Читать книгу Der Mensch und seine Grammatik - Simon Kasper - Страница 26
2.3 Die Leistungsgrenzen der sprachlichen Eigenstruktur: Mehrdeutigkeitmehrdeutig 2.3.1 Grenzen der SprachkonventionenKonvention: eigenstrukturell vermittelte Mehrdeutigkeiten
ОглавлениеWir haben gesehen, wie sprachliche Konventionen der Ausdeutbarkeit von Äußerungen Grenzen setzen und mit welchen theoretischen Hilfsmitteln dies beschreibbar ist: WortkategorienWortart, KasusKasus- und KongruenzmorphologieKongruenzMorphologie und ReihenfolgeregelungenReihenfolge.
Nun müssen die eigensprachlichen Regelungen nicht dazu hinreichen, dass eine Interpretin sie nur auf eine Weise interpretieren kann. Dies hat bereits unser hochalemannischer Beispielsatz (1) vom Anfang gezeigt: Und vo säbere Stund aa hät si de Jünger zue sich gnaa. Ich war ja davon ausgegangen, dass unsere hochalemannische Interpretin – in Kenntnis der Eigenstrukturen des ZürichdeutschenHochalemannisch – in dieser Äußerung si als Nehmerin und de Jünger als Genommenen interpretiert hat, also nicht im Sinne des Schreibers dieser Äußerung. Diese Beobachtung hatte uns erst auf die sprachlichen Konventionen verwiesen, die Äußerungen wenn nicht eindeutigeindeutig, so doch erheblich weniger mehrdeutig machen können.
Wie viel sprachlich vermittelte Mehrdeutigkeit die englischen und deutschen Sprach(stuf)en tatsächlich zulassen, auch wenn ihre Eigenstrukturen berücksichtigt werden, überprüfe ich später detailliert. Hier möchte ich darauf hinweisen, dass sprachliche Äußerungen in seltenen Fällen zu einem erstaunlich hohen Grad verschiedenartig ausdeutbar sind, obwohl sie allen eigenstrukturellen Vorgaben entsprechen. In diesem Zusammenhang werde ich einige Unterscheidungen bezüglich solcher Mehrdeutigkeiten einführen.
Besonders ein (geschriebener) englischer Satz hat in der Forschung zur Verarbeitung natürlicher Sprache einige Berühmtheit erlangt. In dieser Forschungsrichtung versucht man mit computerprogrammierten Parsern die menschliche Sprachverstehenstätigkeitverstehen nachzubilden, indem man ihnen die Eigenstrukturen einer Sprache sozusagen einprogrammiert.
Der Satz mag recht unauffällig anmuten. Die Interpretation, derzufolge die Zeit wie ein Pfeil fliegt, kommt einem leicht in den Sinn, auch wenn sie die Vorstellungskraft durchaus ein wenig herausfordert. Ein früher Parser, dem man das menschliche eigensprachliche Know-howKnow-how des Englischen als Do-that einprogrammierte und der diesen Satz daraufhin analysierte, hat nun allerdings gezeigt, dass eine Interpretin, die diese Regeln der englischen Grammatik befolgt, unter anderem die folgenden Deutungen für die Äußerung vornehmen könnte:1
1 ‚Zeit fliegt (auf die gleiche Weise,) wie ein Pfeil (fliegt).‘
2 ‚Zeitfliegen mögen einen Pfeil.‘
3 ‚Stoppe (mit einer Stoppuhr) Fliegen (auf die gleiche Weise,) wie (du) einen Pfeil (stoppst).‘
4 ‚Stoppe (mit einer Stoppuhr) Fliegen (auf die gleiche Weise,) wie ein Pfeil (Fliegen mit einer Stoppuhr stoppt).‘
5 ‚Stoppe (mit einer Stoppuhr solche) Fliegen (, die in bestimmten Hinsichten) wie ein Pfeil (sind).‘
Ich ergänze noch zwei weitere, die ich einem amerikanisch-englischen Kollegen erst nach einer Common Sense-Gehirnwäsche abringen konnte.2
1 ‚Time Flüge (auf die gleiche Weise,) wie ein Pfeil (Flüge timet).‘
2 ‚Time Flüge (, die in bestimmten Hinsichten) wie ein Pfeil (sind).‘
Nach erneuter Prüfung der Äußerung wird man zugeben müssen: Ja, es stimmt. Man kann das so interpretieren. Einige Interpretationen mögen unsinnig klingen, aber wir können uns Welten vorstellen, in denen sie sinnvoll sind. Zudem kommt man sehr schnell in Schwierigkeiten, wenn man Kriterien dafür angeben sollte, warum Interpretation (a.), die bereits einige Anforderungen an unsere Vorstellungskraft stellt, eine sinnvolle Interpretation ist, die anderen aber nicht. Und an Interpretationen wie (h.), (i.) und (j.) unten, die den Konventionen des Englischen nicht entsprechen, lässt sich auch leicht ersehen, dass sich regelkonforme von nonkonformen Interpretationen deutlich unterscheiden und das interpretative Erweckungserlebnis bei ihnen ausbleibt.
