Читать книгу Blick der Veränderung - Simone Stöhr - Страница 6

Kapitel 4

Оглавление

Mittwoch, 06.08.2008, Wellington, 09:57 Uhr

Es war schon fast 10 Uhr stellte Mike erstaunt fest. So lange und so gut hatte er schon lange nicht mehr geschlafen. Martha war bestimmt schon seit früh morgens in der Küche, um ihm ein wunderbares Frühstück zu machen. Auch wenn er es nicht zugeben würde, so freute er sich doch, sie wieder zu sehen. Sie war die Einzige, die ihn schon immer verstand und am meisten von ihm wusste. Schon als Junge, wenn er seine Streiche spielte, schützte sie ihn vor den anderen und war zugleich ermahnend, als wäre sie eigene Mutter. Das hatte er ihr nie vergessen, weshalb sie auch die Einzige war, die von seinen Streichen verschont blieb. Eilig zog er seine Badehose an, um noch schnell eine Runde im Pool zu schwimmen, bevor er sich das leckere Frühstück von Martha schmecken ließ und ihr seine Schmutzwäsche übergab, die auf den Reisen angesammelt hatte. Am Pool war er überrascht, als er Isabella entdeckte, die bereits ihre Runden schwamm. Es war so ruhig im Haus, dass er dachte, dass alle ausgeflogen waren. Mike, der eigentlich der Einzige war, der sonst den Pool zum Schwimmen benutzte. Er schwamm voller Leidenschaft und hatte dem auch seinen muskulösen Oberkörper zu verdanken, den die Frauen so anziehend fanden. Ungewohnt zurückhaltend beobachtete er Isabella beim Schwimmen. Mit kräftigen Zügen glitt sie geschmeidig und schnell durch das kühle Nass. Ihre blonden Locken hingen nass an ihrem Kopf herunter und kringelten sich nur noch wenig. Er konnte ihrem Schwimmstil ansehen, dass sie regelmäßig schwamm, wenn auch nicht gerade in einem Bikini, was die blasseren Stellen an ihrem Körper verrieten, nachdem sie notgedrungen wegen der Kofferproblematik auf Lauras knappe Badekleidung übergehen musste. Nahe dem Höschen konnte er eine große Narbe ausmachen, die mit ihrem Badeanzug sonst sicherlich gut versteckt war, im Gegensatz zu Lauras knappen Bikini, der keinen Platz mehr für Kaschierungen bot. So gab auch das Oberteil mehr preis, als es verdeckte. Bei diesen Aussichten hatte er wirklich nichts dagegen, wenn ihr Koffer noch länger verschollen blieb.

„Guten Morgen, traust du dich nicht ins Wasser oder warum stehst du hier und beobachtest mich?“, sagte sie neckisch.

Mike fühlte sich ertappt. Er hatte nicht gemerkt, dass sie auf ihn aufmerksam geworden war.

„Guten Morgen. Ich dachte nicht, dass jemand hier wäre. Normal gehört mir der Pool alleine.“

„Kein Problem, ich will dich nicht stören. Ich bin sowieso schon fertig.“

„So war das nicht gemeint! Es hat mich nur gewundert, dass überhaupt jemand hier ist. Laura benutzt den Pool nur zum Sonnenbaden und ich dachte außerdem, dass sie schon ihr Vergnügungsprogramm für dich begonnen hat.“

„Gott sei Dank noch nicht! Bei ihr kam in der Agentur etwas dazwischen, weshalb ich noch Galgenfrist bis zum Nachmittag habe.“

„Unglaublich, dass sie dich mit mir alleine im Haus gelassen hat“, bemerkte Mike sarkastisch.

„Du wirst lachen, aber ich habe meine Belehrungen schon bekommen. Sie hatte mich verglichen mit Rotkäppchen und du warst der böse Wolf! Ich kam mir vor, wie mit meinen Kindern.“

„Ich kann ich mir gut vorstellen, dass ihre Beschreibung so aussah!“ bestätigte er ihr. Doch viel mehr war er überrascht über die Aussage der Kinder. Er hatte ihr noch keine Kinder zugetraut und warum war sie ohne sie verreist? Seiner Neugierde nachgebend fragte er nach.

„Du hast Kinder?“

„Nein, keine eigenen. Ich bin Erzieherin im Kindergarten und meine Kinder lieben so gerne die Märchen, vor allem eben Rotkäppchen. Macht es dir nichts aus, dass Laura so von dir denkt und spricht?“

„Nein, Laura ist sicherlich kein Maßstab für mich. Und wer weiß, vielleicht stimmt es ja auch?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du nur annähernd so bist. Und normal habe ich in diesen Dingen eine Ahnung.“

„Hast du gestern nicht noch gesagt, dass es dir schwer fällt mich einzuschätzen? Woher willst du jetzt wissen, dass Laura nicht recht hat?“

„Weil ich gestern einen winzig kleinen Einblick in deine Gefühle erleben durfte, als die Verlobung zur Sprache kam. Du hattest für einen kurzen Moment die Kontrolle verloren und nicht mehr deine undurchsichtige Rolle gespielt, die dich sonst dominiert“, erklärte sie ihre Meinung.

Mike erschrak innerlich. Wie konnte sie in so kurzer Zeit, so viel von ihm erfahren? Er war immer sehr kontrolliert und niemand kam hinter sein wahres Ich. Wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Wie fand sie so schnell von ihm heraus? Sicherlich nicht von Laura. Also woher?

„Gegenfrage, wovor hast du so viel Angst, dass du jetzt hier bist, obwohl du so eine panische Flugangst hast?“, drehte er den Spieß um, um von sich abzulenken.

Isabella erbleichte und die Traurigkeit vom Flughafen kehrte in ihren Blick zurück. Augenblicklich bereute er es, sie darauf angesprochen zu haben, aber er wollte auch nicht, dass er weiterhin das Thema war.

„Darüber will ich nicht reden!“

Und mit einem Satz war sie aus dem Wasser und ging schnellen Schrittes zu Lauras Bademantel, der über der Lehne des Stuhls hängte und verschwand ins Hausinnere. Mit einem Hechtsprung sprang Mike ins Wasser und durchquerte mit kräftigen Zügen schnell das Becken. Warum konnte nicht alles so einfach sein, wie schwimmen? Er tauchte unheimlich gerne ab und fühlte die Stille, die ihn umgab und zur Ruhe kommen ließ. Im Wasser fühlte er sich frei und unabhängig. Hier konnte er nur er selbst sein und musste niemandem etwas vorspielen. Nach 30 Bahnen, seinem täglichen Pensum, ging er zu seinen Sachen und musste wieder an Isabella denken. Warum wirkte sie so erschrocken, als er sie darauf ansprach? Es ging ihm einfach nicht aus dem Kopf, was sie so beschäftigte. Aber viel mehr beschäftigte ihn die Tatsache, dass sie in ihm zu lesen schien, wie in einem Buch und in seinem Kopf herum spukte. Vielleicht wäre es doch besser, wenn er schnell wieder seine Abreise plante. Er schlüpfte in seine Jeans, zog sich ein T-Shirt über und ging in die duftende Küche. Hoffentlich brachte ihn Martha auf andere Gedanken. Die liebevolle, kleine Martha strahlte, als sie ihn sah und lief ihm freudestrahlend entgegen. Sie drückte ihn erst an sich, zog ihn kurze Zeit später auf Armeslänge von sich, um ihn anschließend zu mustern. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Isabella aufstand und aus der Küche verschwand.

„Junge, du siehst viel zu mager aus. Bekommst du auf deinen Reisen nichts mehr Anständiges zu essen?“

„Doch, doch genügend. Aber nichts schmeckt so gut, wie bei dir“, schmeichelte er ihr.

„Na, das können wir sofort ändern. Was möchtest du essen?“

„Nichts geht über deine Pancakes mit Blaubeerfüllung und einer Tasse Kaffee. Dann bin im Himmel angekommen.“

„Oh, du Charmeur. Du weißt immer noch, wie man einer alten Frau eine Freude macht“, lachte Martha.

„Wer redet hier von einer alten Frau? Du siehst so bildhübsch wie eh und je aus. Das Alter kann dir doch nichts anhaben!“

Martha kicherte wie ein kleines Mädchen und machte sich an die Zubereitung der Pancakes. Sie war wirklich um einiges gealtert, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie musste jetzt 66 Jahre alt sein. Genau wusste das niemand der Carringtons, denn sie hütete ihr Alter wie ein Staatsgeheimnis. Mehrere graue Strähnen durchschlichen ihr blondes Haar und einige Falten mehr, als das letzte Mal, hatten sich um ihre Augen und Mundwinkel gebildet. Auch an Gewicht hatte sie etwas zugelegt und hatte ihre kleine, pummelige Figur verstärkt. Aber nichts desto trotz, strahlte sie nach wie vor Anmut, Liebenswürdigkeit und Stärke aus, die sie immer noch attraktiv machte.

„Und hast du eine nette Frau für dich gefunden?“

„Nein, sonst wäre ich wohl sicher nicht alleine hier.“

„Wie willst du denn jemals eine Familie gründen, wenn du dich nicht langsam mal, um eine ernsthafte Beziehung bemühst? Gönnst du mir denn keine Kinder mehr, die ich verziehen darf?“

„Martha, ich verstehe überhaupt nicht, warum du diese Frage nicht deiner Tochter stellst. Außerdem habe ich noch genügend Zeit für Kinder.“

„Was heißt hier genügend Zeit? Du wirst bald 35! Ich habe Catherine mit 24 Jahren bekommen. Das ist das richtige Alter für Kinder!“

„Zeiten ändern sich, Martha. Heutzutage muss man sich erst etwas aufbauen, bevor man eine Familie gründet. Auch die Frauen wollen keine Hausmütterchen mehr werden, sondern werden Karrierefrauen. Wie geht es Catherine überhaupt? Hast du wieder mal etwas von ihr gehört?“

Catherine war ein eigenes Thema, seit sie sich für ein Leben auf der Straße und mit Drogen ausgesucht hatte. Trotz aller Bemühungen, seitens Marthas und ihres Mannes, wollte sie einfach nicht zurückkommen. Das war für Martha ein schwerer Schlag und sie sprach nicht gerne über sie.

„Seit einem halben Jahr nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, ob sie noch lebt.“

Mike merkte, dass ihr die Tränen in den Augen standen und stand vom Thekenhocker auf, um sie tröstend in die Arme zu nehmen.

„Ich weiß einfach nicht was ich ihr getan habe, dass sie mich so aus ihrem Leben ausgrenzt. Ich bin doch ihre Mutter! Warum will sie lieber auf der Straße leben, als bei mir und Peter?“

„Martha, das hat nichts mit dir zu tun, sondern mit den Drogen, die sie nimmt. Die Drogen haben sie verändert und lassen sie nicht klar denken. Sie hat sich da selbst hineinmanövriert und kann und will jetzt eben nicht mehr heraus. Aber ich denke, im Grunde schämt sie sich dafür und will daher nicht, dass du sie so siehst. Und letztlich hält ihre Sucht sie im Schacht. Sie kann nicht aufhören und bei dir würde sie nichts bekommen, das weiß sie.“

„Sie wirft ihr Leben weg und meines gleich mit dazu. Peter hatte vor einigen Wochen einen Herzinfarkt bekommen, als er mitbekam, dass sie sich für Drogen prostituierte. Seit Wochen ist er im Krankenhaus ein gebrochener Mann und wird oder will einfach nicht mehr gesund werden. In seiner Phantasie ist sie immer noch sein kleines Mädchen, dass er sich zurückwünscht. Warum hat sie nicht einen anständigen Kerl, wie dich kriegen können?“

„Ach Martha, ich bin auch kein Engel und habe meine Macken.“

„Aber keine Macken, mit denen man nicht klar kommen könnte.“

„Genau, weil du genau weißt, dass ich deinem Charme einfach nicht widerstehen kann.“

„Lass uns lieber das Thema wechseln. Es bricht mir das Herz über Catherine nachzudenken. Wo warst du überall die letzte Zeit?“

„New York, Miami, Rom, Paris, London und zur guter Letzt noch in Philadelphia.”

