen kennt, der gehört hat, dass man stark wird, wenn man das Fleisch von einem Mörder isst!«

Anna schüttelte entsetzt den Kopf. Das war barer Unsinn, schlimmer Aberglaube, der in manchen Köpfen herumspukte. Für viele der einfachen Leute galten das Blut, die Knochen, das Fleisch und die Haut von Hingerichteten als heil- und glücksbringend. Manche erzählten sich gar, dass die Eigenschaften der Toten auf den übertragen wurde, der von ihnen aß oder trank. Die Vorstellung, dass jemand ein Kind wegen eines solch falschen Glaubens getötet hatte, erfüllte Anna mit Grauen.

»Der Henker war auch da«, ließ der Bengel sie wissen.

»Der Henker?«

Er nickte.

Anna vermutete, dass die Wachen ihn gerufen hatten, um eine Leichenschau vorzunehmen. Allerdings gab es den Worten des Jungen zufolge nicht viel, das man hätte untersuchen können.

»Es sah wirklich furchtbar aus«, wiederholte der Bursche mit sichtlicher Freude an Annas Entsetzen. »Wenn du mir noch einen Pfennig gibst, beschreibe ich dir alles ganz genau.«

Anna wandte sich kopfschüttelnd ab. »Geh nach Hause«, murmelte sie, warf einen letzten Blick auf den Wassertrog und eilte in die Richtung davon, aus der sie gekommen war. Es war ein dummer Einfall gewesen, zur Ziegenweide zu gehen. Jetzt hatte sie Bilder im Kopf, die sie nicht mehr loswerden würde. So schnell sie konnte, legte sie den Weg von der Ziegenweide bis zur Beginensammlung zurück und atmete auf, als sich das Tor hinter ihr schloss. Auch wenn sie diesen Geschichten nicht glaubte, beschlich sie ein ungutes Gefühl.

»Schwester Anna!«, begrüßte die Meisterin sie, als sie das Wohngebäude betrat. »Gertrud hat nach dir gefragt.«

»Geht es ihr besser?«, wollte Anna daraufhin wissen.

Die Meisterin wiegte den Kopf hin und her. »Ihr Fieber ist immer noch hoch. Ich habe mir ihre Verletzungen angesehen und mache mir Sorgen um sie. Aber sie wollte sich mir nicht anvertrauen.« Ihr war anzusehen, dass diese Tatsache sie mit Verdruss erfüllte. »Vielleicht kannst du ihr Vertrauen gewinnen. Sie hat sich mehrmals nach dir erkundigt.«

Anna konnte sich vorstellen, dass die strenge Gegenwart der Meisterin eine Frau, die offensichtlich Geheimnisse hatte, nicht dazu ermunterte, ihr Herz zu öffnen. Obwohl sie müde und hungrig war, brachte sie den leeren Korb in die Kräuterküche und begab sich in die Herberge, wo sie Gertrud schlafend in ihrer Kammer antraf. Ihr Gesicht wirkte friedlich trotz der dunklen Schatten unter ihren Augen.

»Gertrud?« Sie setzte sich auf die Bettkante und fasste der Kranken sanft an die Schulter.

Die fuhr mit einem Schrei aus dem Schlaf auf und fing an, um sich zu schlagen und zu treten. »Geht weg!«, keuchte sie.

»Gertrud, ich bin es!«, rief Anna erschrocken aus. Sie sprang von der Bettkante auf, um sich vor dem Angriff in Sicherheit zu bringen. »Gertrud!«

»Was …?« Als der Blick der Frau auf Anna fiel, trat Verstehen in ihren Blick. Beschämt ließ sie die Hände sinken und zog die Decke hoch, die im Eifer des Gefechts heruntergerutscht war. »Ich dachte …« Sie verstummte.

»Du wolltest mich sprechen?« Anna wagte sich wieder näher an das Lager.

Gertrud blinzelte verwirrt.

»Die Meisterin hat gesagt, du hättest nach mir gefragt.«

Es dauerte eine Weile, bis Gertrud nickte. »Du bist die Tochter eines Ratsherrn?«

Anna nickte. »Warum willst du das wissen?«

»Kennst du die anderen Ratsmitglieder?«, war die Gegenfrage.

Anna schüttelte den Kopf. »Nur einige wenige. Ich verkehre nicht in diesen Kreisen.«

»Aber du hast doch bestimmt jemanden, den du fragen könntest«, beharrte Gertrud.

»Weshalb?«

»Vielleicht ist es nicht wichtig«, wiegelte sie ab. »Aber falls der Herr mich zu sich nimmt …«

»Du wirst nicht sterben!« Anna griff nach ihrer Hand. Sie war heiß und feucht. »Wir kümmern uns um dich!«

Gertrud lächelte traurig. »Die Wege des Herrn sind unergründlich«, murmelte sie.

»Soll ich jemandem eine Nachricht von dir überbringen?«, bot Anna an.

Gertrud überlegte einen Augenblick, ehe sie verneinte. »Aber du könntest mir dennoch einen Gefallen tun.«

Anna sah sie fragend an.

»Frag nach Magnus Ungelter«, bat Gertrud.

»Wer ist das?«

»Ein Ratsherr.«

»Soll ich ihn zu dir bringen?«

»Nein!« Gertrud schüttelte heftig den Kopf. »Ich will nur wissen, wie es ihm geht.«

Anna runzelte die Stirn. »Ist er ein Verwandter von dir? Dein Bruder?«

Gertrud schwieg. »Tust du mir den Gefallen?«

Anna nickte.

»Er darf aber auf keinen Fall wissen, wer sich nach ihm erkundigt!« Etwas, das Anna nicht genau benennen konnte, schwang in ihrer Stimme mit. »Versprichst du mir das?«

Obwohl Anna sich nicht sicher war, ob es klug war, so etwas zu versprechen, tat sie, was von ihr verlangt wurde. Hoffentlich brachte sie sich damit nicht erneut in Schwierigkeiten!

Die Begine und der Siechenmeister

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