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2.3.3 Der Einfluss der Schrift auf die sprachliche Eigenstruktur
ОглавлениеIch gehe also von einer beweglichen Grenze der sprachlichen Eigenstruktur aus. Sie ist beweglich im Sinne historischer Umstrukturierungen, wir können auch sagen Durchstrukturierungen, innerhalb einer Sprache. Die Interpretation bestimmter Phänomene ist in den modernen Sprach(stuf)eSprach(stuf)en des Deutschen und Englischen in höherem Maße durch die sprachliche Eigenstruktur geregelt als in den älteren Sprachstufen. Dazu gehört manches im sprachlichen Umgang mit Pronomen und Nullstellen, mit denen, wie wir gesehen haben, Kohärenz hergestellt wird, die aber als Satzglieder auch syntaktische Funktionen einnehmen und semantische Rollen tragen können. Im Rahmen der Durchstrukturierungen wurden diese Phänomene zunehmend von der sprachlichen Eigenstruktur erfasst. Welche Bezüge eine Interpretin zwischen welchen Elementen vornahm, war in der Folge nicht mehr bloß davon abhängig, was für sie jeweils nahelag, am leichtesten erschließbar war oder ihrer pertinenzgesteuertenPertinenz Interpretation entsprach. Die Phänomene wurden zunehmend syntaktifiziertSyntaktifizierung und integriertSyntaktifizierungsyntaktifiziertReihenfolge.1 Damit ist Folgendes gemeint: Ich habe oben auf die Überstrukturiertheit sprachlicher KonventionenKonvention hingewiesen und argumentiert, dass ein Merkmal der sprachlichen Eigenstruktur kaum unabhängig von anderen Elementen der sprachlichen Eigenstruktur charakterisiert werden kann. Im Zuge der Syntaktifizierung und Integration sprachlicher Phänomene wird das Netz zwischen den Elementen der sprachlichen Eigenstruktur noch engmaschiger. Die sprachlichen Einheiten, unter denen eine Interpretin für Pronomen und Nullstellen nach Partnerausdrücken suchen konnte, und die Möglichkeiten, sie in einer bestimmten Funktion, zum Beispiel Subjekt oder Objekt, zu interpretieren, wurden jetzt in die positionalen und kombinatorischen Regelungen eingebunden. Das steckt hinter der Syntaktifizierung. Mit ihr geht die zunehmende Kompaktheit von sprachlichen Konstruktionen einher, also die Vernetztheit zwischen Wortteilen in Wörtern, Wörtern in Wortgruppen, Wortgruppen in Sätzen und zwischen Sätzen in Texten. Einzelne Äußerungen oder Sätze bilden so gleichsam Netze, in die kleinere Netze eingewoben sind und die mit größeren Netzen verwoben sind. Das ist mit Integration gemeint. Das Schema in Abbildung 6 vermittelt einen Eindruck von dieser Vernetztheit. Die Fäden des Netzes bilden gleichsam einen Kokon um die linear gedachte Struktur der Äußerung beziehungsweise des Textes herum.
Syntaktifizierung und Integration hängen zumindest in den Sprachen, die uns interessieren, mit der jahrhundertelangen Herausbildung einer Schrift- und Lesekultur zusammen.2 Die schriftlose, gesprochene Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist eine dialogische, in der die Dinge in Rede und Gegenrede durchgesprochen werden. Die Einigung darüber, was womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung steht und welche praktische Relevanz das hat, kann so in Wechselrede ausgehandelt und in ihrem Verlauf konkretisiert werden. Dabei stehen unzählige HinweisreizeHinweisreizHinweis bereit, die in der schriftlichen Kommunikation von Angesicht zu Papier und von Papier zu Angesicht fehlen. Dazu zählen ProsodieProsodie, Mimik, Blickrichtung, Gestik und Körperausrichtung unter den Beteiligten, aber auch alle Aspekte einer gemeinsamen Situation, die im gemeinsamen Wissensvorrat der Beteiligten verfügbar sind. Was im sprachlichen Ausdruck uneindeutigmehrdeutig ist, kann so anhand von Hinweisen aus der Mit- und Umwelt vereindeutigteindeutig werden. Und wo dies schiefgeht und wahrnehmbare Konsequenzen zeitigt, erlaubt die Unmittelbarkeit des Kontakts die sofortige Behebung des Problems. Das dialogische face-to-face-Sprechen ist auf das Zurückgreifen auf außersprachliche HinweiseHinweisaußersprachlich hin, oder besser gesagt, an der VerfügbarkeitHinweisverfügbar dieser Hinweise entlang entwickelt. Die Beteiligten sind für ihren Interpretationserfolg nicht auf einen dicken Kokon vielschichtiger, engmaschiger Vernetzungen angewiesen, die sich um die Anordnung von Zeichen auf Pergament oder Papier herumwickeln. Das Netz, das sie zur Verfügung haben, ist viel weniger zwischen den Elementen der Äußerung oder des Textes geknüpft, wie es bei der geschriebenen Kommunikation zwangsläufig der Fall ist, als zwischen den Äußerungselementen, den Gegenständen der gemeinsamen Situation und den Beteiligten der Kommunikation. Deshalb kann man eine neuhochdeutscheNeuhochdeutsch Bibel auch vom Tisch nehmen, wegtragen und woanders ebenfalls verstehen. Nimmt man zwei Vogelsberger Bauern bei der Arbeit auf und hört sich die Aufnahme am eigenen Küchentisch an, wird schwer nachvollziehbar sein, was in den Äußerungen womit in welcher Beziehung stehend vorgestellt werden soll; nicht, weil man die Wörter nicht kennte, sondern weil beim Weggehen die Fäden in die außersprachliche Situation gerissen sind.