“Man sollte meinen, so oft wie du herum kommst, dass dir auch mal eine anständige Frau über den Weg läuft. Aber ich glaube eher, dass du nie lange genug an einem Ort bist, um eine Frau an dich heran zu lassen. Wie lange hast du überhaupt vor hier zu bleiben?“

„Weiß ich noch nicht. Ich habe noch keine weiteren Reisen geplant, aber du weißt ja, ein Flug ist schnell gebucht. Mal sehen wie lange William und Laura mich ertragen, bevor sie mich rausschmeißen!“

„Ärgerst du Laura immer noch?“

„Warum hacken eigentlich immer alle auf mir herum? Sie ist auch kein Unschuldslamm.“

„Weil du damit anfängst! Das weißt du ganz genau. Finde endlich eine Frau, die zu dir passt, dann musst du auf das Glück deines Bruders nicht immer eifersüchtig sein!“

„Wer sagt, dass ich eifersüchtig bin? Ich kann Laura einfach nur nicht leiden, das ist alles.“

„Das ist totaler Blödsinn und das weißt du! Im Grunde deines Herzens magst du sie, doch du kannst es einfach nicht ertragen, dass William mit Laura glücklich ist und du dieses Glück eben nicht hast. Du hast schon als Kind William nichts gegönnt und hast dir sofort eine Gemeinheit einfallen lassen, damit du es ihm madig machen konntest. Und das ist auch heute noch so! Streite es bloß nicht ab! Nur hast du einfach nicht damit gerechnet, dass Laura zäh ist und nicht so schnell aufgibt. Das ist auch gut so! Ich bin froh, dass er sie gefunden hat. Sie gibt ihm den notwendigen Ausgleich zum Druck und der großen Verantwortung, die er mit den Hotels hat.“

„Er hat sich den Stress doch selbst ausgesucht. Keiner hat gesagt, dass er die Leitung übernehmen muss!“

„Michael Carrington, führe dich nicht auf, wie ein kleines Kind! Du weißt sehr wohl, von was ich rede. Gerne hätte dein Vater dich mehr in die Firma eingebunden, aber das wolltest du nie. Fang bloß nicht an, jetzt den Beleidigten zu spielen. In deiner Familie standen und stehen dir immer noch alle Türen offen. Wenn du mehr Verantwortung übernehmen willst, beweise dass du es willst und William wird dich sicherlich unterstützen.“

Martha konnte er einfach nichts vormachen. Sie kannte ihn viel zu lange schon und viel zu gut. Gerade, weil sie für ihn immer ein guter Ratgeber und Gesprächspartner war.

„Wusstest du, dass die beiden heiraten wollen?“

„Ja, William hat mich gestern ganz stolz angerufen und gefragt, ob ich Laura bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen würde. Ich freue mich für ihn und das solltest du auch tun. Also versprech mir, dass du Laura in Ruhe lässt!“

„Das machst du absichtlich. Du weißt genau, dass ich dir keine Wünsche abschlagen kann.“

„Umso besser! Immerhin hat sie dich heute früh in den größten Tönen gelobt. Sie war so glücklich darüber, dass du ihre Cousine mitgebracht hattest. Das bedeutet ihr sehr viel und ist immerhin ein guter Grund das Kriegsbeil endlich zu begraben. Also verwirke dir diese Chance nicht wieder!“

„Ich werde mich bemühen“, räumte Mike ein.

Der Pancake war fertig und Martha legte ihn liebevoll auf einen Teller und bedeckte ihn mit einer dicken Schicht Puderzucker, dass Mike das Wasser im Mund zusammenlief.

„Da hat der Zufall wieder mal gewaltig zugeschlagen. Wie heißt sie eigentlich und wie hast du sie kennengelernt?“

„Ihr Name ist Isabella. Und Zufall war das wirklich. Du glaubst gar nicht, wie perplex ich gestern dastand, als alle einander zu kennen schienen und ich wusste nicht warum. Ich hatte mit viel gerechnet, aber nicht, dass ich Lauras Cousine mitbringen würde. Angefangen hatte die ganze Sache damit, dass sie im Flug von Philadelphia nach Boston neben mir saß.“

Die Tatsache, dass er sie schon im Café bemerkte, war eine Tatsache, die lieber für sich behielt.

„Sie war sehr verkrampft aufgrund ihrer Flugangst, so dass ich sie in ein Gespräch verwickelte, damit sie neben mir nicht ausrastete. Dabei hatte sich dann herausgestellt, dass sie fast kein Englisch spricht und Deutsche ist. Sie erzählte mir, dass sie ihre Cousine besuchen wollte, aber den gebuchten Anschlussflug verpasst hatte. Daher vermutete sie, dass sie wahrscheinlich nicht abgeholt werden würde. Als ihr dann bei der Gepäckausgabe auch noch der Koffer abhanden gekommen war und sie nicht wusste wo sie hinsollte, habe ich ihr angeboten, vorerst zu uns zu kommen, bis das mit dem Koffer geklärt war. Und dann kamen wir hier an und Willi bekam einen Lachanfall und Laura fiel mir um den Hals und rannte wie ein verrücktes Huhn herum.“

„Ich weiß, dass du ein guter Junge bist. Aber warum hattest du sie mit hierher genommen? Ich hätte dir eher noch zugetraut, dass du sie aus Mitleid im Hotel untergebracht hättest. Aber mit nach Wellington nehmen ist doch sonst nicht deine Art.“

Wieder diese ungläubigen Fragen nach seinem Handeln. Warum musste jeder noch in seinen Wunden bohren, wenn er doch selbst nicht aus dem ganzen schlau wurde?

„Ich kann es dir nicht sagen. Ich weiß es selber nicht. An sich war es reiner Blödsinn, aber dafür ist es jetzt auch schon zu spät.“

„Verstehe!“

„Was heißt hier verstehe? Ich verstehe es ja selber nicht. Was weißt du schon wieder, was ich nicht weiß?“

„Das wirst du noch früh genug selbst herausfinden.“

„Typisch Martha! Immer mystische Andeutungen machen und keine Erklärungen dazu. Also kann ich mir weitere Fragen sparen.“

„Genau. Kommt Zeit. Kommt Rat.“

Damit war für Martha das Gespräch beendet und sie ging nach draußen. Mike aß seinen Pancake zu Ende und ging auf die Terrasse hinaus. Strahlender Sonnenschein begrüßte ihn und lies seine gute Laune steigen. Auf der Sonnenliege nahe der Treppe entdeckte er Isabella. Auf die Seite gedreht, las sie vertieft ein Buch und bemerkte ihn nicht.

„Bella, es tut mir leid, wegen vorhin. Ich wollte dich nicht verletzen. Kannst du mir verzeihen?“

Isabella schaute erstaunt von ihrem Buch auf.

„Ich bin dir nicht böse. Ich war nur erschrocken, darüber, dass du darüber Bescheid weißt. Ich hatte Laura gebeten, es für sich zu behalten.“

„Was heißt ihr, dass ich Bescheid weiß? Ehrlich gesagt, hat mir William nur erzählt, dass dein Mann dich betrogen hat. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles gewesen ist. Ich habe dich im Flugzeug erlebt und glaube nicht, dass du freiwillig fliegen würdest, wenn du nicht dem Teufel entkommen wolltest.“

„Wie kommst du denn darauf? So schlimm war es gar nicht zu fliegen.“

„Isabella, ich fliege viel und habe schon viele Leute neben mir erlebt. Aber keine hatte sich je so verkrampft wie du. Was glaubst du, warum ich mit dir reden wollte?“

„Also war deine größte Sorge, dass ich mich auf dich übergeben könnte oder ausflippe, wenn du mich nicht beruhigst“ reagierte Isabella sauer.

„So war das nicht gemeint“, versuchte Mike sich zu rechtfertigen, aber sie stand schon auf und ging ins Haus. Warum flüchtete sie jedes Mal, wenn er nur versuchte mit ihr zu reden? Selbst wütend ging er hinter ihr her.

„Was fällt dir eigentlich ein, dass du mir immer davon rennst, wenn ich mit dir rede? Hat man dir noch nicht gesagt, dass das unhöflich ist?“

„Ich wüsste nicht, dass wir noch was zu besprechen hätten.“

„Und warum willst du dann meine Frage nicht beantworten?“

„Ich glaube nicht, dass du der richtige Ansprechpartner dafür bist.“

„Sagt wer? Laura?“

„Nein, ich. Deine Ansichten kenne ich bereits.“

„Ich weiß ja nicht welche Flöhe dir Laura ins Ohr gesetzt hat, aber das ist jetzt echt zu viel. Ich hätte dich echt am Flughafen stehen lassen sollen!“, beschimpfte er sie.

„Ja, warum hast du das eigentlich nicht? Würde ja viel besser zu deinem Wesen passen, wie mir alle sagen!“

Jetzt fing sie auch noch an. Warum hakte jeder auf diesem Punkt herum?

„Woher willst ausgerechnet du wissen, wie ich bin? Das ist mir jetzt echt zu viel. Du hattest Recht, es gibt nichts mehr zu sagen!“ Mike drehte sich um und ging durch die Terrassentür zurück in die Küche.

„Dann sind wir uns ja einig“, rief ihm Isabella noch trotzig nach.

Wütend stampfte er wieder hinein.

„Die spinnt doch total“, sprach er laut vor sich hin als Martha um die Ecke bog.

„Wer spinnt? Ich hoffe, doch nicht ich?“

„Nein, Martha. Du doch nicht. Isabella spinnt. Mit der ist einfach kein normales Gespräch möglich, ohne dass sie eingeschnappt ist oder davon läuft.“

„Glaube ich nicht. Ich denke eher, du hast sie auf dem falschen Fuß erwischt. Aber das kannst du beim Mittagessen nachholen!“, lachte sie.

„Wieso beim Mittag essen?“

„Ganz einfach, weil ich Peter im Krankenhaus besuche und sie hier alleine und fremd ist. Also wirst du sie zum Essen ausführen, wie es sich für einen Carrington gehört.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Doch und ich dulde keine Wiederrede. Laura hat angerufen, sie kommt erst gegen Abend wieder und du hast Isabella hierher gebracht, also kümmerst du dich auch um sie.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Du wiederholst dich. Wäre sie nicht Lauras Cousine, müsstest du dich jetzt auch um sie kümmern, also zeig ihr ein bisschen die Stadt und gehe dann mit ihr Essen. Ich gehe jetzt und komme später wieder zum Abendessen. Und wehe, ich höre Klagen über dich!“

„Du führst dich auf, wie meine Mutter. Manchmal frage ich mich wirklich, WER meine Mutter ist! Aber ist gut, ich frage sie, aber wenn sie nicht will, kann ich nichts dafür.“

„Dann streng dich ein bisschen an, dass sie will! Bis später.“

Martha streckte sich nach oben, gab ihm ein Küsschen auf die Wange und verschwand durch die Tür. Mike stand wie angewurzelt stehen. Langsam fing alles an aus dem Ruder zu laufen. Martha kommandierte ihn herum und er selbst wusste nicht mehr, was er tat. Sein Charme, der hunderte von Frauen beeindruckte, biss bei Isabella auf Granit und gleichzeitig brachte sie ihn völlig durcheinander. Und jetzt sollte er auch noch den Fremdenführer spielen und sie zum Essen einladen. Manchmal verlangte Martha einfach zu viel von ihm. Er würde sie einmal fragen, aber nicht mehr. Am besten gleich sofort, dann hätte er es hinter sich. Wenn sie nicht wollte, war es nicht sein Problem! Er ging hoch zu den Schlafzimmern. Das war immerhin die Richtung, die sie einschlug, als sie vorhin an ihm vorbeirannte. Er klopfte zaghaft an ihre Zimmertür. Keine Reaktion. Sicherheitshalber wollte er nachsehen und drückte die Klinke herunter, doch die Tür war verschlossen. Wieder klopfte er an und wartete, doch wieder war nichts zu hören. Das wird ja immer schöner. Wütend stampfte er in sein Zimmer und ging durch die Badezimmertür in Isabellas Zimmer. Normalerweise respektierte er die Privatsphäre anderer, aber dass sie ihn einfach so klopfen ließ und keine Reaktion von sich gab, wie ein bockiges, kleines Kind, machte ihn nur noch wütender und das wollte er ihr sagen in aller Deutlichkeit und das sofort. Er riss die Verbindungstür des Badezimmers auf und ging direkt zu ihr ins Zimmer. Isabella saß erschrocken auf dem Bett und die Tränen liefen ihr über die Wangen. In ihren Augen sah er die Traurigkeit, die ihn schon von Anfang an, an ihr aufgefallen war. Mike tat sein Überfall sofort leid und dennoch fragte er sich was der Auslöser dafür war. Weinte sie wegen seiner Provokation?

