Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 10
«England ist sehr arm geworden»
ОглавлениеAuf den Britischen Inseln war die Nachfrage nach billigen ausländischen Hausangestellten gross. Millionen von Engländerinnen hatten während des Kriegs die Arbeit der dienstpflichtigen Männer übernommen und dafür gesorgt, dass Wirtschaft und Zivilleben auch im Ausnahmezustand nicht stillstanden. Ein beispielsloser Kraftakt, der unter dem Begriff Home Front in die Geschichte eingegangen ist. Als die Soldaten von der Front zurückkamen und an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten, verloren viele Frauen ihre Jobs. Einrichtungen für die Kinderbetreuung, die während des Kriegs geschaffen worden waren, wurden aufgelöst.
Aber viele Engländerinnen wollten die Autonomie, die sie durch die ausserfamiliäre Lohnarbeit gewonnen hatten, nicht wieder aufgeben und suchten sich neue Stellen – Kindermädchen und Haushaltshilfen waren deshalb gefragt. Dem englischen Mittelstand ging es finanziell jedoch nicht mehr so gut wie vor dem Krieg, die Budgetposten für Hausangestellte waren geschrumpft. In der Zwischenkriegszeit waren junge Schweizerinnen manchmal auch als Gesellschafterinnen angestellt worden – damit war es nach dem Krieg vorbei: «England ist nicht mehr das Land der unzähligen reichen Familien, wo Schweizer Kindermädchen auf Schlössern junge Lords betreuen, in Rolls-Royces herumgefahren werden und jeden Morgen durch endlose Parkwege reiten können. England ist arm, sehr arm geworden», schrieb die «Schweizer Illustrierte Zeitung» im März 1950.
Es fehlte an allem: Lebensmittel und Kleider blieben bis 1954 rationiert, Brennstoff für die Heizungen war knapp, die Häuser schlecht isoliert und kalt, und es gab nicht genug Wohnungen. Die Angriffe der deutschen Luftwaffe hatten zudem viel Infrastruktur zerstört.
Das biga äusserte sich besorgt. In einem Sitzungsprotokoll vom 17. Dezember 1945 heisst es: «Was England anbelangt, ist zu sagen, dass die Situation augenblicklich keineswegs günstig ist. Das Land ist, im Gegensatz zu Amerika, unsäglich verarmt. Die Verhältnisse im Ausland sind sehr viel schlimmer als nach dem Ersten Weltkrieg, die Gefährdung unserer jungen Mädchen daher viel grösser. Beängstigende Zunahme der Geschlechtskrankheiten. Der Mädchenhandel steht wieder in Blüte.»