1 *‚Ein Pfeil stoppt (mit einer Stoppuhr,) wie Fliegen (mit einer Stoppuhr stoppen).‘
2 *‚Fliegenzeit mag einen Pfeil.‘
3 *‚Einer stoppt, fliegt und mag Pfeile.‘
Der Satz eignet sich gut, um einige Typen von sprachlich vermittelter Mehrdeutigkeit voneinander abzugrenzen. Dazu muss ich Bezug auf spezifisch sprachliche Kategorien nehmen.
Zunächst einmal sind verschiedene Ausdrücke in dem Satz Vertreter verschiedener WortkategorienWortart.3 Time kann sowohl als Substantiv wie in (a.) als auch als Verb wie in (c.) bis (g.) interpretiert werden. Insofern ist der Ausdruck kategorial mehrdeutigmehrdeutigkategorial. Auch flies und like sind kategorial mehrdeutig. Während flies ebenfalls ein Substantiv wie in (b.) bis (g.) und ein Verb wie in (a.) repräsentieren kann, kann like ein Verb wie in (b.) darstellen, etwas anderes in (e.) und (g.) und möglicherweise noch etwas anderes in den restlichen Lesarten.4
Aber auch innerhalb der Kategorie Verb sind Time und like offensichtlich mehrdeutig. Sie können als Infinitiv, Imperativ und jede Indikativ Präsens Aktiv-Form außer der 3. Person Singular und als jede Konjunktiv Präsens-Form gebraucht werden. Das macht sie als Verben zusätzlich morphologischMorphologie mehrdeutigmehrdeutigmorphologisch.
Die Lesart (b.) mit den Zeitfliegen wird dadurch möglich, dass im Englischen solche Nomen-Nomen-Komposita graphisch nicht von Kombinationen aus finiten Verben plus Satzglied, wie in den restlichen Lesarten, unterscheidbar sein müssen. Hierbei haben wir es also mit einer kombinatorischen, genauer mit einer Kompositamehrdeutigkeitmehrdeutigkomposita- zu tun.5
Hinzu kommt, dass beispielsweise Time als Verb lexikalisch mehrdeutigmehrdeutiglexikalisch ist. Mit dem Ausdruck bezeichnet man das Stoppen von Zeit, aber auch das Wählen eines Zeitpunkts für das Stattfinden irgendeiner Eventualität. Im Deutschen ist der Ausdruck umgangssprachlich ebenfalls als timen bekannt. Sofern flies mit einem Eventualitätsnomen im Sinne von ‚Flüge‘ bezeichnet werden kann, entstehen zwei weitere Lesarten. Daraus ergeben sich die Lesarten (f.) und (g.).
Diese Mehrdeutigkeiten auf der kategorialen, morphologischen, lexikalischen und kombinatorischen Ebene reichen aus, um verschiedene Interpretationen für die Äußerung als Ganze nach sich zu ziehen. Sowohl Time als auch time flies können als Subjekt interpretiert werden, womit einhergeht, dass in ersterem Fall flies und in letzterem Fall like das Verb ist. Oder das Subjekt ist als Subjekt eines Imperativs Time nicht ausgedrückt, dann fungiert flies als grammatisches Objekt.
Die Mehrdeutigkeit zwischen (a.), (c.), (d.) und (f.) lebt auch davon, dass sich in like an arrow potentiell ganze Eventualitäten verbergen, die ausdrucksseitig um das Verb und eines der beiden Satzglieder reduziert sind, wie die Klammersetzungen in den Paraphrasen deutlich machen.6
Dies sind einige der Interpretationen, die selbst unter Berücksichtigung der eigenstrukturellen Konventionen des Englischen möglich sind. Daneben existieren noch weitere Mehrdeutigkeiten, die die Prämissen des Experiments oder die Eigenstrukturen des Englischen aber überstrapazieren würden: Wenn wir annähmen, (8) müsste kein Satz sein, könnten wir das Ganze als eine komplexe Substantivgruppe ‚Zeitfliegen (, die in bestimmten Hinsichten) wie ein Pfeil (sind)‘ interpretieren. Guess what I saw yesterday: Time flies like an arrow.