„Ich wollte dich nicht stören, aber du hast nicht reagiert, als ich klopfte“, versuchte er vorsichtig seinen Überfall zu erklären.

„Das liegt vielleicht daran, dass ich nicht gestört werden wollte“, antwortete sie resigniert und drehte sich von ihm weg auf die andere Seite des Bettes.

„Ich wollte dir nur kurz mitteilen, dass Laura angerufen hat und erst gegen Abend zurückkommt. Es gab wohl einige Probleme in der Agentur. Und Martha hat mir gerade gesagt, dass sie erst abends wieder kommt. Das heißt, es gibt nichts zu Mittagessen.“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Das macht doch keinen Sinn! Willst du dich jetzt den ganzen Tag hier einsperren?“

Sie antwortete ihm nicht und Mike stand ratlos da und schaute ihren Rücken an. So kam er nicht an sie heran. Er beschloss, auch auf die Gefahr hin, dass sie erst recht sauer auf ihn sein würde, ihr seine Meinung zu sagen. Mit wenigen Schritten hatte er das Bett umrundet und kniete sich zu ihr auf Augenhöhe hinunter.

„Es tut mir leid, dass ich hereingeplatzt bin und dich gestört habe. Und es tut mir auch leid, dass ich dich nach etwas gefragt habe, über das du nicht reden willst, aber ich finde es nicht gut, wenn du dir für einen Trottel die Augen ausheulst. Das kann er gar nicht wert sein.“

Sie reagierte immer noch nicht darauf und sah ihn noch nicht einmal an. Wie konnte man nur so stur sein?

„Würdest du zumindest mit mir reden und mich dabei bitte ansehen?“

Sie drehte ihren Kopf und sah ihn an.

„Was willst du von mir?“ fragte sie schließlich.

„Ich möchte, dass du mich zum Essen begleitest.“

„Ich glaube nicht, dass ich eine unterhaltsame Begleitung wäre.“

„Das macht nichts. Beim Essen muss man nicht unbedingt reden. Das Wort „essen“ sagt schon die ausschlaggebende Tätigkeit, die dabei im Vordergrund steht.“

„Mike, es ist lieb von dir gemeint, aber ich möchte wirklich nicht weggehen. Kannst du mich bitte einfach hier lassen. Ich bin groß genug und komme alleine zurecht.“

„Nein, kann ich nicht. Du hast 30 Minuten Zeit dich fertig zu machen, dann fahren wir.“

„Und wenn ich nicht will?“

„Dann packe ich dich einfach so wie du jetzt bist ein und nehme dich mit. Die Entscheidung liegt bei dir!“

„Das wirst du nicht wagen.“

„Oh meine Liebe. Ich glaube Laura hat dich noch nicht genug über mich aufgeklärt, zu was ich alles in der Lage bin!“

Ehe sie noch etwas sagen konnte, war er bereits durchs Badezimmer in sein Zimmer verschwunden. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie sah seine entschlossenen Augen und wusste, dass er es ernst meinte. Also raffte sie sich notgedrungen auf und ging ins Badezimmer. Im Spiegel schauten ihr dunkle Augenringe entgegen und kleine Falten, die sich um ihre Augen zogen. Ralf, ihr Mann, fand, dass die Falten nur ein Beweis dafür waren, dass sie den Menschen oft ein Lächeln schenkte. Ein Lächeln hatte sie in letzter Zeit nicht zu verschenken und trotzdem bildeten sich tiefe Furchen in den Falten und ließen sie weit älter wie 28 Jahre aussehen. Es hatte sie weit mehr mitgenommen, als sie es sich eingestehen würde. Da würde auch das beste Makeup aus Lauras Repertoire nicht mehr helfen, um die Spuren zu beseitigen. Wo wollte Mike überhaupt mit ihr hin? Und was sollte sie dazu anziehen? Immerhin stand nur Lauras Kleiderschrank zur Verfügung, dessen Inhalt an ihr immer viel zu knapp saß. Sie fühlte sich mehr als nur unwohl darin und war nicht gerade erpicht darauf von vielen Menschen gesehen zu werden. Sie ging in Lauras Zimmer und öffnete den Kleiderschrank. Unmengen an Kleidern hingen auf Bügeln, lagen in Fächern oder waren in Schubladen verstaut. Isabellas kompletter Kleiderschrank betrug höchstens ein Viertel dessen, was Laura nur in einem ihrer zwei Kleiderschränke verstaut hatte. Sie stöberte etwas und entschied sich dann für Blue Jeans, die wie immer bei ihr viel zu eng saßen und einen einfachen roten Sommerpulli mit V-Ausschnitt, der viel Sicht auf ihr Dekolletee freigab. Um sich mehr heraus zu putzen hatte sie weder die Zeit noch Lust dazu. Sie ging die Treppe hinab und sah Mike schon ungeduldig warten.

„Ich dachte schon, ich muss dich wirklich herunterholen!“

„Wohin gehen wir überhaupt?“ fragte sie ihn sicherheitshalber. Unpassend war sie nicht gekleidet, wenn man ihn als Maßstab nahm. Er trug seine Jeans von vorhin und hatte sein T-Shirt gegen ein Freizeithemd ausgetauscht.

„Lass dich überraschen!“ sagte er geheimnisvoll und komplett ausgewechselt, zu eben noch.

Ohne auf einen weiteren Kommentar zu warten, ging er zur Tür hinaus und öffnete die Beifahrertür eines silbernen BMW Cabrios und ließ Isabella einsteigen. Mike schloss die Tür, umrundete das Fahrzeug und stieg selbst ein. Sekunden später waren sie auch schon unterwegs. Isabella sog die Umgebung in sich auf. In der gestrigen Nacht, als sie ankamen, war es zu dunkel, als dass sie viel sehen hätte können. Jetzt dagegen beobachtete sie die Allee, die sie entlang fuhren und die Häuser, die sich dahinter verbargen. Die Architektur weichte sehr von ihrem gewohnten Bild ab. Sie versuchte im schnellen vorbeifahren die offensichtlichen Unterschiede zu benennen. Am Offensichtlichsten waren die Häuserfronten, die hier oft mit Holz verkleidet wurde, im Gegensatz zum Putz, den jedes Haus in Dorfstetten hatte. Doch am meisten fiel Isabella das Landschaftsbild auf, das fast ausschließlich durch Bauten geprägt war. Die vielen freien Flächen, auf denen auch Weidetiere zu finden waren, sowie auch Wälder und Felder, die ihre Heimat ausmachten, fehlten hier komplett. Es gab hier nichts anderes als aneinandergereihte Häuser und Gebäudekomplexe, die nur das Grün ihrer eigenen, kleinen Gärten hatten, wenn überhaupt. Isabella vermisste jetzt schon ihren Berg und den See, indem sie so oft es ging, schwimmen ging. Sie liebte die Natur über alles, doch konnte sie hier nicht viel davon entdecken. Mike parkte auf einem öffentlichen Parkplatz, der von vielen Autos bereits besetzt war und stieg aus.

„Jetzt lernst du die erste Lektion in Boston. Und zwar die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.“

Skeptisch schaute Isabella ihn an. Sie bereute es immer noch, dass sie sich nicht einfach geweigert hatte, mitzugehen.

„Schau nicht so skeptisch. U-Bahnen gibt es in Deutschland auch. Das wichtigste, was du wissen musst, ist, dass es 5 verschiedene T- Linien gibt. Um sie für alle zu vereinfachen wurden sie nach Farben benannt. Also Red – Line, Orange – Line, Green – Line, Blue – Line und Silver - Line. Dabei gibt es mehrere Knotenpunkte, um zwischen den Linien wechseln zu können. Jede Fahrbahn ist mit der jeweiligen Farbe gekennzeichnet und die Bahnen auch. Verstanden?“

„Ja und was willst du mir jetzt damit sagen? Ich weiß doch noch nicht einmal wo es hingeht!“

„Das erfährst du noch früh genug. Also wir fahren jetzt erst mit der Orange-Line und wechseln dann zur Green-Line. Den gleichen Weg kannst du zurück nehmen, falls du meine Anwesenheit später satt haben solltest.“

„Wenn du schon selbst damit rechnest, dass ich nicht alleine zurückgehen werde, dann spare ich mir wohl besser die Fahrt und gehe gleich wieder zurück!“

„So war das nicht gemeint. Ich wollte dir nur zeigen, wie du in der Stadt alleine klar kommst. Und das ist mit der T-Bahn am leichtesten umzusetzen, wenn man einmal das System verstanden hat.“

„Ich denke nicht, dass Boston zu meiner Lieblingsreiseroute wird, weshalb ich auch nicht die Stadt alleine erkunden muss. Aber wenn es dich beruhigt, werde ich es mir trotzdem merken.“

Die Fahrt verlief ziemlich einsilbig. Mike erklärte ihr, welche Sehenswürdigkeiten es in Boston gab. Sie dagegen hörte ihn reden, aber sie nahm ihn nicht wahr. Die Informationen kamen einfach nicht in ihrem Gehirn an. In ihren Gedanken war sie abgeschweift zu Ralf. An der North Station zog er sie aus der T und wechselte mit ihr auf die Green Line. Drei Haltestationen später, zog er sie erneut aus der T und verließ mit ihr die T-Station.

„Hast du etwas Lust spazieren zu gehen? Ungefähr 500 Meter geradeaus durch den Park ist unser Ziel.“

„Bei dem schönen Wetter keine schlechte Idee. Ich wusste gar nicht, dass es so einen großen Park hier gibt.“

„Das ist der berühmte Public Garden. Erholungsfleck für die gestressten Städter.“

Sie gingen ein Stück nebeneinander her, als Mike genau das aussprach, was ihn bei ihr am meisten beschäftigte.

„Warum bist du so, wie du bist?“

„Die meisten Theorien der Pädagogik sagen, dass jeder Mensch ein Teil Vererbung und ein Teil Erziehung und Umwelteinflüsse ist. Sie streiten sich nur darum, wie die Verteilung ist. Folglich bin ich so, weil ich das Kind meiner Eltern bin und sie und meine Umwelt mich erziehen und prägen“, belehrte sie ihn altklug.

„Danke für die Belehrungen, aber das habe ich nicht gemeint“, sagte er wieder sarkastisch. „Ich meinte viel mehr dein Denken und Handeln. Es ist nicht vorausschaubar. Ich könnte dir wahrscheinlich zehn Fragen stellen und würde bei jeder wieder überrascht sein von deiner Antwort.“

„Welche zehn Fragen würdest du wissen wollen?“ fragte sie nach und überraschte ihn ein weiteres Mal.

„Wie schon gesagt, wundert mich am meisten, warum du dich selbst so fertig machst, wegen deinem Mann. Was steckt dahinter?“

„Darauf will ich nicht antworten. Was willst du noch wissen?“ antwortete sie ruhig und achtete darauf nicht wieder vom Trübsal eingehüllt zu werden.

„Was nützt es mir, wenn ich dich alles frage und du trotzdem immer antwortest `darauf will ich nicht antworten´? Dann kann ich mir die Fragen doch sparen!“

„Stimmt. Ich habe einen anderen Vorschlag für dich, der etwas interessanter ist. Kennst du das Spiel ´Wahrheit oder Pflicht?´“

„Nein, was soll das sein?“, sagte er wahrheitsgemäß. Er wusste nicht Recht, worauf sie hinaus wollte.

„Es ist ganz einfach. Du darfst eine Frage stellen, die kann ich entweder wahrheitsgemäß beantworten und wenn ich das nicht will, dann entscheide ich mich für eine Pflicht. Meistens besteht die Pflichtaufgabe aus irgendwelchen Peinlichkeiten, die verhindern sollen, dass man die Wahrheit abwählt. Einverstanden?“

„Klingt gut, aber wo ist der Haken?“

„Nicht nur du stellst die Fragen, sondern wir abwechselnd.“

„Hätte ich mir auch denken können, aber macht mir nichts aus. Willst du anfangen?“

„Gerne, aber zum aufwärmen sind die ersten Fragen einfach. Das heißt sie werden nicht zu persönlich und betreffen nur allgemeine Sachen, wie zum Beispiel Sternzeichen, Lieblingsfarbe und so.“

„Gut einverstanden. Aber nach ungefähr 5 Fragen dürften wir die Aufwärmphase abgeschlossen haben, oder?“

„Meinetwegen. Ich fange an. Wie alt bist du?“ begann Isabella mit dem Fragespiel.