Wenn wir nun an monologische, geschriebene Texte wie die Bibel denken, ist es klar, dass Interpretinnen keine Verständnishilfen aus der Situation erwarten dürfen. Sie können auch nicht an den Urheber der Äußerungen zurückfragen, wie etwas gemeint ist. (Sie könnten sich an Dritte wenden, die die Auslegung sakraler Texte professionell betreiben.) Bei ihrer Interpretation sind sie allein auf das angewiesen, was das Medium und das darin Symbolisierte ihnen bereitstellen. Das erzeugt einen bestimmten funktionalen Druck auf monologische, geschriebene Sprache. Das Ausgedrückte muss ohne Fäden in die situative Mit- und Umwelt der Interpretin so deutbar sein, dass die richtigen Vorstellungen konstruiert und HandlungenHandlung vorgenommen werden können, und zwar nach Möglichkeit bei jedem erneuten Lesen auch und unabhängig davon, wer das Geschriebene interpretiert.3 Als geschriebensprachliche, eigenstrukturelle KonventionenKonvention entwickeln sich dann solche, die diese funktionalen Erfordernisse erfüllen können und deren Charakteristik ich als SyntaktifizierungSyntaktifizierung und Integration angegeben habe. Am vorläufigen Ende stehen situationsentbundene Sprachgebilde – anstatt situationsgebundener Sprechhandlungen – die ohne die Stütze der Mit- und Umwelt erfolgreich zu Interpretationen instruieren. Das konventionalisierte Know-howKnow-how, das auf der Seite eines Schreibers dazugehört, wird von Ong so charakterisiert:
To make yourself clear without gesture, without facial expression, without intonation, without a real hearer, you have to foresee circumspectly all possible meanings a statement may have for any possible reader in any possible situation, and you have to make your language work so as to come clear all by itself, with no existential context.4
Auf den ersten Blick klingt das nicht sonderlich herausfordernd. Immer wenn wir etwas für jemand anderes schreiben, glauben wir, und sogar meistens zu Recht, diesem Anspruch zu genügen. Bei dieser Beurteilung vergessen wir aber, dass wir uns dabei wie selbstverständlich und ohne es zu merken des schon konventionalisierten Know-hows bedienen, das unzählige Generationen vor uns erst akkumulieren mussten. Die historische Herausbildung dieses Know-hows innerhalb einer sprachlichen Verkehrsgemeinschaft musste sich genauso langwierig vollziehen wie die Herausbildung gesprochensprachlicher Konventionen, und das heißt durch Generationen übergreifende Zyklen aus Variation – vielfältiges Ausprobieren –, Selektion – Weiterverwendung des Erfolgreichen – und Reproduktion – Weitergabe beziehungsweise Übernahme des Bewährten – zwischen Menschen innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir kein explizites, analytisches Wissen darüber besitzen, welchen sprachlichen Regelungen wir nachkommen, während wir sprechen. Wir sprechen einfach. Ebenso wenig können wir explizieren, wie wir unsere Gestik, Mimik und Intonation dabei nutzen sowie Faktoren der Situation in unser Sprechen und Interpretieren einbeziehen. Auch das tun wir einfach. Wir können also nicht davon ausgehen, dass die Sprachproduzenten mit einer historisch neuen Konstellation – Verfügbarkeit des Mediums Schrift und gleichzeitige Unverfügbarkeit der Mit- und Umwelt beim Schreiben und Interpretieren – sich auch schon darüber bewusst waren, dass das Schreiben neue Anforderungen an Schreiber, Geschriebenes und Interpretin stellt. Noch weniger dürfen wir davon ausgehen, dass sie schon über das Know-howKnow-how verfügten, wie die Leistungen