Daneben ist like noch stärker kategorial mehrdeutig als angedeutet, denn der Ausdruck kann auch als Nomen (‚Ähnliches‘, ‚Gleichartiges‘) und Adjektiv fungieren. Ähnliches gilt für arrow, das auch als Verb verwendet werden kann (zum Beispiel ‚einen Pfeil abschießen‘). Diese Mehrdeutigkeiten sind aber im Kotext der Äußerung (8) wohl nicht auszumachen.
Die Äußerung stellt insofern eine Besonderheit dar, als sie eine sehr hohe Quote an kategorial mehrdeutigen Ausdrücken aufweist und zugleich ko(n)textlos präsentiert ist. Beides ist bei den neutestamentlichen Äußerungen, die ich untersuchen werde, nicht der Fall. Daher sollen kategoriale, lexikalische und Kompositamehrdeutigkeiten auch nicht im Mittelpunkt unseres Interesses stehen. Ich hätte oben, als es darum ging, eine Interpretation für die Interpretin von Äußerung (4) zu erarbeiten, beispielsweise auch darauf hinweisen können, dass Mutter lexikalisch mehrdeutig ist. Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich darauf verzichtet. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass die Interpretin weiß, dass der Jünger die Mutter nicht zum Schrauben mitgenommen hat.
Die für Äußerung (8) ermittelten Mehrdeutigkeiten bereiten Interpretinnen Schwierigkeiten, wenn es darum geht, erst einmal herauszufinden, was ein Etwas ist. Uns interessiert der etwas spätere Schritt, bei dem Interpretinnen ermitteln müssen, welches bereits ermittelte Etwas mit welchem anderen Etwas inWas steht womit in welcher Beziehung? welcher Beziehung steht, also beispielsweise, ob der Jünger oder die Mutter Jesu in unserer Äußerung in (4) Subjekt und Nehmer(in) beziehungsweise Objekt und Genommene(r) ist. Die Arten von sprachlich vermittelten Mehrdeutigkeitenmehrdeutigsyntaktische Funktionen, die dafür eine zentrale Rolle spielen, sind entsprechend andere, nämlich solche bezüglich syntaktischer Funktionen wie Subjekt und Objektmehrdeutigsyntaktische Funktionenet passim und semantischermehrdeutigsemantische Rollen Rollenmehrdeutigsemantische Rollenet passim wie Nehmer und Genommenes, oder allgemeiner, AgensAgens und PatiensPatiens. Auch diese Mehrdeutigkeiten sind bisweilen auszumachen, wenn eine Äußerung allen eigenstrukturellen Regelungen einer Sprache entspricht. Unsere hochalemannische Äußerung (1) aus Kapitel 1 illustriert genau einen solchen Fall. Sie ist hier im Vergleich zur neuhochdeutschen Äußerung (4) aufgeführt, die uns bis hierhin durch dieses Kapitel begleitet hat.
Mit den gleichen eigenstrukturellen Mitteln, mit denen ich gezeigt habe, dass die neuhochdeutscheNeuhochdeutsch Äußerung eindeutigeindeutig ist, lässt sich auch zeigen, dass die hochalemannischeHochalemannisch Äußerung (mindestens) zweideutig ist. Mit den Worten von vorhin ausgedrückt, können wir sagen, dass die Eigenstruktur hier nicht verhindert, dass die Interpretin naheliegende, aber nicht beabsichtigte Bestimmungen an den Ausdrücken und Ausdrucksteilen vornimmt. Wenn ich die Bestimmungen wieder mithilfe eines Strukturschemas darstelle, erhalten wir daher zwei verschiedene Strukturschemata für dieselbe Äußerung.
Abbildung 7 zeigt im relevanten Ausschnitt die Struktur der ersten möglichen Interpretation, diejenige, die der Schreiber auch kommunizieren wollte: Der Jünger hat sie, die Mutter, zu sich, dem Jünger, genommen.
