Читать книгу "Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England" - Simone Müller - Страница 37
Ein schreckliches Jahr
ОглавлениеAnnetta kannte Giuseppe Diviani schon vor jenem Sommer, in dem er sie fragte, ob sie nach England kommen wolle, allerdings nur flüchtig. Giuseppe, an der Oxford Street geboren und in London aufgewachsen, kam manchmal in den Ferien nach Dangio, in das Dorf, aus dem seine Mutter stammte. Als Giuseppe Annetta im Sommer 1954 nach England einlud, sagte Annetta sofort Ja. Im Frühling 1955 ging sie also nach London, mit dem Zug und dem Schiff. Zurück flog Annetta mit dem Flugzeug. Die Mutter hatte sich gewehrt: «No, no, no.» Sie wollte nicht, dass ihre Tochter in ein Flugzeug stieg. Aber Giuseppe hatte insistiert. «Die Flughäfen waren damals fast leer. Fliegen war schon noch ein ziemliches Abenteuer.» Im Sommer 1955 fuhr Annetta wieder nach London, wieder mit dem Zug, diesmal um zu heiraten. Eine Schwester und der Bruder begleiteten sie.
«Was für eine Tragödie!», sagt Annetta, wenn sie von dem Unfall spricht, der sich in Dangio wenige Tage vor ihrer Abreise ereignete. Zwei von Annettas Cousins wurden im August 1955 von einem Motorrad getötet. «Vor dem Abendessen gingen wir noch ein wenig spazieren, das war so üblich in Dangio», erzählt Annetta. Und das taten an jenem Abend auch ihre drei Cousins, als das Motorrad mit übersetzter Geschwindigkeit durchs Dorf raste. Der Lenker verlor die Kontrolle und fuhr in die drei Brüder; nur einer von ihnen überlebte. Am 15. August, wenige Tage nach der Beerdigung, ging Annetta nach London. Am 27. August heiratete sie Giuseppe Diviani.
«Was für eine Tragödie!», sagt Annetta auch, wenn sie von ihrem Schwager spricht, dem Mann von Giuseppes Schwester Linda. Eine Woche, nachdem Annetta und Giuseppe geheiratet hatten, brach der Schwager auf dem Tennisplatz zusammen. Freunde, die das Spiel verfolgten, meinten zuerst, er mache einen Witz. «He was a joker.» Einer, der gerne den Clown spielt. Aber der Schwager hatte diesmal keinen Witz gemacht; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Als Annetta schwanger wurde, freute sich Giuseppes verwitwete Schwester Linda, die selber keine Kinder hatte bekommen können. Immer wieder sagte sie zu Annetta, wie sehr sie sich freue. Ein paar Tage, bevor Annettas Kind zur Welt kam, hatte Linda einen Motorradunfall. Linda hatte den Roller selber gefahren und war sofort tot. Annetta brachte ein Mädchen zur Welt. Sie tauften es Linda.
«Was für Tragödien!», sagt Annetta, wenn sie von diesem Jahr spricht. Aber danach blieb das Unglück aus. Eine gute Ehe, «a very very good man», sei Giuseppe gewesen. Annetta lacht. Und fügt sogleich hinzu: «Eine Beziehung ist immer auch harte Arbeit.» Sie hat sich ganz auf ihre drei Kinder eingelassen, Linda, Stéphanie und Philip. «Ich wollte die Kinder, und ich wollte sie selber aufziehen.» Giuseppe verdiente als Optiker bei der Firma Carl Zeiss genug, um die Familie zu ernähren.
Giuseppe? Es gibt etwas, worüber Giuseppe nie gesprochen hat. Er sprach nie über den Krieg, über die vier oder fünf Jahre als Marinesoldat bei der britischen Navy. Giuseppe erzählte Annetta nur, es habe ihm gefallen: «He loved it.» Und dass er an allen möglichen Orten auf der Welt gewesen sei mit der Navy, in Russland zum Beispiel. Aber sonst erzählte Giuseppe nichts. Annetta hat das oft gehört von anderen Frauen in London, dass ihre Männer, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gewesen waren, später nie mehr darüber sprechen wollten. Nur etwas hat Giuseppe dann doch erzählt: Dass das Schiff, auf dem er im Einsatz war, einmal bombardiert wurde. Giuseppe blieb unverletzt. Aber viele seiner Kollegen, die über Monate hinweg mit ihm auf dem gleichen Schiff gewesen waren, starben.
Es gibt diese Briefe, die Giuseppe an seine Eltern geschrieben hat, während er bei der Marine war. Seine Mutter bewahrte sie auf, jetzt sind die Briefe bei Annetta. Sie hat sie alle gelesen, und sie hatte gehofft, etwas mehr über Giuseppes Zeit im Krieg zu erfahren. Aber Giuseppe berichtete auch seinen Eltern nicht, was er erlebte. Vielleicht seien die Briefe zensiert worden, meint Annetta. Oder Giuseppe konnte nicht über das schreiben, was er erlebt hatte. So wie er später nicht darüber sprechen konnte.