kompensiert werden konnten, die die Mit- und Umwelt beim dialogischen Sprechen bisher übernommen hatten. Die frühen Schreiber und Interpretinnen mussten also wahrscheinlich zunächst einmal oft genug daran scheitern, geschriebene Sprache verständlich zu gestalten beziehungsweise gesprochene Sprache erfolgreich zu interpretieren, weil die Schreiber so schrieben, wie sie ansonsten sprachen. An diesem Scheitern mussten sie dann lernen, dass für die geschriebene Kommunikation eine andere Konzeption von Sprache erforderlich war.5
Erst wenn Sprachnutzerinnen schreiben und sich dadurch Sprache vor Augen führen, werden sie darauf aufmerksam, dass ihre Hervorbringungen aus unterscheidbaren, voneinander abgesetzten Einheiten wie Buchstaben, Wörtern und (Teil-)Sätzen bestehen. Das schärft aber ein Differenzbewusstsein: ein Bewusstsein, dass eine Einheit im Geäußerten an dieser Stelle einen Unterschied macht, und dass diese Einheit an dieser Stelle nur eine Möglichkeit unter anderen ist.6 (Dazu zählt auch die Möglichkeit, nichts zu äußern und damit etwas mitzumeinen.) Das geschriebene Wort verschwindet mit seiner Entäußerung nicht sofort wieder im Nichts. Das führt dazu, dass die erste, automatischeAutomatismus oder routinisierteRoutine, Routinisierung Interpretation einer Äußerung nicht auch schon die endgültige Interpretation sein muss, wie dies beim gesprochenen Wort der Fall ist, das uns unter interpretativen Zeitdruck setzt. Die Möglichkeit, Äußerungen erneut zu inspizieren, macht den Schreiber und die Interpretin auf alternative Deutungen aufmerksam und verweist auf Alternativen der sprachlichen Gestaltung. Daran muss der Schreiber lernen, dass es maßgeblich in seiner Verantwortung liegt, nicht missverstandenverstehen zu werden, denn er hat – anders als beim Sprechen von Angesicht zu Angesicht – auf absehbare Zeit nur einen Verbalisierungsversuch. Das Papier wird ihn nicht auf Missverständliches aufmerksam machen, denn es ist bekanntermaßen geduldig. Dennoch objektiviert Schrift durch ihre Sichtbarkeit und Konstanz Sprache und lässt den Schreiber eine reflexive Distanz zu ihr gewinnen, lässt ihn auf Dauer sprachlich umsichtiger werden und ein analytischeres Denken entwickeln. Das hat vermutlich einerseits zu dem Bewusstsein geführt, dass man in der Rolle des Schreibers expliziter sein muss als in der Rolle der Sprecherin. Um den Interpretationserfolg sicherzustellen, hat dies historisch aber noch nicht ausgereicht. Das Explizierte musste nämlich nicht nur explizit sein, sondern auch korrekt auf die anderen Äußerungsbestandteile beziehbar sein oder, umgekehrt ausgedrückt, es mussten naheliegende, aber nicht intendierte Interpretationen bei den Leserinnen ausgeschlossen werden. Beim Übergang vom erfolgreichen dialogischen Sprechen zum erfolgreichen monologischen Schreiben haben wir daher damit zu rechnen, dass die Schriftkundigen umsichtiger wurden und dass die sprachliche Eigenstruktur einen Zuwachs an Regelungen – gleichbedeutend mit einer Einbuße an Gestaltungsfreiheit – erfuhr, um erfolgreich zum Vorstellen und Handeln instruieren zu können. Die Einbindung ehemals freier handhabbarer Phänomene in die geschriebensprachliche Eigenstruktur konnte die Wahrscheinlichkeit der Fehlinterpretation von Geschriebenem verringern. Dafür musste sich aber zuerst ein Zustand entwickeln, in dem eine kritische Masse an Sprachbenutzerinnen diese Eigenstrukturen in Form von wechselseitigen SprachhandlungserwartungenErwartung hervorbringen und verinnerlichen konnte.