„Ich dachte wir fangen einfach an, hast du gesagt!“

„Mike, das ist nur dein Alter und kein Staatsgeheimnis“ lachte Isabella. „Du wirst doch kein Problem mit deinem Alter haben, oder?“

„Das sind aber schon zwei Fragen. Na gut, ich bin 34“, sagte Mike kleinlaut und fast nicht zu hören.

„Wie bitte, ich kann dich nicht hören?“ neckte Isabella ihn und lachte dabei.

„34! Bist du jetzt glücklich?“

„Ja, danke der Nachfrage. Welches Sternzeichen bist du?“

„Hey, ich war dran mit dem Fragen stellen!“ bemerkte Mike ärgerlich, wie Laura die Regeln umging.

„Stimmt doch gar nicht. Du hattest mich gefragt, ob ich glücklich bin. Das war auch eine Frage und ich habe geantwortet!“

„Du spielst wirklich unfair, aber das merke ich mir!“ und Mike hatte eine Hinterhältigkeit im Blick, die Isabella belustigend fand. Es war immer wieder schön zu sehen, wie sehr Männer zu Kindern wurden, wenn es ums spielen ging.

„Ein Spiel macht doch immer erst richtig Spaß, wenn man es beherrscht und zu spielen weiß“, grinste Isabella zurück. „Also welches Sternzeichen bist du?“

„Schütze. Wie alt bist du?“

„28 und ich habe kein Problem damit. Ich habe dir hiermit sogar eine Frage geschenkt.“

„Dir sieht man die 28 Jahre auch noch nicht an, da lässt es sich leicht reden“, unterbrach er sie.

„Was machst du beruflich?“ fragte sie weiter.

„Ich fliege die Hotels meines Vaters ab und sehe nach dem Rechten. Wie lange bist du mit deinem Mann schon zusammen?“

„8 Jahre und 5 Jahre davon verheiratet. Wie lange war deine längste Beziehung?“

„Interessiert dich sowas wirklich?“

„Schon, sonst würde ich dich doch nicht fragen. Also eine Antwort?“

„Mit deiner Dauerbeziehung und Ehe kann ich nicht mithalten, aber wenn ich mich so zurück erinnere, war die längste Beziehung wohl mit Stacy ungefähr ein halbes Jahr. Warum ist für dich die Länge einer Beziehung entscheidend?“

„Am Anfang ist immer alles aufregend und neu. In dieser Zeit gibt es selten Probleme oder Schwierigkeiten. Die Probleme treten später erst auf. Wenn Menschen nie lange Beziehungen haben, können Sie entweder Konflikte nicht ertragen und gehen diesen besser aus dem Weg oder sie wollen nicht, dass andere auch ihre Schwächen kennenlernen. Es sagt viel über einen Charakter aus, wenn man sich grundsätzlich nicht längerfristig an einen anderen Menschen binden möchte. Warum kannst du dich noch an die Beziehung mit Stacy erinnern?“

„Willst du mich jetzt psychologisch analysieren?“

„Nein, es interessiert mich eben nur. Also warum kannst du dich ausgerechnet an sie noch so gut erinnern?“

„An Stacy kann ich mich deshalb noch so gut erinnern, weil sie die erste war. Und ich denke, egal wie viele man im Laufe des Lebens hatte, die erste bleibt wohl immer in der Erinnerung. Wo fühlst du dich am wohlsten?“

„Im Wasser. Wenn ich schwimme, kann ich vieles ausblenden und zur Ruhe kommen. Ich bin dann nur ich selbst und kann mich frei fühlen.“

Es war unglaublich. Das war genau das gleiche, das auch er empfand.

„Mit wie viele Frauen hattest du schon etwas?“

„Irgendwas zwischen 50 und 100 schätze ich. Ich habe aufgehört zu zählen.“

Das beeindruckte sie wirklich! Sie wusste von Laura, dass Mike ständig und überall jemanden haben sollte. Doch sie nahm es nicht so ernst. Seine Aussage dagegen warf ein ganz anderes Licht darauf.

„Warum?“ fragte sie neugierig.

„Nein, nein, nein. Du bist gerade nicht dran zu fragen! Wie viele Männer hattest du denn bisher?“

„Einen. Warum waren es so viele Frauen?“

„Nur einen. Du hast den erstbesten einfach geheiratet ohne zu wissen, was noch kommt?“, fragte er erstaunt.

Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er selbst wäre nie in der Lage gewesen, die erste Frau, in diesem Fall Stacy, heiraten zu können. Er war selbst jetzt noch nicht in der Lage, sich für eine Frau festlegen zu können. Wie konnte sie es also schon mit 20 Jahren tun?

„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Warum waren es so viele Frauen?“

„Warum interessiert dich sowas überhaupt?“

„Willst du etwa kneifen? Ich will nur eine Theorie von Laura überprüfen?“

Sie musste sich schon zusammenreißen, dass sie nicht laut losprustete. Aber ein Grinsen konnte sie dennoch nicht verbergen, wenn sie an Lauras Theorie dachte.

„Was hat sie denn dieses Mal wieder über mich erzählt?“

„Das willst du nicht wissen!“ wiegelte sie ab.

„Und ob ich das wissen will, wenn du schon so darüber lachen kannst.“

„Aber du weißt es nicht von mir! Laura hatte mir heute Morgen schon eindringlich erzählt, dass ich mich von dir fernhalten soll. Auf den Punkt gebracht, war ihre Erklärung, dass du so schlecht im Bett bist, dass es keine Frau ein zweites Mal auf sich nehmen will. Du musst schon sagen, dass das auch eine mögliche Erklärung sein könnte, oder?“ Isabella brach in herzhaftes Gelächter aus, als sie sein Gesicht sah.

„Du kannst dich gerne jederzeit vom Gegenteil überzeugen, wenn du dich traust.“ forderte er Isabella heraus. „Es hat aber eher damit zu tun, dass ich viel unterwegs bin und gar keine Zeit für eine feste Beziehung habe. Du warst also 20 Jahre, als du deinen Mann kennengelernt hattest. Hattest du vorher nichts mit anderen Jungs gehabt?“

„Nein. Falls du darauf anspielst – ich war 22 Jahre alt, als ich entjungfert wurde. Da du so schockiert aussiehst, wann hattest du denn dein erstes Mal?“

„Mit 16. Hier gibt es den Abschlussball der Highschool und da ist es mehr oder weniger so üblich. Warum so spät? Haben dich Jungs nicht interessiert oder wollten die dich nicht?“

„Vermutlich beides. Ich hatte zu dieser Zeit andere Prioritäten.“

„Welche Prioritäten?“

„War nicht ich mit den Fragen dran? Also warum bist du mit William so zerstritten?“

Gerade das wollte er ihr nicht erzählen. Nicht nachdem es gerade so gut lief.

„Sind die Aufwärmfragen überhaupt schon vorbei?“

„Schon längst, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Also Wahrheit oder Pflicht?“

„Pflicht!“

„Gut, dann möchte ich dass du Blumen für Laura kaufst, dich aufrichtig bei ihr entschuldigst und ihr ein Friedensangebot unterbreitest.“

„Das ist nicht dein Ernst!“ kommentierte er ihre Aufgabe.

„Doch. Wie schon gesagt, sollen die Pflichtaufgaben dazu anreizen sich für die Wahrheit zu entscheiden. Du hast die Wahl: Wahrheit oder Pflicht?“ neckte sie ihn.

Es war zum Haare ausreißen. Sie machte es ihm wirklich nicht leicht. Der Vorschlag und die Bitte von William und Martha kamen ihm wieder in den Kopf. Vielleicht sollte er doch besser in den sauren Apfel beißen und die Pflicht wählen. Dafür würde Isabella schon noch büßen müssen.

„Okay, ich werde mich bei Laura entschuldigen. Aber glaube nicht, dass du einfacher davon kommst. Ich freue mich jetzt schon regelrecht darauf, dass du Pflicht wählst. Nun zu dir. Welche Prioritäten hattest du, die dich von Jungs und Sex abgehalten hatten?“

„Eine ungewöhnliche Mutter und jede Menge Bücher.“

„Das verstehe ich jetzt nicht. Das musst du mir erst erklären!“

„Ganz einfach. Meine Mutter war nicht gerade so, wie es die Mütter meiner Freundinnen waren. Während meine Freundinnen Verbote hatten sich mit den Jungs zu treffen, hatte meine Mutter dagegen für mich Treffen arrangiert, die sie für richtig hielt. Ob mir das passte oder nicht, hatte sie nicht interessiert. Daher hatte ich mich lieber unbeliebt gemacht und mich meinen Büchern gewidmet, dass ich meine Ruhe hatte.“

„Das klingt mehr wie ungewöhnlich. Das muss ich zugeben.“

„Warum hat William und nicht du als der Ältere die Konzernleitung bekommen?“

„Das lag an Laura. William wollte mit ihr nach Deutschland gehen. Doch das wiederum wollte mein Vater nicht und hatte ihnen deshalb das Haus überschrieben und William die Leitung übertragen.“

„Das stört dich massiv. Stimmt´s? Ist das der Grund, warum du Laura immer ärgerst?“

„Du bist eigentlich gar nicht dran mit Fragen stellen, aber ja es stört mich gewaltig. Es wurde nie mit mir geredet, sondern einfach so entschieden. Genauso mit dem Haus. Das Wellington Haus war mein Zuhause und ich bin den größten Teil meiner Kindheit dort aufgewachsen. Ich hatte mir immer vorgestellt dort sesshaft zu werden. Jetzt gehört es William und Laura und ich habe nur noch netterweise ein Besuchsrecht eingeräumt bekommen.“

„Dass du dafür missbrauchst, die beiden zu ärgern, wo du kannst, nehme ich an. Ich gebe zu, dass es nicht fair ist, aber hast du mit deinen Eltern einmal über deine Sichtweise gesprochen?“

„Nein, warum sollte ich? Es ändert nichts an dem, was sie bereits ohne mich beschlossen haben. Ich bin dran. Warum bist du wirklich hier her geflogen?“

„Weil ich von zu Hause weg wollte.“

„Das ist nicht die Antwort. Was war der Grund?“ Er fühlte sich kurz vor dem Ziel. Doch er hatte die Rechnung ohne Isabella gemacht.

„Ich wähle die Pflicht.“

„Das ist unfair, das weißt du. Aber meinetwegen, dann will ich, dass du mich küsst.“

„Schon vergessen, ich bin verheiratet!“, sagte Isabella ernst.

„Das stört mich nicht.“

„Dich vielleicht nicht, aber mich. Ich nehme meine Ehe sehr ernst.“

„Aber dein Mann nicht gerade, oder?“ provozierte er sie. „Es zwingt dich doch keiner, mich zu küssen. Du kannst gerne die Wahrheit wählen. Die Pflicht soll nur ein Anreiz zur Wahrheit sein. Deine Worte!“

„Das ist doch kindisch“ beharrte Isabella weiter.

