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Kapitel 2

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Nachdem Anna Gertruds Kammer verlassen hatte, machte sie sich auf zum Gemeinschaftsraum der Beginen, um mit den anderen Schwestern ein einfaches Mahl einzunehmen. Obwohl sie jeden Tag dankbar dafür war, eine der zwölf Frauen zu sein, die in dem großen Anwesen in der Frauengasse lebten, fragte sie sich, wie lange sie sich noch hinter den Mauern der Sammlung verstecken konnte. Nach allem, was mit dem Sohn des zweiten Bürgermeisters passiert war, würde ihr Bruder vermutlich eine Weile Ruhe geben. Doch Anna war sicher, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihr erneut eine Ehe mit einem der reichen Patriziersöhne ans Herz legte. Als Pfleger des Heilig-Geist-Spitals war es hinderlich für ihn, dass seine Schwester einer Vereinigung angehörte, die vom Papst verboten worden war und von vielen Geistlichen als ketzerisch angesehen wurde. Nicht nur die Zisterziensermönche des gegenüberliegenden klösterlichen Pfleghofes bedachten die Beginen mit abfälligen Blicken. Zwar hatten sich die Frauen nach dem Konzil von Vienne den Barfüßermönchen angeschlossen und sich den Regeln dieses Ordens unterstellt, trotzdem wurden auch in Ulm immer öfter Rufe nach einer Schließung des Beginenhofes und einer Beschlagnahmung aller Besitztümer der Frauen laut.

»Das sind Bräute des Teufels«, hatte Anna schon öfter auf ihrem Weg zum Heilig-Geist-Spital gehört. Jetzt, wo der Mann, der sie fast getötet hatte, den Posten des zweiten Bürgermeisters erhalten hatte, würden die feindlichen Stimmen vermutlich immer mehr Gewicht gewinnen.

Sie zog schaudernd die Schultern hoch, da der Gedanke unweigerlich andere Erinnerungen mit sich brachte. In manchen Nächten wachte sie immer noch schweißgebadet auf, weil sie sich im Traum wieder in dem Kellerloch befand, in dem sie auf den sicheren Tod gewartet hatte. Hätte sie ihre Nase nicht in Angelegenheiten gesteckt, die sie nichts angingen, wäre all das Furchtbare nie geschehen. Mit einem Seufzen betrat sie das Hauptgebäude und erklomm die Treppe ins erste Obergeschoss, wo sich der Gemeinschaftsraum der Beginen befand. Nahezu alle Schwestern waren bereits um den langen Tisch versammelt, an dessen Kopfende die Meisterin aus einem Buch las. Die Kornmeisterin, die Kellerin, die Zinsmeisterin und die Schreiberin saßen ebenfalls am oberen Ende der Tafel und bedachten Anna mit tadelnden Blicken.

Nachdem sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte, nahm sie Platz und fiel in das Gebet mit ein, das die Meisterin in diesem Moment begann. Mit gesenktem Kopf löffelte sie den lauwarmen Brei, während ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft gingen.

Seit den Vorkommnissen im Frühjahr und Sommer schien die Meisterin sie mit einem noch strengeren Auge zu beobachten, weshalb Anna ihr so oft wie möglich aus dem Weg ging. Sie wusste, dass sie dankbar sein sollte, ein Leben führen zu dürfen, das sich nur Frauen aus wohlhabendem Haus leisten konnten. Doch seit sie Lazarus’ Lippen auf ihren gespürt hatte, nagte eine sündige Unzufriedenheit an ihr. Warum hatte Gott sie die Wege kreuzen lassen? Weshalb quälte Er sie so? War das der Preis, den sie für ihr sündiges Verlangen bezahlen musste? Sie trank ihre Milch aus, schob die leere Schale von sich und starrte blicklos auf den kleinen Kreis aus Feuchtigkeit, den ihr Becher auf dem Tisch hinterlassen hatte.

»Schwester Anna, auf ein Wort«, schreckte die Stimme der Meisterin sie auf.

Sie hatte nicht bemerkt, dass auch die anderen Schwestern ihr Frühstück beendet hatten und Anstalten machten, den Gemeinschaftsraum zu verlassen.

Sie erhob sich hastig und strich ihre Röcke glatt.

»Wie geht es der Reisenden?«, erkundigte sich die Meisterin. »Hast du nach ihr gesehen?«

Anna nickte. »Sie ist sehr schwach und hat hohes Fieber. Außerdem ist sie verletzt.«

Die Meisterin sah sie fragend an.

Anna beschrieb ihr die Wunde und die verheilten Verletzungen, die sie entdeckt hatte. »Sie behauptet, sie sei gestürzt, aber es sieht eher aus, als ob sie jemand furchtbar verprügelt hätte. Die Wunde ist entzündet. Wenn es ihr morgen nicht besser geht, sollten wir den Wundarzt holen.«

Die Meisterin nickte. »Ich gehe zu ihr. Vielleicht vertraut sie sich mir an.« Sie wandte sich zum Gehen.

