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2.2.6 Die Zeitlichkeit des Interpretierens und wechselseitige Vorhersagbarkeit

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Wenn wir uns die Abhängigkeiten auf der Ebene „Vorstellen der Art und Weise“ (b) sowie die Abhängigkeitsrichtungen auf dieser Ebene anschauen, könnten wir uns fragen, warum nahm Formaspekte von der Jünger und die Mutter bestimmt und warum nicht umgekehrt diese Bestimmung von der Jünger und die Mutter zu nahm verläuft. Für die umgekehrte Bestimmungsrichtung spricht beispielsweise, dass nahm, aber nicht gefiel erfolgreich vorhergesagt werden kann, wenn ein Satzglied im Nominativ und eines im Akkusativ gegeben sind. Das Kriterium, das für nahm als das bestimmende Element spricht, ist aber, wie viel wie zuverlässigHinweiszuverlässig wechselseitig vorhergesagt werden kann. Eine finite, aktivische Form des Verbs nehmen erlaubt eine ziemlich zuverlässige VorhersageVorhersage eines Satzglieds im Nominativ und eines im Akkusativ. Der Jünger und die Mutter erlauben zwar zunächst einmal gemeinsam und als Satzglieder auch die zuverlässige Vorhersage eines finiten Verbs. Aber erstens ist dieses Verb nicht zuverlässig aktivisch. Wir können dabei an Da bekam der Jünger die Mutter Jesu überantwortet denken. Zweitens wüssten wir ohne weitere Informationen nicht einmal, dass es sich bei der Jünger und die Mutter überhaupt um Satzglieder und nicht um Satzgliedteile handelt. Drittens habe ich unterschieden, ob wir die Abhängigkeiten beziehungsweise Bestimmungen prozessual oder nicht prozessual betrachten. In gesprochenen Äußerungen haben wir nicht die komplette Äußerung von Anfang an vor uns, sondern wir hängen an den Lippen des artikulierenden Sprechers, während dieser sie erst hervorbringt. Im Vergleich zu unserer mühelosen und blitzschnellen auditiven WahrnehmungWahrnehmung ist die Artikulation mühevoll und langsam. Beim Hören und Interpretieren warten wir nicht mit unserer Interpretation, bis die Äußerung beendet ist, sondern wir konstruieren inkrementell, oder onlineOnline-Betrachtungsweise, eine Interpretation auf Basis des bereits Gehörten und generieren VorhersagenVorhersage über das, was noch kommen mag.1 Diese VorhersagenVorhersage betreffen auch Kategorien der sprachlichen Eigenstruktur wie WortartenWortart, morphologischeMorphologie Formen und Satzglieder. (Inhaltliche ErwartungErwartungen lasse ich hier noch außer Acht.) Bei geschriebenen Äußerungen verhält es sich prinzipiell ähnlich, wir können aber mit unseren visuellen Fixationen in der Äußerung hin- und zurückspringen. Unter diesen prozessualen Vorzeichen können wir sehen, dass in gewisser Weise jede vorhergesagte Einheit abhängig von der Einheit ist, auf deren Basis die VorhersageVorhersage getätigt wurde: In der Onlineinterpretation von nahm in (4) führt die Interpretation an der Stelle dieses Ausdrucks zu der Vorhersage eines Satzglieds der 1. oder 3. Person Singular im Nominativ und eines Satzglieds im Akkusativ. Wäre die Äußerung aber ein Nebensatz und nahm stünde am Ende, würde die Interpretin der Jünger zuerst interpretieren und ein finites Verb vorhersagen, das die Form der 3. Person Singular aufweist. An der Stelle die Mutter Jesu könnte sie vielleicht sogar zusätzlich ein aktivisches transitives Verb vorhersagen. Die Abhängigkeitsrichtung zwischen zwei Ausdrücken wäre dann immer abhängig von der ReihenfolgeReihenfolge, in der sie auftreten.

Die Abhängigkeiten in Abbildung 6 sind nicht in diesem Sinne zu verstehen, sondern stellen OfflineabhängigkeitenOffline-Betrachtungsweise dar. Lassen sich nicht prozessuale Abhängigkeiten überhaupt rechtfertigen? Ich denke ja, nämlich indem man in einem Abhängigkeitsverhältnis den besseren Prädiktor zum bestimmenden Element macht. Denn unabhängig davon, ob der Jünger oder nahm zuerst interpretiert wird, kann die Interpretin auf Basis des einen die Form des anderen effektiver vorhersagen, eher erwartenErwartung als umgekehrt. Auf Basis von nahm sagt sie genau zwei Satzglieder mit bestimmten morphologischenMorphologie Formen vorher. Sie wird sich aber hüten, auf Basis von der Jünger ein transitives, aktivisches Verb vorherzusagen. Sie wird das nicht tun, weil die Wahrscheinlichkeit, von der wirklichen Fortführung enttäuscht zu werden, groß ist. Auf der Jünger könnte einfach ein intransitives Verb folgen. Und diese Enttäuschung kostet sie etwas, nämlich Aufwand und Zeit: den Aufwand, eine VorhersageVorhersage überhaupt erst zu machen, den Aufwand, das, was wirklich gekommen ist, anders in ihre Vorstellung einzubauen, als sie es erwartet hat, und die Zeit, dies alles zu tun. Wenn die Interpretin auch die Mutter Jesu wahrgenommen und interpretiert hat, kann sie zwar einen Verbtypen und eine Verbform vorhersagen, denen nahm tatsächlich entspricht. Aber zuverlässig ist das noch immer nicht, denn es könnte ja auch noch ein Satzglied im Dativ auftreten, wodurch sich die Vorhersage womöglich erneut ändern würde. In nahm ist also in weniger Zeit auf weniger Raum zuverlässigereHinweiszuverlässig pertinentePertinenz Information über andere Äußerungsbestandteile verdichtet als umgekehrt. Das werden wir auch noch bei den inhaltlichen Erwägungen sehen.

Der Mensch und seine Grammatik

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