„Stimmt. Dein Theater um einen einfachen Kuss ist wirklich kindisch. Es wird dich nicht umbringen, da kannst du genügend andere Frauen fragen, die mich schon geküsst hatten.“

Isabella war in einer Zwickmühle. Alleine schon ihre Moralvorstellungen verboten es, ihn zu küssen. Andererseits wollte sie ihm auch nichts davon erzählen. Selbst Laura hatte sie noch nicht die ganze Wahrheit erzählt. Das hatte sie nun davon, weil sie Mike zu einer Entschuldigung gezwungen hatte! Eigentlich wollte sie nur Laura helfen und jetzt hatte sie sich selbst in eine Ecke manövriert. Es half alles überlegen nichts, wenn sie wollte, dass auch er sich an die Regeln hielt, musste sie in den sauren Apfel beißen und ihn küssen. Mike schaute sie immer noch fragend an. Sie würde es schnell machen, dann wäre es vielleicht nur ein Kuss unter Freunden und könne auch nicht als Fremdgehen ausgelegt werden. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und stellte sich auf Zehenspitzen, um ihn schnell auf den Mund zu küssen. Doch Mike ahnte ihr Vorhaben und hielt sie fest in seinen Armen und beugte sich etwas zu ihr hinab. Er öffnete den Mund und kostete ausgiebig den Kuss aus. Isabella wollte sich anfangs noch wehren, doch durch seine Umarmung hatte sie erstens keine Chance und zweitens gefiel ihr es auch insgeheim. Es war anders als mit Ralf, aber keinesfalls schlechter. Im Gegenteil sie genoss es regelrecht und auch Mike machte keine Anstalten wieder aufzuhören. Seine Zunge drang forschend in ihren Mund und umspielte ihre Zunge. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter und verursachte eine Gänsehaut, die ungewohnt war, aber gleichzeitig sich auch verdammt gut anfühlte. Als er sich schließlich von ihr löste, war sie teils verwirrt und auch ein wenig enttäuscht, dass es schon zu Ende war. Ohne zu warten oder ein weiteres Wort ging sie einfach weiter, damit er ihre Verwirrtheit nicht entdeckte. Sie wollte nicht, dass er sie so sah und sich noch über ihre Unerfahrenheit lustig machte. Aber auch Mike hatte so seine Probleme mit dem Kuss. Es war ihm nicht ganz klar, warum eine Sache, die er schon tausende Mal getan hatte plötzlich so unerwartet anders war. Und diese Tatsache irritierte ihn am meisten. Isabella war bereits einige Schritte voraus. Doch er hatte es nicht eilig, ihr hinterher zu kommen. Er wollte ihr die Gelegenheit geben, sich wieder zu sammeln, wenn es ihr nur halbwegs so ging, wie ihm, brauchte sie diese Zeit. Isabella kam bald zum Ende des Parks und war ratlos, wo sie nun hinsollte. Den Weg zurück? Oder raus aus dem Park? Da sie völlig orientierungslos und alleine aufgeschmissen war, musste sie wohl oder übel wieder zu Mike. Sie hatte sich wieder gefangen und ging zu ihm zurück.

„Können wir nach Hause gehen?“ fragte sie, als sie bei ihm ankam. Sie rechnete fest mit einer Anspielung darauf und wappnete sich schon innerlich gegen seinen Spott.

„Ich dachte wir gehen noch Essen?“ fragte er unschuldig und ohne jede Anspielung.

„Ich glaube das ist keine so gute Idee. Ich möchte jetzt lieber nach Hause gehen“, beharrte Isabella, die dem Frieden noch nicht traute.

„Wie du willst. Zurück durch den Park oder durch Chinatown hier vorne?“

„Was ist kürzer?“

„Wir halten uns ziemlich in der Mitte auf. Es wird gleich sein, in welche Richtung wir gehen.“

„Gut, dann lass uns durch den Park zurückgehen.“

Isabella ging voraus und Mike versuchte Schritt mit ihr zu halten. Ein Gespräch war überhaupt nicht mehr möglich und genau das bezweckte sie auch damit. Im Eiltempo kam sie bei der T-Station an und wartete kurz, bis auch Mike hinterher kam.

„Willst du das jetzt ewig so weitertreiben?“ erkundigte er sich bei ihr, als er endlich aufgeschlossen hatte. „Es tut mir leid, dass ich dich so überfallen habe. Lass uns das Ganze vergessen und von vorne anfangen, okay?“

Seine ehrliche, offene Art überraschte sie, da sie bislang seine Stärke eher im Überspielen der Dinge und im Sarkasmus sah.

„Gerne, aber ich möchte jetzt trotzdem bitte nach Hause.“

Mike hatte keine Argumente, um sie umzustimmen und wollte sie auch nicht unter Druck setzen. Daher beschloss er sie nach Hause zu begleiten. Trotz seines Friedensangebotes blieb sie schweigsam während der Fahrt und schaute aus dem Fenster. In der Villa angekommen, verschwand sie ohne ein Wort sofort in ihrem Zimmer und Mike war darüber gar nicht so böse. Er nutzte die Zeit zum schwimmen, um sich über einiges wieder im Klaren zu werden. Er würde es nicht offen zugeben, aber der Kuss hatte ihn mehr zerstreut, als er es je für möglich gehalten hatte. An sich wollte er sich nur für seine Pflichtaufgabe bei ihr rächen, indem er ihre Moralvorstellungen untergrub. Durch das Fragespiel hatte er sich ganz gut ein Bild von ihr machen können und wusste genau, dass er sie mit seiner Pflichtaufgabe am meisten treffen würde. So weit, dass sie sich vielleicht doch noch für die Wahrheit entscheiden würde. Doch genau dieses Thema mied sie um alles in der Welt. Was konnte es also für sie noch Schlimmeres geben? So schlimm genug, dass sie Sachen machte, die ihrem Wesen widerstrebten. Mike konnte sich nichts vorstellen, was groß genug war, um so zu reagieren, wie Isabella es tat. Je länger er über sie nachdachte, umso ratloser wurde er. Sie war einfach nicht, wie all die anderen Frauen, die er kannte. Und da lag der entscheidende Unterschied. Er schwamm noch zwei Runden im Pool, dann packte ihn der Hunger und er machte sich auf den Weg in die Küche. Martha hatte zwar gesagt, dass sie erst abends wieder kommen würde, aber es musste doch dennoch etwas Essbares im Hause aufzutreiben sein. Dafür kochten Laura und William viel zu gern. Er streifte auf der Suche danach durch die Küche und öffnete zuerst den Kühlschrank und anschließend sämtliche Türchen, hinter denen er Essen vermutete. Lebensmittel gab es genügend, aber nichts, was ihm gerade in den Sinn kam. Wäre Isabella nicht so stur gewesen, säße er jetzt mit ihr im Penang und könnte sich die köstliche, malaysische Küche schmecken lassen. Es zählte zu seinen absoluten Lieblingsrestaurants und er war froh, dass es das Penang nicht nur in Boston, sondern auch in New York gab. Auch wenn das Essen dort zu seinen liebsten Speisen zählte, war es ihm dennoch um den Weg zurück in die Stadt. Charlie und das Meritage kamen ihm in den Sinn. Er könnte dort Essen und gleichzeitig mit Charlie, seinem besten Freund, über Isabella reden. Das wären zwei Fliegen mit einer Klatsche. Eine bessere Alternative gab es nicht. Er schrieb einen Zettel und hinterlegte Isabella für den Notfall seine Handynummer. Doch so, wie er sie bisher kennengelernt hatte, würde sie lieber verbluten, als ihn anzurufen.


Isabella lag in ihrem Bett und las völlig vertieft ihr Buch. Sie war auf den letzten Seiten des Romans Eisfieber von Ken Follett. Der Roman hatte sie bislang enttäuscht und sie gab dennoch die Hoffnung nicht auf, dass wenigstens der Schluss das Halten würde, was sie sich von Ken Follett, ihrem Lieblingsautor, wünschte. Sie liebte seine Art, wie er Bücher schrieb, musste aber dennoch eingestehen, dass die letzten Werke nicht mehr ganz so ihren Geschmack getroffen hatten. Die Spannung und den Nervenkitzel, so wie er es bei „Die Nadel“, ihrem absoluten Lieblingsroman, getroffen hatte, hatte er ihres Erachtens nie wieder geschafft. Doch sein Schreibstil und die Art des Erzählens, sowie die Überzeugung von ihm als Autor sorgten immer wieder dafür, dass sie seine Bücher regelrecht verschlang, sobald ein neues Buch herauskam. Es gab kein Buch, das sie nicht von ihm hatte. Selbst das Kinderbuch „Die Kinder des Universums“ hatte sie gelesen, um auch eine andere Facette ihres Lieblingsautors kennenzulernen. Die Geschichten halfen ihr, sich in eine andere Welt hineinzuversetzen und alles um sich herum auszublenden. Schwimmen wäre ihr jetzt lieber gewesen, aber dann wäre sie Mike höchstwahrscheinlich über den Weg gelaufen und das wollte sie momentan lieber vermeiden. Der Kuss hatte sie konfus gemacht. Bislang war Ralf der einzige Mann für sie gewesen und sie wusste nicht, dass es auch anders sein konnte. Jetzt hatte sie das Dilemma, dass sie etwas getan hatte, dass so falsch war, aber ihr dennoch gefallen hatte. In ihrem Bauch kribbelte und rumorte es und sie hatte das Gefühl, als würde sie wie früher als Kind in der Schiffschaukel sitzen und hoch hinaus schaukeln. In Gedanken ging ihre Vorstellung noch weiter, was Mike noch alles mit ihr machen konnte und sie fing schon aufgrund der Gedanken an zu erröten. Schon alleine deshalb war es sicherer in ihrem Zimmer, als draußen im Pool. Sie versuchte sich weiter auf ihr Buch zu konzentrieren und schrak erst wieder auf, als sie die Türen knallen hörte. Ihr erster Gedanke war Mike, doch dann kamen ihr die wütenden Selbstgespräche doch sehr bekannt vor. Laura war nach Hause gekommen!

Laura war genervt. Sie liebte ihre Agentur, die sie sich immerhin selbst aufgebaut hatte und ihre ganze Zeit und Energie dort hineinsteckte. Doch genauso gut könnte sie alle Leute aus der Agentur auf den Mond schießen. Sie war gar nicht so weit von Isabellas Beruf entfernt – mit dem Unterschied, dass sie erwachsene Kinder um sich hatte, die sich viel kindlicher als Kleinkinder benahmen. Es gab Tage, da wusste sie nicht, ob sie eine Marketingagentur oder einen Kindergarten leitete. Der Eine konnte mit dem nicht zusammenarbeiten, der andere wiederum nicht mit dem nächsten. Vor allem aber, trauten sie sich nicht, alleine etwas zu entscheiden. Für jeden Kleinkram wurde sie gefragt und wenn sie einmal ihre Ruhe haben wollte, wurde einfach gar nichts gemacht, bevor etwas Falsches gemacht wurde! Als hätte sie jemals jemanden den Kopf abgerissen, nur weil er das falsche Toilettenpapier besorgt hätte. Es war ihr ein Wunder, wie ihre Mitarbeiter zu Hause alleine zurechtkamen, wenn sie in der Agentur schon bei den kleinsten Problemen Laura um Rat fragen mussten. Unter normalen Umständen machte ihr das überhaupt nichts aus und sie half gerne bei allem, was anfiel. Doch gerade heute, als sie früher frei machen wollte, um mit Isabella etwas zu unternehmen, war genau dieses Verhalten ihrer Mitarbeiter, Auslöser für ihre schlechte Laune. An früher Schluss machen war überhaupt nicht zu denken und somit sorgte jeder Blick auf die Uhr dafür, dass Lauras Laune immer schlechter wurde. Selbst jetzt zu Hause angekommen, war der Frust darüber noch immer nicht vorbei. Sie knallte die Türen hinter sich zu, um ihrem Ärger Luft zu machen. Im Schlafzimmer schälte sie sich aus ihrem Kostüm, um sich in ihre heißgeliebte Jeans zu werfen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen Isa gegenüber. Es war auf ihren Mist gewachsen, dass Isa kommen sollte und jetzt ließ sie sie jämmerlich im Stich mit Mike, von dem sie nicht wusste, was er im Schilde führte. Gut, er hatte ihr gestern mit der Hilfe für Isabella den größten Dienst erwiesen, den sie niemals von ihm erwartet hatte, aber das wog noch lange nicht die ganzen Gemeinheiten der letzten Jahre auf. Dennoch kannte sie ihn besser und wusste, dass diese Frömmigkeit nicht lange anhalten würde und er schon bald seine Gemeinheiten versprühen würde. Schon alleine dieses Wissen vermieste ihr die Freude am momentanen Waffenstillstand.

„Hi, du bist schon zurück?“, begrüßte Isabella sie freundlich.

„Schon ist gut! Ich wollte schon mittags zurück sein, dass wir noch was unternehmen können. Aber es ist der reinste Kindergarten in der Agentur.“

„Macht doch nichts. Ich kann schon gut auf mich alleine aufpassen.“

Isabella beobachtete Laura. Das Leben hier schien ihr gut zu tun. Sie strahlte regelrecht und hatte für Isabella nie schöner ausgesehen als jetzt. Ihre langen, schwarzen Haare hatte sie locker zusammengebunden und die Jeans, die sie trug betonte sexy ihre schlanke Figur. Aber am meisten leuchteten ihre blauen Augen. Das war ihr gestern Abend schon aufgefallen. Sie glänzten so schön und machten sie noch attraktiver, als sie William ansah. Er tat ihr wirklich gut. Isabella selbst hatte bisher Lauras Auswanderung als Fehler gesehen, doch da hatte sie auch William noch nicht kennengelernt.

