Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 35

Durch den Hintereingang

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Als der englische Schriftsteller Samuel Butler im 19. Jahrhundert auf einer seiner Reisen in die benachbarte Leventina kam, stellte er erstaunt fest, dass es in dem abgelegenen Tal viele Kinder gab, die miteinander Englisch sprachen. Er fragte sich, weshalb, und fand heraus, dass die Eltern dieser Kinder aus der ­Leventina emigriert waren, weil sie keine Möglichkeit gehabt hatten, sich im Tal eine Existenz aufzubauen. Sie waren nach London gegangen und hatten in einem der vielen von Tessinern betriebenen Restaurants und Hotels gearbeitet. Nach ein paar Jahren schickten sie ihre Kinder nach Hause in die Obhut von Verwandten, während sie selber weiterhin in London den Lebensunterhalt verdienten.

Annetta wäre wohl kaum nach London gekommen, wenn sich nicht ihre Schwiegermutter Dora Diviani als Fünfzehnjährige auf der Suche nach Arbeit in die britische Hauptstadt aufgemacht hätte. Schon Doras Eltern waren aus Dangio nach London ausgewandert, wo Dora geboren wurde. Die Mutter kehrte mit ihr ins Bleniotal zurück, der Vater blieb in London als Portier in einem grossen Hotel. Als Dora dann selber nach London ging, arbeitete sie so viel, dass sie von der britischen Hauptstadt nichts anderes kannte als ihr Zimmer und das Hotel – und auch von diesem nur den Hintereingang. Einmal verirrte sie sich auf dem Weg zur Arbeit und fragte einen der Tessiner Marroniverkäufer, die in der Gegend arbeiteten, nach dem Hotel. Er führte sie zu einem Gebäude, aber Dora erkannte es nicht. Erst als der Marroniverkäufer sie auf die Rückseite führte, wusste Dora, dass sie am richtigen Ort war. Dienstboten durften nur den Hintereingang benutzen, und so kannte Dora das Hotel, in dem sie zwölf oder vierzehn Stunden täglich arbeitete, nur von der Rückseite.

Seit 1969 wohnt Annetta in einem weiss getünchten Haus in Dollis Hill, auf einem Hügel im Nordwesten von London. Von ihrem Wohnzimmer aus sieht Annetta auf die Stadt. An den Wänden hängen Aquarelle vom Familienhaus im Tessin und eine Farb­fotografie von Dangio, von der anderen Talseite aus aufgenommen. Auf dem kleinen Sofatisch liegt ein italienisches Buch – «Le terme di Acquarossa» – über die Thermalquelle im Bleniotal.

Annetta schaut oft zu den Fenstern hinaus, auch in der Nacht, auf die Lichter von London. Diese Weite und die Aussicht sind ihr wichtig. Sie erinnern sie an das Bleniotal. Auch Dangio liegt an einem Hang.



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