Ich gehe davon aus, dass ein solcher Zustand für das Standardenglische in England und das Standarddeutsche im deutschsprachigen Raum gegeben ist. In den entsprechenden Sprachgemeinschaften stellen der Schrift- und die Leseunkundige seit spätestens 1900 die Ausnahmen dar.7 Die weitaus meisten Menschen lernen spätestens in der Schule eine normierte geschriebene Standardsprache und in diesem Zuge auch, sie so zu gebrauchen, dass sie ohne Kontextstützen verstehbarverstehen ist. Die kritische Masse für die Verinnerlichung geschriebensprachlicher Eigenstrukturen war ab diesem Zeitpunkt also gegeben. Unabhängig davon, ob diese geschriebene Standardsprache auch immer die Sprech- oder Schreibweise ist, die von ihren Benutzerinnen in allen möglichen Lebensbereichen und -situationen angestrebt wird, ist sie doch diejenige, an der kaum ein biographischer Weg vorbeiführt. Nimmt man dies mit der Tatsache zusammen, dass unsere Kognition durch die Schrift auch umgeprägt wird, kann es kaum verwundern, wenn die spezifischen eigensprachlichen Regelungen der Schriftsprache schließlich selbst auf die genuin gesprochenen dialektalen, regionalen und umgangssprachlichen Weisen des Sprechens zurückwirken – und das heißt, auf das Know-howKnow-how der Sprechenden. „Once a society has become literate, it can never return to ‚authentic‘ orality. Instead orality will be created artificially with the means of literacy.“8
Es lassen sich mehrere Schübe ausmachen, die die Standardisierung des Englischen und Deutschen vorangetrieben haben. Einen Schub an Verbindlichkeit erhielten die NormenSchriftnorm der geschriebenen Sprache durch die ersten weiter verbreiteten Grammatiken ab dem 17. Jahrhundert.9 Im deutschsprachigen Raum avancierte das Deutsch von Luthers Bibelübersetzung von 1545Biblia (1545) dabei vielfach zum Vorbild der Grammatiker.10 Dasselbe lässt sich über die ÜbersetzungÜbersetzung des Teams WycliffeWycliffe-Bibel/Purvey nicht sagen. Die englische Standardsprache ist zum größten Teil aus einem anderen Dialekt hervorgegangen.11 Einen zusätzlichen Schub an Reichweite erfuhr die Entwicklung genuin schriftsprachlicher Konventionen insbesondere durch die Einführung der Schulpflicht (und ihre Durchsetzung) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.12 Und die Rückwirkung der schriftsprachlichen Eigenstrukturen auf die genuin mündlichen Sprechweisen – die den Weg zurück in die „authentische“ Mündlichkeit verstellte – sollte wiederum durch die Etablierung der überregionalen Massenmedien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Schub erhalten haben.13 Unter unseren Bibelübertragungen betreffen diese Entwicklungen trivialerweise die standarddeutsche von 1984, aber potentiell auch die hochalemannischeS Nöi Teschtamänt von 1997 und die nordniederdeutscheDat Nie Testament von 1933, jedoch nicht die historischen Sprachstufen des Deutschen und Englischen. Der Syntax LuthersBiblia (1545) wird „das Gepräge gesprochener Sprache“ bescheinigt.14
Einen hohen Grad an SyntaktifizierungSyntaktifizierung mit genuin schriftsprachlichen Eigenstrukturen können wir für einen neuhochdeutschenNeuhochdeutsch Text von 1984, wie ihn die Luther-BibelBibel (1984) darstellt, also sicherlich annehmen. Einen ebenso hohen Ausbaugrad an schriftsprachlicher Eigenstruktur dürfen wir für das moderne HochalemannischeHochalemannisch und NordniederdeutscheNordniederdeutsch aber nicht ohne Weiteres annehmen. Dafür müssten wir argumentieren, dass die geschriebensprachlichen Eigenstrukturen des Standards tatsächlich auf die Dialekte zurückgewirkt haben oder dort unabhängig existieren. Der schweizerische hochalemannische Dialekt und der nordniederdeutsche Dialekt weisen jedoch jeweils ganz andere Gebrauchsbedingungen als die deutsche Standardsprache (und verschiedene im Vergleich zueinander) auf.15 Sie wurden zwischen der Einführung der Schulpflicht