„Er tut dir wirklich gut. Man sieht dir regelrecht an, wie glücklich du mit ihm bist und du hast dieses besondere Strahlen, das dich noch schöner aussehen lässt. Ich freu mich für dich.“

„Danke Isabella. Es ist schön, dass du es so siehst. Mir geht es wirklich gut hier und ich bereue meinen Schritt nicht, im Gegenteil. Aber es freut mich, dass ich dich auch endlich vom Gegenteil überzeugen konnte. Du glaubst gar nicht, wie viel mir dein Besuch bedeutet und deshalb ärgere ich mich auch, dass ich heute keine Zeit für dich hatte. Aber morgen, verspreche ich dir, nehme ich mir nur Zeit für dich.“

„Mach dir keinen Stress. Ich wollte einfach nur weg von zu Hause und das bin ich jetzt. Ich brauche kein Unterhaltungsprogramm oder Kopfstände, die du für mich machst.“

„Trotzdem machen wir morgen erst mal einen Mädelstag, so wie früher. Ich habe da schon ein paar Ideen, aber das ist für dich erst noch eine Überraschung. William wird bald nach Hause kommen und dann können wir den Abend ruhig ausklingen lassen. Hast du Martha gesehen?“

„Mike hatte gesagt, dass sie erst abends wieder kommen wird.“

„Oh je, ich habe ja vergessen, dass Peter im Krankenhaus liegt. Bestimmt wollte sie noch bei ihm vorbeischauen.“

„Wer ist Peter und warum ist er im Krankenhaus?“

„Peter ist ihr Mann und er hatte vor einigen Wochen einen Herzinfarkt. Er erholt sich leider nur langsam und so wird er noch einige Zeit im Krankenhaus bleiben müssen. Ich hatte es in dem ganzen Stress vergessen, sonst hätte ich nie erlaubt, dass William sie holt. Aber William meinte es wäre für uns alle besser, wenn sie kommen würde. Sie ist die einzige, die Mike unter Kontrolle hat.“

„Mir war aufgefallen, dass sie sehr mütterlich mit ihm umging. Die beiden kennen sich schon länger, oder?“

„Mike war mit ihr aufgewachsen. Sie war sein Kindermädchen und Haushälterin in einem und mit den Jahren auch zu einer Art Familienmitglied für alle, aber auch für mich geworden. Sie hatte mir alle Lieblingsspeisen von William beigebracht, mir geholfen, mich hier schnell einzugewöhnen und mich wie eine Tochter aufgenommen. Dafür bin ich ihr bis heute noch sehr dankbar. Sie ist mir mit ihrer liebevollen Art so ans Herz gewachsen. Sie ist genau so, wie die Mutter, die wir uns immer als Kinder gewünscht hatten. Nur leider hat sie selbst mit ihrer Tochter nicht so ein Glück gehabt. Ich denke daher, dass Mike und William für sie die Söhne sind, die sie nie hatte.“

„Was ist mit ihrer Tochter?“ unterbrach sie Isabella.

„Catherine ist schon früh auf die falsche Bahn gekommen. Sie müsste jetzt so alt, wie William sein und lebt irgendwo auf der Straße und finanziert sich mit Prostitution ihre Drogen. Das würde Martha noch hinnehmen. Viel schlimmer ist für sie, dass Catherine absolut nichts von ihnen wissen möchte. Sie hat sich komplett von ihnen zurückgezogen und aus ihrem Leben ausgeschlossen. Ich hatte mit Catherine selbst schon gesprochen, dass sie hier einziehen könnte und wir ihr helfen würden und ich hatte auch den Eindruck, dass sie es sich ernsthaft überlegte, aber dann habe ich nie wieder etwas von ihr gehört. Für Martha, auf ihre alten Tage, ist es schwer zu verkraften. Peter trifft es noch schwerer. Er hängt sehr an seiner Tochter und hatte sich für sie immer nur das Beste gewünscht. Die Nachricht darüber, dass sie sich jetzt auch noch prostituierte, hatte ihm den Rest versetzt und ihn mit Herzinfarkt ins Krankenhaus gebracht.“

„Das ist wirklich schrecklich! Warum gibst du ihr nicht frei, dass sie sich um ihren Mann kümmern kann?“

„Martha arbeitet eigentlich nicht mehr für uns. Sie bezieht seit zwei Jahren die Rente und kommt nur noch sporadisch zu uns, wenn wir sie anrufen. William war damals sehr betroffen, dass sie nicht mehr um ihn herum war. Er tat sich schwer die Stelle neu zu besetzen und war froh darüber, dass ich eine neue Haushälterin ablehnte. Ich hätte es auch selbst nie gewollt. Ich habe Spaß daran, William zu verwöhnen und mittlerweile hat auch er seine Freude in der Küche entdeckt und es gehört zu unseren schönsten Beschäftigungen zusammen zu kochen und anschließend zu essen. Du solltest mal sehen, wie kreativ er mit den Zutaten geworden ist.“

„Die Küche war schon immer dein Steckenpferd. Es ist schön, dass du jemanden gefunden hast, der diese Leidenschaft mit dir teilt. Ich werde sicherlich nicht nein sagen, wenn ihr vorhabt mich kulinarisch zu verwöhnen.“

„Heute wird es leider nicht mehr klappen, denn dafür ist die Vorratskammer viel zu sehr geplündert, aber für morgen Abend können wir dir diesen Gefallen gerne noch tun“, sagte Laura lachend und umarmte ihre Cousine.

Sie war so glücklich darüber, dass sie Isabella endlich wieder sehen konnte. Natürlich hatten sie Kontakt per Telefon und Email, aber das war eben nichts gegen einen persönlichen Kontakt vor Ort. Die Klingel unterbrach ihr Gespräch und sie gingen hinunter. Laura sprach durch die Sprechanlage einige Sätze und wandte sich dann an Isabella.

„Dein Koffer ist endlich gekommen.“

Sie betätigte den Summer und ließ den Boten der Airline die Auffahrt herauf kommen. Mit großen Augen stieg er aus und holte aus dem Kleintransporter Isabellas Koffer. Scheinbar kam er nicht oft in diese Gegend, vermutete Laura, an seinem Blick. Sie nahm ihm den Koffer ab und steckte ihm einen 10$ Schein in die Hand, den er freudestrahlend und dankend entgegennahm und wieder davon fuhr.

„Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee? Ich habe Muffins mitgebracht.“

„Gerne, ich bringe nur schnell meinen Koffer nach oben.“

„Lass nur, das kann doch auch William später machen. Komm, wir gehen in die Küche.“

Isabella nahm an der Theke Platz. Laura war dabei die Muffins aus der Tüte auf einen Teller zu packen und Tassen aus dem Schrank zu holen, um sie unter den Kaffeeautomaten zu positionieren. Es sah alles so routiniert bei ihr aus.

„Mir ist gestern aufgefallen, dass William und Mike sich feindselig zueinander verhalten. Weißt du warum?“ fragte Isabella neugierig ihre Cousine.

„Was der Auslöser für diesen Streit ist, kann ich dir gar nicht sagen. Ich habe William mal danach gefragt und er wusste es selbst nicht. Seine Erklärung war, dass Mike ihn schon immer geärgert hatte. Und das hat bis heute nicht aufgehört. Ich hätte das nie für möglich gehalten, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte.“

„Das glaube ich dir gerne. Aber ist es nicht endlich an der Zeit das zu ändern? Wollt ihr ewig so weitermachen?“

„Es nützt nichts, wenn ich ihm den Frieden vorschlage und er dazu nicht bereit ist. Ich bin ihm dankbar dafür, dass er dich mitgebracht hatte und werde dadurch auch einiges hinnehmen, aber Frieden mit ihm wird sicherlich nicht möglich sein.“

„Du solltest es zumindest versuchen.“

Mike stand in der Küchentür und das Gespräch zwischen den beiden Cousinen verstummte.

„Guten Abend Ladies. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass ihr gerade über mich geredet habt?“

„Nehm dich nicht so wichtig. Nicht alles dreht sich um dich!“, konterte Laura.

„Schade!“ Mike zauberte einen Blumenstrauß hinter seinem Rücken hervor und ging schnurstracks auf Laura zu. Die war schon anhand der Blumen schockiert genug und überlegte fieberhaft, was er jetzt wieder aushecken würde.

„Laura, ich wollte mich bei dir entschuldigen für drei Jahre Ärger und Unannehmlichkeiten, die ich dir bereitet habe. Das war gemein und unfair von mir und ich denke es war lange genug, so dass wir jetzt, da ihr beide verlobt seid, einen Schlussstrich unter das Ganze ziehen sollten. Kannst du mir verzeihen?“

Er überreichte ihr die Blumen und sah sie ernst dabei an. Laura stand völlig perplex vor ihm. Das waren ihr eindeutig zu viele Zufälle. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber sicherlich nicht mit einer Entschuldigung oder gar mit Blumen von Mike. Viel mehr irritierte sie aber, dass Isabella das gleiche Thema gerade erst mit ihr besprochen hatte. Es war keine Gewissheit, aber zumindest so eine Ahnung, dass Isabella dahinter steckte. Sie hätte nur zu gerne gewusst, wie sie das angestellt hatte.

„Ich nehme deine Entschuldigung gerne an und möchte mich auch für meine Gemeinheiten hiermit entschuldigen. Mich würde gerne interessieren, was dich dazu bewogen hat, aber da ich keinen erneuten Streit provozieren möchte, belasse ich es lieber dabei.“

„Das ist überaus klug von dir, liebe Schwägerin“, kommentierte Mike und sah das Thema damit endgültig erledigt.

Laura war erleichtert und glücklich zugleich. Isabella war endlich zu ihr gekommen und auch die Fehde mit Mike schien endlich ein Ende zu nehmen. Sie hätte sich für den Augenblick nicht schöneres wünschen können.

„Wisst ihr was?“ sagte Laura und schaute die beiden an. „Wir sollten heute Abend feiern. Ich hatte schon lange keinen so guten Grund mehr dazu gehabt, wie heute. William wird bald nach Hause kommen und ich koche uns bis dahin etwas Leckeres, was ich aus den Resten noch machen kann. Mike, ich würde mich freuen, wenn du auch mit dabei wärst.“

Mike war über die entspannte Situation und Lauras offenen und freundschaftlichen Umgang sehr überrascht gewesen. Er hatte nicht gedacht, dass sie seine Entschuldigung ernst nahm, auch wenn er überzeugend seine Pflichtaufgabe eingelöst hatte. Sie freute sich sogar darüber und misstraute ihm nicht einmal. Nach drei Jahren ausgeheckten Gemeinheiten, nahm sie ihm die Geschichte einfach so ab. Selbst Isabella freute sich mit und strahlte über das ganze Gesicht. Ein Strahlen und Leuchten in ihren Augen, das sie so lebendig erscheinen ließ und ihn richtiggehend fesselte.

„Die Einladung gilt aber nur, wenn du dich um den Wein kümmerst“, ergänzte Laura lächelnd ihr Angebot.

„Das dürfte kein Problem darstellen. Was gedenkst du zu kochen?“

Laura öffnete den Kühlschrank und kramte in den Schränken herum. Sie nahm sich Gorgonzola, Spinat, Milch, geräucherten Lachs, Pinienkerne und Spaghetti heraus.

„Es gibt Pasta in Spinat-Gorgonzola-Sauce mit Räucherlachsstreifen und gerösteten Pinienkernen. Ich plädiere auf Rotwein. Alles andere überlasse ich deinem guten Geschmack“, schmeichelte Laura ihm.

„Sehr freundlich von dir. Schmeiß schon mal den Herd an, ich bin gleich zurück.“

Mike ging hinaus und Laura konnte nicht mehr an sich halten, Isabella die Frage zu stellen, die ihr seit einigen Minuten auf der Seele brannte.

„Wie hast du das geschafft?“

„Was geschafft?“, fragte Isabella scheinheilig, auch wenn sie schon wusste, worauf Laura hinaus wollte.

