Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 24

«Der Krieg hat ein Stück seines Lebens genommen»

Оглавление

Zu Marias Erzählung gehören auch Geschichten vom Krieg. Einige hat sie selber erlebt, andere hat Dennis erzählt. Im schweizerisch-deutschen Grenzgebiet prägte die Angst vor einem möglichen Einmarsch deutscher Truppen den Alltag. Maria erzählt von der Grenze, die im Schaffhausischen mitten durch die Küche eines Bauernhauses ging – die eine Hälfte der Küche gehörte zu Deutschland, die andere zur Schweiz. Sie erzählt auch von dem grossen aufgemalten Kreuz auf dem Dach eines Bauernhofs in Guntmadingen, weiss vor rotem Hintergrund. «Das war für die Piloten der ausländischen Kriegsflugzeuge, damit sie wussten, wo sie flogen.» Sie erinnert sich auch, wie man sich mit den Jahren an die Angst gewöhnte – vor den Sirenenalarmen und vor den Bomben, die auf Schweizer Seite abgeworfen werden könnten. «Mutter sagte jeweils, wir sollten in den Keller hinunter, wenn die Sirenen gingen. Aber es verleidete uns, und wir sagten dann nur noch: ‹Nein, danke›.»

In der britischen Hauptstadt heulten die Sirenen ständig. Dennis hat Maria vom Anderson Shelter erzählt, einem Luftschutzunterstand aus verzinktem Wellblech, der während des Zweiten Weltkriegs bei Millionen von Briten im Garten stand, auch bei Dennis’ Eltern. Er war sechzehn Jahre alt, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, und irgendwann hatte Dennis genug vom Krieg und von den Einschränkungen. Einmal weigerte er sich, in den Shelter zu gehen, und in der gleichen Nacht schlug eine Bombe in sein Elternhaus. Dennis hatte grosses Glück. «Er wurde aus dem Bett geschleudert. Das Haus war kaputt, aber Dennis blieb unverletzt.»

Auch in Schaffhausen blieben am 1. April 1944 viele Menschen auf der Strasse, als die Sirenen gingen. Sie suchten den Himmel nach Fliegern ab. Guntmadingen ist sieben Kilometer von Schaffhausen entfernt, Maria erinnert sich an den Vormittag. «Wir waren auf dem Feld und holten Nüsslisalat, als wir plötzlich schwarzen Rauch aufsteigen sahen.» Fast vierhundert Bomben warfen die Flugzeuge der US-Luftwaffe über Schaffhausen ab, knapp vierzig Menschen starben, zahlreiche wurden verletzt. Die offizielle Erklärung lautete später, es habe sich um einen Navigationsfehler der US-Air-Force gehandelt.

Maria erzählt auch von den Flüchtlingen, die durch den Wald nach Guntmadingen kamen. Von dem Mann, den der Vater hinter der Telefonstange fand, als er abends die Pferde am Brunnen tränkte. «Es war ein Deutscher. Es ist ja nur eine halbe Stunde von der Grenze durch den Wald bis in unser Dorf.» Der Mann bat den Vater, er solle ihn nicht anzeigen, aber der Vater entgegnete, er müsse ihn melden. «Was sie danach mit ihm gemacht haben? Ich weiss es nicht.»

Auch ein einzelner Satz ist Maria in Erinnerung geblieben: «Räder müssen rollen für den Sieg – Kinderwagen für den nächsten Krieg» – das stand auf den Güterwagen der deutschen Züge, die in Guntmadingen vorbeifuhren.

Im Winter, wenn der Vater Holz hackte im Wald, kam jeweils der deutsche Grenzwächter herüber, setzte sich auf einen Baumstrunk und hielt einen Schwatz mit dem Vater. Als ob nichts wäre.

Dennis, sagt Maria, habe vieles verpasst wegen des Kriegs: «Der Krieg hat ein Stück seines Lebens weggenommen.» Manches, was für sie selbstverständlich war, hatte Dennis nie gelernt, nie erfahren. Dennis hatte zum Beispiel nie tanzen gelernt. Wenn Maria sich darüber wunderte, meinte er jeweils nur: «Es war halt Krieg.»

Dennis ist seit ein paar Wochen im Spital. Einmal läutet es an der Haustüre, ein Spezialstuhl wird geliefert – Maria bereitet sich auf seine Rückkehr vor. Dennis wird bald neunzig. Er hat verschiedene Beschwerden und wird, wenn er aus dem Spital kommt, nicht laufen können. «Aber das ist mir gleich. Wenn ich ihn nur zu Hause habe.»



Подняться наверх