Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 21

«Wir hatten genug vom Nähen»

Оглавление

Bevor sie an jenem Sonntagabend dem jungen Mann begegnet war, hatte Maria mit ihrer Schweizer Kollegin in einem italienischen Restaurant in Golders Green Spaghetti gegessen. Für two and six, für zwei Shilling und sechs Pence, gab es dort einen grossen Teller voll. «Hunger hatte ich eigentlich immer damals.» Zwar bekommt Maria auch bei Familie Green in Hampstead genug, aber: «Die Mutter war halt eine so gute Köchin gewesen. Tadellos. In England wurde das Gemüse nur aus dem Wasser gezogen, es hatte keine Sauce daran, nichts.»

In dem Restaurant essen auch italienische Arbeiter. Sie kommen aus Bedford, wo in den Fünfzigerjahren viele Italiener in der grossen Ziegelfabrik arbeiten. Einer von ihnen hat jeweils eine leere Zigarettenschachtel aus Metall dabei, Marke Express. Er schüttet Alkohol in die Schachtel und reinigt die Uhren seiner Kollegen. «Er sagte jedes Mal zu uns, wir sollten still sein, sonst wisse er nicht mehr, wie die Rädchen zusammengehörten.» Marias Kollegin hat sich mit einem der Arbeiter angefreundet, und an jenem Sonntagnachmittag geht sie mit ihm ins Kino.

Auch Maria geht ins Kino, alleine, in einen anderen Film. Als sie aus dem Kino kommt, trifft sie den jungen Mann mit der hässlichen «National-Health-Brille» – einer Brille des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes National Health Service NHS.

Im Juni 1956 war Maria zusammen mit 35 anderen jungen Schweizerinnen nach England gekommen. Eine Agentur hatte ihnen Stellen vermittelt und die Reise organisiert. Maria war 24 Jahre alt und, abgesehen von kurzen Abstechern «ins Deutsche», noch nie im Ausland gewesen. Frankreich, dann der Ärmelkanal: «Dieses schreckliche alte Schiff, das vergesse ich nie mehr!» Von Dover nach London: «Das war furchtbar, diese Häuser. Nicht einmal angestrichen und ganz verwahrlost.» In London Victoria wartet der Chauffeur am Bahnhof, Maria wird mit dem Rolls Royce abgeholt: «Die Kolleginnen haben nur so geschaut.»

Guntmadingen aus der Vogelperspektive. Auf der grossen Foto­grafie in Marias Wohnzimmer ist ein kleines Dorf zu sehen. Rings um das Dorf Felder, im Süden Wald. Hinter dem Wald beginnt Deutschland.

Maria hatte als einzige von sieben Geschwistern eine Berufsausbildung gemacht, eine Schneiderinnenlehre in Neuhausen am Rheinfall. Nach der Lehre arbeitete sie ein Jahr in Männedorf, zwei Jahre in Olten und dann in Schaffhausen. «Das war eine ganz tolle Stelle in Schaffhausen. Aber manchmal hatten wir einfach genug vom Nähen.» Wir – drei junge Schneiderinnen, die 1956 im gleichen Atelier arbeiten und alle zusammen beschliessen: «Jetzt gehen wir nach England und lernen Englisch.»



Подняться наверх