„Du weißt genau, wovon ich rede! Wie hast du es geschafft, dass Mike sich entschuldigt?“

„Wie kommst du darauf, dass ich etwas damit zu tun habe?“

„Erstens, weil das nur du fertig bringst und zweitens kann man es dir an deiner Nasenspitze ansehen. Also raus mit der Sprache.“

„Wir haben uns nur unterhalten. Das war alles.“

Den Kuss verschwieg sie sicherheitshalber. Er hätte sie nur selbst aus der Fassung gebracht. Mike kam zurück aus dem Weinkeller und rettete mit seiner Anwesenheit die Situation und Laura hatte keine Gelegenheit mehr, sie weiter auszufragen. Laura übergab ihm den Korkenzieher und Isabella holte bereits die Gläser.

„Weißt du, was ich schon lange vermisse?“ fragte Isabella ihre Cousine „unsere verrückten Canasta-Abende. Die waren echt genial. Ich habe es immer schade gefunden, dass Ralf das Spielen nicht lernen wollte.“

Laura lachte. Erinnerungen stiegen in ihr auf und die langen Nächte, in denen sie mit ihren Eltern oder auch mit Freunden spielten, kehrten in ihr Gedächtnis zurück.

„Das war der erste Grund, warum ich Ralf nicht mochte. Es war wirklich eine schöne Zeit. Ich bin froh, dass William das Spielen lernen wollte. Ab und zu spielen wir zu zweit, aber das ist nichts im Vergleich zu `übers Kreuz`.“

„Genau! Die Spannung ist viel größer, wenn man als Paare miteinander spielt. Sag mal hast du Karten da?“

„Natürlich, was denkst denn du!“

Isabella wandte sich an Mike: „Kannst du Canasta spielen?“

„Ich habe gerade mitbekommen, dass es ein Kartenspiel ist, aber mehr weiß ich nicht davon.“

„Hast du Lust es zu lernen? Während Laura kocht, bringe ich es dir bei und dann spielen wir nach dem Essen zu Viert.“

„Ich werde mit William spielen“, meldete sich Laura dazwischen.

„Das war uns so schon allen klar. Das hättest du nicht noch erwähnen müssen!“, kommentierte Isabella. „Ich werde Mike jetzt alle Tricks beibringen und dann zocken wir euch ab! Wo sind die Karten?“

„Darf ich auch noch ein Wörtchen mitreden?“, fragte Mike dazwischen.

„Ehrlich gesagt nicht. Du wurdest gerade überstimmt. Außerdem wird es dir bestimmt gefallen. Vertrau mir!“

Isabella war voller Euphorie und die Traurigkeit war ganz von ihr abgefallen. Weder Laura, noch Mike wollten sie stoppen und ihr diese Freude nehmen. Laura holte die Karten und Isabella und Mike verdrückten sich ins Esszimmer, um die Regeln durchzugehen.

Laura blieb alleine in der Küche zurück und kümmerte sich um die Pasta. Sie freute sich schon auf den Canasta-Abend, nachdem sie schon so lange nicht mehr gespielt hatte. William kam endlich nach Hause und stand lächelnd in der Tür.

„Hallo meine Schöne, was kochst du denn schönes für uns?“

„Pasta mit Gorgonzola, Spinat und Lachs. Wie war dein Tag?“

„Bestens. Und du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf dich gefreut habe. Wo ist denn Martha? Hast du sie Heim geschickt?“

„Nein, ich weiß nicht, wo sie ist. Mike hat gesagt, dass sie heute Mittag nach Hause musste und gegen Abend wieder kommen wollte. Aber bisher ist sie noch nicht aufgetaucht. Vielleicht geht es Peter schlechter und sie ist bei ihm im Krankenhaus geblieben.“

„Kann schon sein, aber sie hätte sich auf jeden Fall gemeldet. Wo ist Isabella?“

„Isa sitzt mit Mike im Esszimmer und bringt ihm Canasta bei! Sie hat sich gewünscht, dass wir heute Abend einen Canasta-Abend übers Kreuz spielen. Ich freue mich selbst schon darauf.“

„Was heißt denn übers Kreuz? Das hast du mir bisher noch gar nicht beigebracht.“

„Das liegt daran, dass es nur mit 4 Spielern funktioniert. Und die waren wir bisher nie. An sich ist es nicht viel anders, aber wesentlich spannender. Wir zwei spielen zusammen und sitzen uns gegenüber. Daher das Wort „übers Kreuz“. Du darfst deine Karten bei mir anlegen und ich bei dir. Somit können wir viel schneller einen Canasta zusammen bekommen und auch viel mehr Punkte. Wir haben zumindest den Heimvorteil. Mike ist Anfänger und lernt gerade erst das Spiel.“

„Das soll nichts heißen! Er lernt schnell und ist bei allem was Karten betrifft normal ein Naturtalent. Es wundert mich, dass er nicht öfter ins Casino geht. Damit könnte er richtig viel Geld verdienen.“

„Wir werden sehen. Ich bin jedenfalls fest entschlossen, alle Tricks anzuwenden, damit er verliert. Zieh dich schnell um, das Essen ist gleich fertig. Danach heißt es dann: „Lasst die Spiele beginnen!“

„Ich bin gleich zurück. Aber von wem sind denn die Blumen? Hat Isabella schon einen Verehrer oder verschweigst du mir jemanden?“ fragte William mit einem schelmischen Grinsen, während er sie an sich zog.

„Die Blumen gehören mir, aber du kommst nie darauf, von wem sie sind!“ lachte Laura ihn geheimnisvoll an.

„Du bekommst Blumen, die nicht von mir sind? Und darauf würde ich nie kommen? Dann sind die Blumen von Mike!“

„Woher wusstest du das?“, fragte Laura erstaunt.

„Ich wusste es nicht, aber viel mehr Möglichkeiten gab es nicht mehr, außer du hättest einen Liebhaber, von dem ich nichts weiß. Was war der Anlass?“ erkundigte sich William.

„Er hat sich bei mir entschuldigt und möchte, dass wir endlich einen Schlussstrich ziehen. Wir haben Frieden geschlossen und feiern das heute Abend. Aber beim Canasta wird er trotzdem noch bluten müssen. Das lasse ich mir sicher nicht entgehen.“

„Er hat sich wirklich bei dir entschuldigt?“ William war überrascht. Er hatte es sich gewünscht und Mike auch nahe gelegt, das umzusetzen. Doch darauf wäre Mike trotzdem nie im Leben eingegangen. Was war nur in ihn gefahren? Er kannte seinen eigenen Bruder nicht mehr und kam schon ins zweifeln, ob er ihn vielleicht doch die Jahre über falsch eingeschätzt und ungerecht behandelt hätte. William grübelte darüber nach und Laura konnte es ihm ansehen, dass es ihn beschäftigte. Den Gesichtsausdruck kannte sie zur Genüge in letzter Zeit, auch wenn William nicht immer darüber sprach.

„Ja, hat er wirklich. Was beschäftigt dich daran so sehr?“

„Warum er es getan hat? Ich habe ihn zwar darum gebeten, aber das ist noch lange kein Grund für Mike. Was hat ihn dazu bewogen?“

In dem Moment in dem er es ausgesprochen hatte, wurde es ihm auch klar, was es war.

„Isabella? Ist das diese Wirkung, von der du mir erzählt hast?“, fragte er Laura.

„Wie gesagt, es ist schwer zu erklären, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Aber sie hat ein Gespür für Menschen und deren Empfindungen. Auch ihre Wirkung auf sie ist unbeschreiblich. Ich weiß, dass sie etwas damit zu tun hat, aber ich kann dir nicht sagen, wie und was.“

„Es ist wirklich unglaublich. Insbesondere hätte ich meinen Bruder als hoffnungslosen Fall eingestuft. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich selbst nach Deutschland geflogen und hätte sie eigenhändig abgeholt. Aber warum hat sie dann nicht gemerkt, was für einen Ehemann sie sich angelacht hat, wenn sie diese Gabe hat?“

„Das ist eines der vielen Geheimnisse, die ich bis heute nicht gelöst habe. Vermutlich, weil der Satz `Liebe macht blind´ bei ihr voll ins Schwarze trifft. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie alles für ihn macht. Sogar sich im ganzen Dorf demütigen zu lassen. So und jetzt gehe dich umziehen, das Essen ist gleich fertig.“

„Zu ihren Diensten, Madame. Aber vorher bekomme ich doch sicherlich noch einen Kuss, oder?“

Er küsste sie und ging anschließend, wie ihm von Laura gesagt wurde, nach oben, um sich seines Anzugs zu entledigen. Er freute sich auf den Abend. Gestern hatte er sich noch Sorgen gemacht, dass die nächsten Tage mit Mord und Totschlag enden würden und schon hatte sich alles geändert und alle wollten miteinander freiwillig den Abend verbringen und Spaß haben. Gut gelaunt, ging William nach unten und schnappte sich die Teller, um den Tisch zu decken. Im Esszimmer begrüßte er Isabella herzlich mit einem Küsschen auf die Wange und auch bei Mike war er nicht weniger herzlich und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Danke Mike für deine Geste. Du kannst dir nicht vorstellen, was mir das bedeutet. Ich hätte da auch noch eine Bitte. Unsere Streitigkeiten liegen schon so lange zurück, dass keiner mehr weiß, warum. Was hältst du davon, wenn auch wir einen Neuanfang wagen?“

Mike wusste sehr wohl noch, was den Streit ausgelöst hatte und zwar die Tatsache, dass William immer von ihren Eltern in allem bevorzugt wurde. Im Grunde genommen, war das nicht richtig und fair William gegenüber, aber der leichteste Weg um mit seinem Frust umzugehen. Doch das behielt er in dieser Situation besser für sich. Was sprach also dagegen, sich mit ihm auszusöhnen? Für den Frust würde er sich ein anderes Ventil suchen müssen, dagegen könnte es von Vorteil sein, William auf seiner Seite zu haben, wenn er mit einigen Aktionen wieder mal übers Ziel hinausgeschossen war.

„Es spricht eigentlich nichts dagegen, warum wir die Geschichte noch länger andauern lassen sollten. Brüder?“

„Brüder“ antwortete William und ein Strahlen huschte über sein Gesicht. Er freute sich wirklich über diesen Zustand. Nur aus Mikes Verhalten wurde Isabella nicht schlau. Seine ganze Mimik passte einfach nicht zur Situation. Klar er lachte auch, aber es wirkte nicht echt. Nicht so, wie sie es erwartet hätte. Bei Laura schien es ihm wesentlich leichter gefallen zu sein, als bei seinem Bruder.

„Darauf müssen wir anstoßen!“, erklärte William und verschwand in der Küche, um den Wein und die Gläser zu holen.

„Was ist los?“ fragte Isabella ihn. Mike sah sie verlegen an.

„Was sollte sein?“ fragte er dagegen vorsichtig zurück. Es war ihm nicht geheuer, dass sie scheinbar in ihm lesen konnte, wie in einem offenen Buch. Er lebte gerne für sich und das sollte auch weiterhin so bleiben. Ehe Isabella antworten konnte, kam auch schon William wieder zurück und sie verstummte. Er reichte jedem ein Glas und schenkte großzügig die Gläser voll. Die Gläser klirrten und auch Laura kam aus der Küche, um dem Moment beizuwohnen.

„So ich hoffe, ihr seid mit euren Regeln soweit durch. In 2 Minuten ist das Essen fertig und danach kann es losgehen. William hilfst du mir noch kurz?“ bat ihn Laura.

Sie gingen zurück in die Küche und Isabella nutzte den Moment den Faden von vorhin aufzugreifen.

„Ich hatte den Eindruck, dass es dir sehr schwer gefallen war, dich mit deinem Bruder zu versöhnen. Viel mehr, als Laura gegenüber. Und es macht dich nicht glücklich. Jedenfalls nicht so, wie William. Warum?“

Da war es wieder. Wieder einmal hatte sie das ausgesprochen, was er gedacht und empfunden hatte. Woher zum Teufel wusste sie das nur? Er konnte sich sehr gut unter Kontrolle halten, also woher verdammt noch mal, wusste sie das?

„Du machst dir viel zu viele Gedanken um mich. Du solltest dich eher deinen Problemen stellen, als mich analysieren zu wollen“, antwortete er ärgerlich.

