Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 11

Unerwünschte Freundschaften

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Die jungen Frauen wurden unablässig gewarnt, in Zeitungen und Zeitschriften, auf Flugblättern und Beratungsstellen. Zum Beispiel vor dem britischen Wetter. In einem «Wegweiser für die Eltern unserer Englandgängerinnen» aus den Fünfzigerjahren heisst es: «Für seelisch Gefährdete, Enttäuschte, depressiv Veranlagte ist das feucht-neblige Wetter Englands und die der unseren recht verschiedene Denkart seiner Bewohner unge­eignet.» Oder vor dem «Charakter der englischen Hausfrau», die ihre Hausangestellten wegen des britischen Klassensystems nicht in die Familie integriere. Mit schlimmen Folgen, wie das Flugblatt «Schweizerinnen in Grossbritannien» ausführt: «Man­gel an Familienanschluss, Abgeschiedenheit oder unge­nü­gende Sprachkenntnisse führen oft zu Depressionen, übertriebener Vergnügungslust oder zu ungeeigneten Freund­schaften, was alles gleich verhängnisvoll sein kann.» In den Vierziger­jahren wurde noch oft vor den Kriegsfolgen gewarnt, vor Lebensmittelknappheit und «grauen, düsteren englischen Städten», in den Fünfzigerjahren rückten zunehmend sogenannte «un­erwünschte Freundschaften» und vor allem unerwünschte Schwangerschaften in den Fokus.

In London kümmerten sich Hilfsstellen um diejenigen, die tatsächlich in Schwierigkeiten geraten waren. Die schweize­rische Wohltätigkeitsorganisation Swiss Benevolent Society, die bereits im frühen 18. Jahrhundert gegründet worden war, konnte den grossen Ansturm bald nicht mehr bewältigen. 1949 wurde deshalb das Sozialsekretariat für Schweizerinnen in Grossbritannien eröffnet, eine vom Bund und den Kantonen mitfinanzierte Institution. Die Jahresberichte des Sekretariates zeigen, mit welchen Anliegen sich die jungen Frauen an die Stelle wandten. Die Spannbreite ist gross, sie reicht von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz über körperliche und psychische Krankheiten bis hin zu den ungewollten Schwangerschaften – über Jahre einer der Hauptgründe, weshalb Frauen das So­zial­sekretariat aufsuchten.

Unverheiratete schwangere Frauen standen unter grossem Druck. Gemäss britischem Gesetz mussten ledige Ausländerinnen mit befristeter Aufenthaltsbewilligung das Land vor der Geburt des Kindes verlassen. Auch in der Schweiz hatten le­dige Mütter einen sehr schweren Stand. In einem Bericht des ­Sozialsekretariats von Ende 1958 heisst es: «Das Problem der unverheirateten Mutter ist konstant (…). 1958 schickten wir 27 Mütter, die uneheliche Kinder erwarteten, in die Schweiz zurück. Mit Hilfe von Wohlfahrtsorganisationen (…) war es möglich, für diese Mädchen passende Orte, wo sie vor und nach der Geburt wohnen konnten, zu finden. Es ist eine traurige Tatsache, dass die Mädchen nur in wenigen Fällen wieder in ihrem Elternhaus aufgenommen werden. Normalerweise wissen die Eltern gar nichts vom Unglück ihrer Tochter, und viele der Kinder werden adoptiert.» Im Jahresbericht von 1959 werden die Eltern der jungen Frauen adressiert: «Die Eltern sollten ihre Töchter über die Lebenstatsachen, Gefahr vor unerwünschten Freundschaften (besonders mit farbigen Männern), Geschlechts­krankheiten etc. eingehend aufklären.»

Umgekehrt gab es auch Eltern, die ihre Tochter nach England schickten, um eine «unerwünschte Freundschaft» in der Schweiz zu beenden. Und auch psychisch kranke oder suizidale junge Frauen wurden auf die Britischen Inseln geschickt in der Hoffnung, der Ortswechsel werde zu einer Besserung des Zustandes der Betroffenen führen – was sich zumeist als Illusion entpuppte. Im Tätigkeitsbericht des Sozialsekretariates für das Jahr 1950 heisst es: «Es ist erstaunlich, wie viele Schweizerinnen hier wegen geistigen Störungen in Anstalten verbracht werden müssen.» 72 Mädchen und junge Frauen wandten sich in dem Berichtsjahr krankheitshalber an das Sekretariat, mehr als die Hälfte davon wegen «Geisteskrankheit», «Nervenzusammenbrüchen» oder «Hysterie».

1957 kam mit dem Swiss Hostel for Girls noch eine weitere Institution dazu. Massgeblich vorangetrieben hatte das Projekt die Swiss Benevolent Society. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtete nach der Eröffnung von einem Haus mit «prächtigem Garten in der schönsten Lage der Stadt» – im Nordlondoner Nobelquartier Hampstead. Hier fanden Frauen Unterschlupf, die nur vorübergehend eine Bleibe brauchten, zum Beispiel, weil sie die Arbeitsstelle wechselten. Eine ähnliche Institution hatte es bereits im 19. Jahrhundert gegeben. 1884 war in der Londoner Innenstadt das Swiss House eröffnet worden, das Schweizer Hausangestellten, die nicht bei ihrer Herrschaft wohnen konnten, Unterkunft bot.



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