Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 23
Hochzeit in Guntmadingen
ОглавлениеMaria geht dann alleine Kaffee trinken an jenem nebligen Novemberabend. Dasselbe tut, wie sich später herausstellen sollte, auch der junge Mann, in einem anderen Lokal. «Als wir beide auf die Strasse hinaustraten, stiessen wir erneut aufeinander.» Wieder spricht er Maria an. Wo sie denn wohne, und ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Diesmal sagt Maria Ja. Sie gehen zusammen durch den Park Hampstead Heath bis zum Pub Jack Straw’s Castle: «Dort sind wir hinein. Als er an der Bar stand und die Getränke holte, dachte ich: «Hmm, eigentlich nicht schlecht.»
Maria, Februar 2013: «Ich habe einen guten Mann!»
Dennis Gibbs, 1923 geboren, neun Jahre älter als Maria. Er arbeitet bei der englischen Post Royal Mail im Untergrund. Wenn der Postzug mit den kleinen, offenen Wagen anhält, muss Dennis aufpassen, dass die Pakete und Briefe nicht gestohlen werden. Als Mrs Green von Dennis hört, warnt sie Maria und fragt nach Dennis’ Nationalität. «Ein Engländer? Dann kannst du ihn jederzeit nach Hause bringen.»
Im Juni 1957 ist Marias Jahr in Hampstead zu Ende, sie fährt in die Schweiz zurück. Was Dennis denn machen werde ohne sie, fragt Mrs Green. «Und es stimmte! Er ging ja nirgends mehr hin ohne mich.» Im August besucht er Maria in Guntmadingen, sie verloben sich. Dennis kann nicht bleiben, aber er kommt wieder – im April 1958 feiern sie Hochzeit und gehen dann zusammen zurück nach London.
Im Juni beginnt Maria bei Liberty, dem traditionsreichen Londoner Kaufhaus beim Oxford Circus, als Schneiderin zu arbeiten. Die schottische Kundin, die im Liberty ihren massgeschneiderten Kilt anprobiert, ist erstaunt: «Ich hätte nie gedacht, dass Engländerinnen wissen, wie man einen Kilt macht.» Maria ist die einzige gelernte Schneiderin bei Liberty – sie hat den Kilt zugeschnitten. «Die Falten legen ist ja nicht schwierig. Aber es braucht sieben Meter Stoff für einen Kilt!» Die Engländerinnen, sagt Maria, hätten oft nicht einmal gewusst, wie man ein Schnittmuster macht. «Sie machten ja keine Lehre. Sie begannen einfach zu arbeiten und fertig.» Wenn die Einkäuferin von einer Modenschau aus Paris zurückkommt, muss Maria die Anleitung auf den französischen Schnittmustern übersetzen. «Ich war die einzige, die Französisch konnte.»
Kleider von Liberty sind aus fein gewobenen Stoffen. «Wir nähten alles von Hand, richtig Haute Couture.» Auch Hochzeitskleider von Liberty sind beliebt. Maria näht sie allerdings nicht gern: «Ich fand das langweilig. Immer nur weiss – ewig schneit’s.»
Die Arbeitstage sind kürzer als in der Schweiz. «Um neun begann man zu arbeiten, um zehn gab es Tee und ein Stück Kuchen. Von zwölf bis eins Mittagspause, um vier Uhr Tee mit Toast und Butter und Konfitüre. Um halb fünf war man fertig.» Die Klassentrennung wird auch bei Liberty hochgehalten: «Es gab drei Kantinen. Eine für die Arbeiter, eine für die Büroangestellten und eine für die Oberen.»
In einem grossen Schrank im ersten Stock bewahrt Maria 86 Blusen auf aus 86 verschiedenen Stoffen. Sie hat die Blusen alle selber genäht. Viele sind aus Stoff von Liberty. Kurzarm und Langarm. Geblümt, uni, pastellfarbig, bunt. Oder mit dem berühmten Pfauenfedermuster: «Das war das erste Muster, das Liberty druckte. Der typische Liberty print.» Einige Blusen sind viele Jahre alt, andere hat Maria erst vor ein paar Monaten genäht.
1964 wird Dennis befördert, er muss nun Schicht arbeiten. «Bevor er zusagte, diskutierten wir das miteinander.» Maria kündigt bei Liberty und macht sich selbständig. «Sonst hätten wir uns kaum noch gesehen.» In ihrem Haus in High Barnet, am Ende der U-Bahn-Linie Northern Line, richtet sie sich ein Atelier ein. «Ich machte kein einziges Inserat, aber es sprach sich schnell herum. Ich hätte von Anfang an Tag und Nacht arbeiten können.»