und dem Zeitalter der sozialen Medien nämlich nur selten geschrieben.16 Wenn sie doch einmal geschrieben wurden, wie im Falle unserer Bibelübertragungen, dann musste dies ohne Rückgriff auf eigene, kodifizierte Schreibkonventionen geschehen. Dennoch können wir nicht ausschließen, dass in diesen Bibelübertragungen die oben genannten Grenzphänomene von der geschriebensprachlichen Eigenstruktur des Standards gedeckt sind. Dafür muss eine Bedingung erfüllt sein: Die Kenntnis des geschriebenen Standards hat die Kompetenz der Dialektsprecherinnen für ihren gesprochenen Dialekt in Richtung dieser schriftsprachlichen Eigenstrukturen beeinflusst. Den syntaktifiziertenSyntaktifizierung Umgang mit Nullstellen und Pronomen hätten die Dialektnutzerinnen also aus der neuhochdeutschenNeuhochdeutsch Standardsprache übernommen.17 Dies müsste also sowohl für unsere Übersetzer als auch für ihre jeweiligen hochalemannischenHochalemannisch und nordniederdeutschenNordniederdeutsch Leserinnen gelten. Nicht ausreichen würde dagegen der Nachweis, dass zwar die Übersetzer im Zuge ihrer eigenen standardsprachlichen (und altsprachlichen) Bildung gezielt syntaktifiziertenSyntaktifizierung Gebrauch von ihren jeweiligen Dialekten gemacht haben, aber dasselbe nicht für ihre Leserinnen behauptet werden kann. Denn eine KonventionKonvention, die nur von der Hälfte der beteiligten Parteien befolgt wird, besitzt keine Geltung. Ob diese Bedingung erfüllt ist, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht entschieden werden und würde eine gesonderte Studie erfordern.18 Ich muss mich daher für einen speziellen methodischen Umgang mit den genannten Grenzphänomenen in den modernen Dialekten entscheiden. Im vorherigen Abschnitt haben wir ihn bereits vorweggenommen: Wir gehen davon aus, dass der Grad an Syntaktifizierung in Bezug auf den Umgang mit Nullstellen derjenige des modernen Standarddeutschen ist!
Für die älteren Sprachstufen des Deutschen und Englischen gehe ich davon aus, dass ihre Syntaktifizierung noch nicht so weit fortgeschritten war, weil sich für die geschriebene Sprache noch keine breitenwirksamen, überregionalen und rückwirkenden, dezidiert schriftsprachlichen KonventionenKonvention dafür entwickelt hatten, wie mit freier handhabbaren Phänomenen wie Pronomen und Nullstellen umzugehen wäre. Wenn es Regelungen gegeben hat, so waren sie auf den geringsten Teil der Sprachbenutzerinnen begrenzt. Wir haben es in diesen Sprachstufen eher mit Geschriebenem zu tun, das durch die Merkmale gesprochener Sprache gekennzeichnet ist, als mit Schriftlichkeit, die auch eine spezifische (monologische, distanzierte und so weiter) Konzeption von Sprache erfordert, wie es in den modernen geschriebenen Standardsprachen der Fall ist.19
Das Ganze hat eine intellektuell herausfordernde Konsequenz: Ich werde nachher aus der morphologischen und syntaktischen Klassifikation der deutschen und englischen Bibelübertragungen ableiten, welche Äußerungen in ihnen morphologisch und syntaktisch mehrdeutig sind, um mich schließlich der Frage zuwenden zu können, wie Interpretinnen die mehrdeutigen Äußerungen verstehen können. Bei der Klassifikation von Ein- beziehungsweise Mehrdeutigkeit ist nach den obigen Ausführungen beispielsweise damit zu rechnen, dass eine neuhochdeutsche Äußerung syntaktisch eindeutigeindeutigsyntaktisch ist, während ihr althochdeutsches Pendant, das morphologisch gleich aussieht, syntaktisch mehrdeutigmehrdeutigsyntaktisch ist. Wiese die neuhochdeutsche Übertragung also beispielsweise das Pendant zu dem althochdeutschen Satz in (18) auf, also Da gingen seine Jünger und [Ø] bereiteten die Ostern (‚das Osterlamm‘),20 müsste ich sagen, die Interpretation der Nullstelle als imaginäres Subjekt wäre im neuhochdeutschenNeuhochdeutsch Standard eigenstrukturell geregelt, während dies im AlthochdeutschenAlthochdeutsch nicht der Fall wäre.