Abb. 7:
Die Funktion sprachlicher Ausdrücke für die intendierte Interpretation am Beispiel von „(Und vo säbere Stund aa) hät si de Jünger zue sich gnaa“
Welchen DeutungsroutinenRoutine, Routinisierung ist die Interpretin hier gefolgt und durch welche eigenstrukturellen Leistungen ist sie bei dieser Interpretation angelangt? Als ersten kritischen Hinweis findet die Interpretin zunächst hät. Als finites aktivisches Auxiliar tut es für die Art und Weise, wie sich die Eventualität vorgestellt wird, wenig mehr als ein Satzglied im Nominativ zu fordern, das als Subjekt fungiert. Dieses findet die Interpretin in de Jünger. Durch Jünger wird das Auxiliar in seinen P.N.-Spezifikationen bestimmt. Die Interpretin weiß nun, dass der Jünger der Habende ist. Als Auxiliar bestimmt hät auch die Form des Passivpartizips Perfekt (PPP) für das Vollverb. Das Vollverb wiederum bestimmt ein Satzglied im Akkusativ, das als Objekt fungiert. Dieses findet die Interpretin in si. Zusammengenommen erlaubt dies der Interpretin, eine Aktivdiathese für den gesamten Komplex anzunehmen, so dass sie si als PatiensPatiens und de Jünger als AgensAgens identifizieren kann. Der Jünger ist also ein sie-zu-sich-genommen-Habender.7 In dieser Lesart steht sich in einem Kohärenz stiftenden Verhältnis zu Jünger. In der Gerichtetheitsbeziehung, die durch zue ausgedrückt wird, fungiert zudem die Mutter als das Gerichtete. Auf die Darstellung der diffizilen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Flexiven und lexikalischen Ausdrücken habe ich hier erneut verzichtet.
Schauen wir uns in Abbildung 8 im gleichen Ausschnitt die zweite, nicht intendierte Interpretation an, derzufolge sie, die Mutter, den Jünger zu sich, der Mutter, genommen hat. Als das Satzglied, für das hät den Nominativ bestimmt und von dem hät seine P.N.-Spezifikationen erhält, identifiziert die Interpretin nun si. Die restlichen Unterschiede sind mehr oder weniger zwingend eine Folge davon: De Jünger ist das Satzglied, das in seiner Akkusativform von gnaa bestimmt ist. Sich steht in einem Kohärenz stiftenden Verhältnis zu si und das Gerichtete in der Gerichtetheitsbeziehung ist nun der Jünger.
Abb. 8:
Die Funktion sprachlicher Ausdrücke für die nicht intendierte Interpretation am Beispiel von „(Und vo säbere Stund aa) hät si de Jünger zue sich gnaa“
Die Mehrdeutigkeit kommt hier offensichtlich dadurch zustande, dass die morphologischeMorphologie Eigenstruktur des HochalemannischenHochalemannisch weder für das Personalpronomen der 3. Person Femininum, si, noch für den bestimmten Artikel de, noch für das Substantiv Jünger unterscheidbare Formen für den Nominativ und den Akkusativ aufweist. Da es sich bei beiden Satzgliedern um solche der 3. Person Singular handelt, kann die Interpretin die Flexionsform des Auxiliars hät ebenfalls nicht als eindeutiges Instruktionsmittel nutzen. Hier haben wir es mit morphologischer Mehrdeutigkeitmehrdeutigmorphologisch zu tun. Die relative ReihenfolgeReihenfolge von Subjekt und Objekt hat im Hochalemannischen nach allem, was wir wissen, auch keinen instruktiveninstruktive Leistungen Wert in Bezug auf die Frage, inWas steht womit in welcher Beziehung? welcher Beziehung die Vorstellungsinhalte zueinander stehen. Ich werde das als syntaktische Mehrdeutigkeit bezeichnenmehrdeutigsyntaktisch. Wir können also festhalten, dass die Äußerung sowohl morphologisch als auch syntaktisch mehrdeutig ist. Aus der Perspektive der symbolischensymbolische Auslagerung Auslagerung ist es für eine Interpretin dieser Äußerung somit gleich naheliegend, die ergänzungsbedürftigen Teile des Verbkomplexes mit dem einen oder dem anderen Gegenstandsausdruck zu schließen. Anders ausgedrückt, die Äußerung ist mehrdeutig in Bezug auf die syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt, und, dadurch vermittelt, in Bezug auf die Rollen AgensAgens und PatiensPatiens. Im ersten Kapitel hatte ich die Äußerung in (1) noch als grammatisch mehrdeutig bezeichnetmehrdeutiggrammatisch. Diesen Ausdruck verwende ich dann, wenn eine Äußerung sowohl morphologischeindeutiggrammatisch als auch syntaktisch mehrdeutig ist.