Anna sah ihr nach und fragte sich, ob sie Gertrud zum Reden bringen konnte. Sie war sicher, dass die Kranke irgendetwas verbarg, doch es stand ihr nicht zu, sie weiter zu bedrängen. Mit gemischten Gefühlen verließ sie den Raum und ging zurück in den Hof, der immer noch in dichtem Nebel lag. Zwar hatte die Sonne inzwischen den Horizont erklommen, doch die schwachen Strahlen drangen kaum durch. Begleitet vom Klappern der Milchkannen und dem Schimpfen der Knechte, betrat sie einen Arkadengang, der sie zur Kräuterküche führte. Da der Raum nur zwei winzige Fenster besaß, entzündete sie ein halbes Dutzend Talglichter und entfachte ein Feuer in der gemauerten Kochstelle, über der ein Funkenhut hing. Schlichte Regale, bis obenhin gefüllt mit Behältnissen aller Art, säumten zwei der Wände. Auf einem kleinen Tisch lagen etwa ein halbes Dutzend Bücher. Außerdem befanden sich mehrere Zuber, Kessel, Schüsseln, Mörser und ein großer Hacktisch im Raum. Weil Anna an diesem Tag nach den Pfründnern, den Alten im Spital, sehen wollte, bereitete sie Wacholderelixier gegen Atembeschwerden zu. Dafür kochte sie Wacholderbeeren, Königskerzenblüten und Bertramwurzelpulver in Wein auf und siebte es ab. Außerdem mischte sie Hirschzungenelixier aus getrocknetem Hirschzungenfarnkraut, Wein, Honig, langem Pfeffer und Zimtrinde. Auch diese Zutaten wurden in Wein aufgekocht und durch ein Sieb gestrichen. Den beiden Arzneien folgten Heckenrosenelixier, eine Mischung aus Pfennigkraut, Eisenkraut und Steinbrechsamen gegen Gallenbeschwerden, Quendelsalbe gegen Hautekzeme und Bernsteinwasser gegen Magen-Darm-Beschwerden.

Sobald alles fertig war, packte sie die Flaschen und Tiegel in einen Korb und steuerte auf das große Tor des Beginenhofes zu. Als sie die schützenden Mauern verließ, umhüllte sie der dichte Nebel. Die Geräusche der Stadt wirkten gedämpft, selbst das Schlagen der Zimmermannshämmer drang kaum von der Münsterbaustelle in die Frauengasse. Mit einem Gefühl der Beklemmung sah Anna sich um und eilte nach Süden, bis sie das Ende der Frauengasse erreichte. Beim Ochsenbergle wandte sie sich nach Osten und begab sich vorbei am Predigerkloster der Dominikaner zum Heilig-Geist-Spital, vor dem wie immer großer Andrang herrschte. Nicht nur Bedürftige und zerlumpte Kinder warteten vor dem Tor, auch Handwerker, Fuhrleute, Mägde und Knechte harrten geduldig aus, bis der Beschließer sie einließ.

»Hast du schon gehört, was der Metzgerstochter passiert ist?«, hörte Anna eine der Mägde tuscheln.

Die Frau neben ihr zuckte mit den Schultern. »Was denn? Hat sie schon wieder einen anderen?«

»Was redest du da? Sie hat im Frühjahr geheiratet.«

»Ach? Was interessiert’s mich? Der Kerl muss schön dumm sein, wenn er sich mit diesem losen Weib abgibt. Ich will nicht wissen, wie viele Pfaffen ihretwegen den Hurenzins zahlen.« Die Frau lachte verächtlich.

»Interessiert dich auch nicht, dass ihr Mann verschwunden ist?«

Anna spitzte die Ohren.

»Verschwunden?« Die andere Magd lachte. »Gott wird ihn der Hure genommen haben. Oder er ist abgehauen. Wäre nicht der erste.«

»Warum sollte er abhauen? Sie ist doch jung und willig.«

»Woher weißt du überhaupt davon?«

»Die Hebmagd hat es mir erzählt.«

»Die wird dir einen Bären aufgebunden haben«, schnaubte die Frau und schob ihre Begleiterin nach vorn, als zwei der Fuhrwerke vom Beschließer durchgewunken wurden. Kurz darauf war die Reihe an Anna, die wenig später den kleineren der beiden Spitalhöfe betrat. Trotz der dichten Schwaden war zu erkennen, wie weitläufig das Gelände war. Zu ihrer Rechten befanden sich die Ställe, Scheunen und Fruchtkästen, zu ihrer Linken ragte die Spitalkirche in den Himmel. Die Spitze des Turms wurde vom Nebel verschluckt. Eine Schmiede, eine Bäckerei und mehrere Wirtschaftsgebäude schlossen an die Kirche an. Gegenüber dem Tor zeichneten sich die Umrisse der Dürftigenstube ab, hinter welcher einer der Türme der Stadtbefestigung aufragte. Durch einen Bogengang neben der Kirche gelangte man in einen zweiten, größeren Hof, in dessen Mitte sich ein Ziehbrunnen befand. In der Nähe des Brunnens waren die größeren landwirtschaftlichen Geräte und Fuhrwerke des Ordens abgestellt. Östlich der Kirche verbarg sich das stattliche Haus des Spitalmeisters mit einer Kapelle im Nebel. Den Abschluss des größeren Hofes bildeten die Häuser für die Pfründner, eine Badestube und ein Speisesaal. Am Fuß der Stadtmauer gab es einen kleinen Friedhof und einen Kräutergarten.

Trotz des Wetters herrschte reger Betrieb in den Höfen, da zahlreiche Bedürftige und Kranke im Spital wohnten. Dutzende von Ordensbrüdern kümmerten sich um die männlichen Insassen, wohingegen die Wöchnerinnen und weiblichen Kranken von der Meisterin, einer Milchmutter und zwei im Spital wohnenden Schwestern versorgt wurden.

Mit schwerem Herzen, weil die Erinnerungen an Lazarus überall lauerten, machte Anna sich auf den Weg zur Dürftigenstube, um zuerst diejenigen zu versorgen, die ihre Hilfe am dringendsten benötigten.

Die Begine und der Siechenmeister

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