Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 6

Ein Exodus

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In den späten Vierzigerjahren machten sich jährlich ungefähr 4000 bis 5000 junge Schweizerinnen nach England auf, in den Fünfzigerjahren waren es gemäss zeitgenössischer Medien­berichte und Statistiken von Hilfsstellen wie dem «Sozialsekretariat für Schweizerinnen im Ausland» etwa 7000 pro Jahr – genaue Zahlen gibt es nicht. Frauen, die im Ausland lebten, wurde die Anmeldung auf einer schweizerischen Konsularvertretung zwar empfohlen. Im Unterschied zu den Männern, die sich wegen der Wehrpflicht zwingend anmelden mussten, gab es für sie jedoch keine Meldepflicht. Viele Frauen liessen sich nie registrieren. Und weil sie nur für eine befristete Zeit gingen, mussten sie sich in der Schweiz nicht abmelden.

In den Fünfzigerjahren wurde in den Medien ausführlich über diese jungen Frauen berichtet. Von einem «Exodus» war die Rede und von einem «Massenphänomen». Die Thurgauer Zeitung schrieb im Februar 1956: «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen in Scharen gegen England an eine Haushaltsstelle.» Dennoch sind diese Frauen – und ­damit ein Kapitel Schweizer Emigrationsgeschichte – aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Es gibt keine histo­rische Publikation, die sich mit dem Massenphänomen beschäftigt.

In Erinnerung geblieben sind jedoch persönliche Geschichten: Die Erzählungen von Grossmutter Johanna, die in den Dreissigerjahren an der schottischen Küste eine lange Wanderung unternommen und in einem selbst gebastelten Zelt aus Farn übernachtet hatte; die Geschichte von Grosstante Elsa, die in Nordlondon täglich die gleichen Silberlöffel putzen musste. In Erinnerung geblieben ist auch die Bedeutung, die der zweijährige Englandaufenthalt für die Mutter zeitlebens gehabt hatte – sie, die nachher kaum noch weggekommen war aus dem Dorf im Zürcher Oberland. Bilder und Bruchstücke aus den ­Erzählungen von Urgrosstanten, Cousinen, Schwiegermüttern und Grossmüttern sind in der Schweiz präsent. Weil so viele gegangen sind, gibt es kaum eine Familie, in der nicht irgendjemand von einer nahen oder entfernten Verwandten weiss, die als junge Frau auch einmal in England war – und wieder zurückgekommen oder für immer dort geblieben ist.



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