An Beispiel (1) können wir noch eine weitere Art von Mehrdeutigkeit aus unserer Untersuchung ausschließen. Im betreffenden Bibelkapitel gibt es neben Maria, auf die sich si bezieht, auch diverse andere Gegenstände, auf die mit den grammatischen Merkmalen Femininum oder Plural Bezug genommen werden kann. Auf sie alle könnte, morphologisch gesehen, si sich beziehen. Solche Mehrdeutigkeiten im Pronomenbezugmehrdeutigbezugs- werden uns nicht interessieren. Es ist auch leicht zu erkennen, dass je nachdem, welcher Partnerausdruck für si gewählt wird, sich daran, dass seine syntaktische Funktion und semantische Rolle unklar sind, nichts ändert. Bezugsmehrdeutigkeiten und Mehrdeutigkeiten syntaktischer Funktionen beziehungsweise semantischer Rollen sind unabhängig voneinander.
Subjekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten sind aber nicht die einzigen, die wir in unseren Bibeltexten erwarten dürfen. Viele Äußerungen weisen nämlich neben einem Subjekt und einem Objekt auch mindestens ein weiteres Objekt auf. Objekte weisen entweder einen KasusKasus auf, der direkt vom Verb bestimmt wird, wie (die) Mutter (Jesu) (Akkusativ) in Äußerung (4) oder einen, der von einer Präposition bestimmt wird, wie (zu) sich in derselben Äußerung. Der Ausdruck der Objekte mittels verschiedener Kasusmarkierungen oder Präpositionen geht üblicherweise damit einher, dass diese Objekte in verschiedenen semantischen Rollen interpretiert werden. Neben der PatiensrollePatiens können wir für Objekte noch die RezipientenrolleRezipient (semantische Rolle) und die LokationsrolleLokation unterscheiden. Mehrdeutigkeiten können dann auftreten, wenn zwei Objekte vorhanden sind, bei denen die KasusspezifikationenKasus nicht unterscheidbar sind, wie in dem folgenden Beispiel (9).
Damit geht einher, dass die Objekte auch in ihren semantischen Rollen nicht unterscheidbar sind. Was hier das Genommene – das Patiens – ist und wem es abgenommen wird – sozusagen der Anti-RezipientRezipient (semantische Rolle) –, ist für eine Interpretin an den morphologischenMorphologie Formen also nicht erkennbar.
In Bezug auf das Zustandekommen von Objekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten gibt es einen großen Unterschied zu den Subjekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten. Subjekt und Objekt können außer über den Kasus auch über die KongruenzbeziehungKongruenz zum finiten Verb unterschieden werden. Diese Möglichkeit fehlt bei Objekt-Objekt-Mehrdeutigkeiten. Beide Objekttypen haben nichts mit den Person- und Numerusspezifikationen des Verbs am Hut. Umgekehrt kann mit der präpositionalen Markierung eines oder beider Objekte nur zwischen Objekten ein eigenstrukturelles Mittel zur Verfügung stehen, anhand dessen die beiden Objekte dann unterscheidbar und ihre jeweiligen Rollen beim Aufbau der Vorstellung erkennbar werden. In Beispiel (1) sind LokationLokation (der Referent von sich) und PatiensPatiens (si oder de Jünger) nicht verwechselbar. Was Subjekt-Objekt- und Objekt-Objekt-Beziehungen wiederum gemeinsam haben, ist, dass der relativen Reihenfolge zwischen den Satzgliedern instruktivinstruktive Leistungener Wert zukommen kann.
Es sind also solche Äußerungen, die bezüglich ihrer syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen mehrdeutigmehrdeutig sind, die ich in den alt- und mittelenglischen, alt- bis neuhochdeutschen, hochalemannischen und nordniederdeutschen Bibelübertragungen identifizieren muss. An ihnen möchte ich überprüfen, wie sie trotz morphologischer und syntaktischer Mehrdeutigkeit verstehbar sind. Daher war es wichtig, Kriterien herauszuarbeiten, an denen wir morphologischMorphologie und syntaktischReihenfolge mehrdeutige Äußerungen von eindeutigeneindeutig unterscheiden können. Ich werde später alle Äußerungen in meiner Textsammlung hinsichtlich ihrer morphologischen Ausprägungen klassifizieren und die relativen Positionen ihrer Elemente erfassen. Auf diese Weise werde ich für die allermeisten Äußerungen in der Lage sein, die eindeutigen von den mehrdeutigen zu unterscheiden. Aber nicht für alle.