Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 8
Kein Schweizer Bürgerrecht mehr
ОглавлениеKaum waren nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen wieder offen, machten sich die jungen Frauen erneut auf den Weg. Nun gingen sie zu Tausenden. Englisch war die Sprache der alliierten Siegermächte, die Hitler besiegt und Europa vom Nationalsozialismus befreit hatten. Amerikanische gis brachten Kaugummis, Lucky Strike und Nylonstrümpfe nach Europa – Vorboten der angelsächsischen Alltagskultur, die auf dem europäischen Kontinent bald überall präsent sein sollte. Marilyn Monroe, James Dean und Elvis Presley weckten diffuse Sehnsüchte nach dem American way of life und verstärkten den Wunsch, die fremde Kultur und Sprache kennenzulernen. Englisch spielte auch in der Arbeitswelt eine immer wichtigere Rolle. Anna-Maria Webb-Eggen zum Beispiel arbeitete in einem Hotel in Faulensee bei Spiez, ihr Chef erklärte, wenn sie weitermachen wolle in der Hotelbranche, müsse sie Englisch lernen. Drei Wochen später war Anna-Maria in London.
Wirtschaftliche Gründe fallen nach dem Zweiten Weltkrieg als Motiv für den Aufbruch nach England weitgehend weg. Die Frauen, die nach 1945 gegangen sind, sagen alle, sie hätten Englisch lernen wollen. Sie gingen in einer Zeit des materiellen Aufschwungs, als neue Maschinen und Geräte den Alltag zunehmend veränderten. 1951 lancierte Schulthess den ersten Waschautomaten Europas, Kühlschrank, Mixer und Tetrapak hielten Einzug in die Küche, in der Wohnstube stand ein Fernsehgerät und vor den Haustüren da und dort ein vw Käfer für den Sonntagsausflug.
An der Stellung der Frauen in Gesellschaft, Politik und Familie änderte sich in der Schweiz vorerst wenig. In England wurde 1928 das allgemeine Frauenwahlrecht eingeführt, in der Schweiz hatten Frauen noch bis 1971 kein Stimm- und Wahlrecht. Jede Schweizerin, die einen Ausländer heiratete – unabhängig davon, ob sie das in der Schweiz oder im Ausland tat – verlor bis 1952 ihr Schweizer Bürgerrecht. Mehrere der porträtierten Frauen haben genau das erlebt. Bea Laskowski-Jäggli, die 1947 in London den Polen Wladislaw Laskowski heiratete, verlor die Schweizer Staatsbürgerschaft, bekam aber keine polnische. Wenn sie ihre Familie in Basel besuchen wollte, musste sie mit einem Ausweis für Staatenlose einreisen.
Viele Frauen, die sich in den Vierziger- und Fünfzigerjahren nach England aufmachten, kamen aus ländlichen Gebieten, oft aus einfachen Verhältnissen. Viele sagen, dass sie gerne länger in die Schule gegangen wären – aber keine Möglichkeit gehabt hätten. Ihre Biografien zwischen Schulabschluss und Aufbruch nach England gleichen sich. Sie machten ein Haushaltungslehrjahr, gingen ein oder zwei Jahre ins Welschland – oder ein Jahr in die Deutschschweiz wie die Tessinerin Annetta Diviani-Morosi – und arbeiteten dann im Gastgewerbe, in einer Fabrik oder zu Hause auf dem Hof. Einige machten eine Lehre. Aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt – auch geografisch. Wenn sie wegwollten, war England oft die naheliegendste Option, Alternativen gab es kaum. Die usa kamen für viele wegen der hohen Reisekosten nicht infrage. Auch die Reise nach England war teuer. Aber Stellenvermittlungsagenturen wie Thomas Cook übernahmen häufig die Reisekosten. Myrtha Parsons-Biedermann sagt: «Ich wollte einfach weg. Es hätte nicht unbedingt England sein müssen.»
Nach England zu gehen konnte auch bedeuten, ein Stück Freiheit zu ergattern und zumindest für eine gewisse Zeit aus einem Alltag auszubrechen, in dem es nur wenig Spielraum gab für die jungen Frauen.