„Ich wollte dich nicht analysieren. Es hat mich nur interessiert. Aber ich habe schon verstanden!“ versuchte sie ihn zu besänftigen.

„Und genau das bezweifle ich umso mehr. Lass uns einen Deal schließen: Solange du nicht bereit bist von deinem Problem zu erzählen, werde ich mich auch nicht weiter analysieren lassen. Und heute Abend ist einfach alles tabu. Wir spielen Karten und das war es, okay?“

Es war Mikes Versuch sie zu stoppen. So konnte er zumindest den heutigen Abend überstehen. Für die nächsten Tage müsste er sich etwas anderes überlegen. Vielleicht sollte er sich auch mit dem Gedanken auseinander setzen, wieder früher abzureisen. Er sah sie an und wartete auf eine Antwort. Sie sah gekränkt aus, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen, auch wenn es ihm sofort leid tat.

„Ich verstehe nicht, warum du dich komplett einigelst, aber ich respektiere es. Lass uns einfach nur Karten spielen. Hast du die Regeln verstanden?“

Sie hätte sich die Frage sparen können und wollte nur höflich das Thema wechseln. Denn sie hatte schon längst erkannt, dass es ein Kinderspiel für ihn war, dieses Spiel zu lernen. Trotz der vielen Regeln und Varianten, hatte er sie schnell begriffen und behalten. Er war überaus intelligent und seine Stärke lag, ohne Frage, im logischen Denken. Trotzdem verstand sie seinen Rückzug in die emotionale Isolation nicht.

„Wenn das alle Regeln gewesen waren, werde ich das sicherlich hinbekommen. So schwierig ist das immerhin auch nicht.“

„Schwierig nicht, aber komplex. Ich kenne viele, die sich nur auf die Regeln versteift haben und den Sinn des Spieles dabei aus den Augen verloren hatten. Das waren dann die Menschen, die das Spiel nicht mochten und nie wieder spielten. Die Begeisterung und der Spaß am Spiel liegen in der Beherrschung und Aushebelung der ungeschriebenen Regeln. Und natürlich auch darin, die anderen damit zu ärgern. Laura wird nichts anderes bei dir probieren, aber ich denke, dass du intelligent genug bist, es bald zu merken und entsprechend zu reagieren.“

Laura und William unterbrachen sie und brachten das Essen herein. Es duftete herrlich. Eins musste man Laura lassen, sie verstand es, aus den einfachsten und verschiedensten Lebensmitteln etwas Leckeres zu zaubern. Beim Essen wurde reichlich Wein getrunken, so dass ziemlich schnell die erste Flasche leer war und die Stimmung ausgelassener wurde. Nachdem der Tisch abgeräumt war, setzten sich die Partner gegenüber. Laura wollte sich unbedingt vor Mike setzen. Sie würde ihm das Spielen schon noch beibringen, dachte sie heimtückisch. Aber zumindest sollte er nicht zum `rauben´ kommen. Leider würde es William wahrscheinlich genauso gehen, denn Isabella war in dieser Hinsicht mehr als nur exakt und merkte sich sehr genau, welche Karten jeder Spieler in den Stapel schmiss. Sie war schon immer die Einzige gewesen, die selbst bei einem riesigen Stapel immer ganz genau wusste, welche Karten sich darin befanden.

„Also die Regeln sind in etwa für alle bekannt. Sinn des Spieles ist es, als Paar zuerst 5000 Punkte zu erreichen. Um ein Spiel zu beenden, muss man mindestens einen Canasta echt oder unecht haben. Um einen Stapel rauben oder beim Partner anlegen zu können, muss man erst seinen Einsatz raus legen. Der Einsatz wird je nach Punktestand erhöht. Bis 1.495 Punkte sind es 50 Augen, ab 1.500 bis 2.995 Punkte sind es 90 Augen und ab 3.000 Punkte sind es 120 Augen. Gibt es dazu noch irgendwelche Fragen?“

Laura mischte die Karten und schaute in die Runde. Alle schüttelten die Köpfe, also fuhr sie fort.

„Alle Karten mit den Zahlen 4 bis 7 zählen 5 Augen, ab 8 bis zum König 10 Augen und die Ass zählt 20 Augen. Alle Karten mit der 2 sind Joker und zählen ebenfalls 20 Augen. Sie können beliebig an andere Karten angehängt werden, sobald diese mindestens 2 Stück, also ein Paar sind. Die Steigerung der 2er Joker sind die „Fuffis“. Diese zählen 50 und haben so schöne Bilder mit der Zipfelmütze auf den Karten.“

Laura und Isabella mussten bei der Erklärung grinsen und die Männer starrten sie dagegen verwirrt an.

„Wir kennen gar keine anderen Ausdrücke dafür! Von klein auf, wurden uns nur die Ausdrücke „Fuffis“ oder „die mit der Zipfelmütze“ beigebracht, auch wenn es noch so blöd klingen mag. Und da wir unsere Traditionen nicht brechen wollen, müsst ihr euch eben diese Begriffe auch aneignen. Basta!“ Mike versuchte es zu üben, doch es kam alles andere als „Fuffi“ heraus. Fiffi, Faffi, Fuffu. Zumindest hatten Isabella und Laura viel zu lachen.

„Dann gibt es noch die 3er. Das sind ganz besondere. Für die roten 3er darf man eine neue Karte nehmen. Pro rotem 3er zählt er 100 Punkte. Hat man mindestens 1 Canasta zählen sie Plus 100 Punkte. Hat man dagegen keinen Canasta zählen sie Minus 100 Punkte. Wenn man alle 4 roten 3er hat, zählen sie zusammen gleich 1000 Punkte. Dann wird es erst recht interessant. Das Paar, das sie hat, wünscht sich, dass sie Plus zählen und beeilt sich mit dem Canasta und das gegnerische Paar ist daran interessiert, dass sie Minus zählen und will schnell Schluss machen.“

„Die größten Spannungen bei dem Spiel sind, große Stapel zu rauben, viele Canasta in einem Spiel zu bekommen, alle 4 roten 3er zu bekommen oder einen Jokercanasta zu schaffen“, ergänzte Isabella Lauras Ausführungen.

„Und was ist mit den schwarzen 3ern? Bedeuten die auch etwas?“, fragte Mike folgerichtig.

„Eine berechtigte Frage“, antworte Isabella. „Die schwarzen 3er sind sogenannte „Bremser“, d. h. diese Karten können nicht gesammelt oder geraubt werden. So jetzt müssten wir so ziemlich alles haben.“

„Nicht ganz, Isa. Du hast die Canasta vergessen zu erklären. Ein Canasta besteht aus 7 Karten. Wenn es 7 gleiche Karten, also z. B. 7 Buben sind, dann ist es ein echter Canasta. Der bringt dann 500 Punkte. Sind Joker beim Canasta dabei, als sogenannte Lückenfüller, dann zählt der Canasta nur noch 300 Punkte. Jedoch dürfen maximal nur 3 Joker pro Canasta eingesetzt werden. Das non-plus-ultra der Canasta ist der Jokercanasta. Dieser besteht aus 7 Jokern. Es dabei unwichtig ob er aus 2ern oder „Fuffi“ Jokern besteht. Der Jokercanasta zählt 1000 Punkte und hat daher seinen hohen Stellenwert. Zum Schluss gibt es pro Spiel das „Schluss machen“. Alle Karten müssen abgelegt werden, entweder an den Anlegestellen oder im Stapel abgelegt werden. Das Paar, das Schluss macht, bekommt zusätzlich als Belohnung 100 Punkte. Alle Karten, die bei den anderen bis dahin noch auf der Hand sind, werden dann Minus gezählt. Es gibt so viele Spiele, bis ein Paar mindestens 5000 Punkte erreicht hat. Soweit verstanden, Mike?“

„Keine Angst, ich werde es schon kapieren.“

Natürlich waren es noch lange nicht alle Regeln und Kniffe, die die beiden Frauen den Männern mitgeteilt hatten. Die ersten zwei Spiele, musste Isabella die Fehler von Mike ausgleichen und trotzdem lagen sie nur knappe 1300 Punkte zurück. Laura hatte definitiv den Vorteil, dass William bereits dieses Spiel ein paar Mal gespielt hatte. Aber Canasta wäre nicht Canasta, wenn selbst bei diesem Vorsprung noch nichts entschieden war. Laura schrieb akribisch genau die Punkteliste und verkündete den Zwischenstand.

„Isa und Mike haben 1260 Punkte und brauchen 50 Augen, um raus legen zu können. Wir dagegen haben 2540 Punkte und müssen 90 Augen raus legen.“

William war mit Karten ausgeben dran. Und Mike durfte „Schlecken“. Auch so eine Regel, die die Frauen ganz vergessen hatten zu erwähnen. Das bedeutete, wenn man vom Kartenstapel abhob und darunter ein Joker war, durfte man den Joker und alle danach kommenden Joker behalten. Nachdem er immer mehr solcher Regeln und Begriffe kennen lernte, hegte Mike die Vermutung, dass wahrscheinlich die meisten Regeln keiner vernünftigen Spielanleitung des Spiels entsprachen, sondern irgendwann von Isabellas und Lauras Verwandtschaft hinzugedichtet wurden. Das dritte Spiel ging relativ punktgleich aus. Aber jetzt hatte Mike auch die Taktik von Isabella und Laura durchschaut. Es war für Mike klar, dass sie auf jeden Fall den gleichen Lehrer gehabt haben müssen, so ähnlich sind sie sich in einigen Spielzügen. Ebenfalls ist ihm aufgefallen, dass sie die Karten in ihrer Hand gleich sortierten. Beide steckten links die Joker in ihr Blatt und ganz rechts die Karten, die sie wegwerfen wollten. Nachdem Laura sehr genau aufpasste, was er in den Stapel schmiss und ihn ausnahmslos mit diesen Karten fütterte, wollte er eine List ausprobieren. Nachdem mehrere Runden keiner raubte und genug Karten im Stapel sich sammelten, schmiss er einen Buben in den Stapel. Doch Laura war vorsichtig und schmiss ihm nicht gleich auch einen Buben in den Stapel. Immerhin traute sie ihm nicht. Als Zugabe schmiss er den nächsten Buben in den Stapel. Das nahm sie zum Anlass, dass sie ihm in der folgenden Runde auch einen Buben schmiss. Verwirrt und wütend starrte sie ihn an, als er keine Karte zog, sondern zwei weitere Buben aus dem Blatt zauberte und mit 2 Jokern ergänzte, um seine 90 Augen zu legen.

„Aber du hast doch die Buben gerade weggeschmissen!“, schimpfe sie.

Er verstand jetzt sehr genau, was Isabella mit aushebeln der ungeschriebenen Regeln meinte. Laura hatte sich immer darauf verlassen, dass sie ihm das in den Stapel legte, was er weggeschmissen hatte. So konnte er nicht rauben. Durch seinen Zug, sie mit dem zu füttern, was er später haben wollte, hatte er den Spieß einfach umgedreht. Es machte wirklich einen riesen Spaß und er fing an das Spiel zu mögen. Er blickte auf und sah Isabellas Blick. Sie lächelte ihn an und war stolz auf ihn. Sie wusste, dass er es schnell lernen würde und das Prinzip erkannte, wenn es vorkam.

„Ja und du jetzt auch! Danke für den Stapel“, konterte Mike.

Laura schäumte vor Wut. Nie hätte sie ihm zugetraut, dass er so schnell die Regeln und Tricks lernen würde. Sie und Isabella hatten schon als Kinder das Spiel gelernt und konnten schon spielen, bevor sie in die Schule kamen. Für Außenstehende dagegen war das Spiel mit seinen vielen Ausnahmen und Sonderregeln immer schwierig und schlecht nachvollziehbar gewesen. Selbst William hatte mehrere Abende gebraucht, bis er überhaupt mit ihr halbwegs spielen konnte. Mike war wirklich in dieser Hinsicht um einiges schneller. Sie hätte ihn einfach nicht unterschätzen dürfen. Nach seinem Raubzug sortierte Mike den erbeuteten Stapel aus und war begeistert, als er feststellte, dass er nicht nur einen Bubencanasta, sondern auch einen echten 5er Canasta herausbrachte.

„Gut gemacht! Aber du kannst dir sicher sein, dass Laura kein 2. Mal darauf reinfallen wird“, gratulierte ihm Isabella zu dem gelungen Coup.

„Wird sich noch zeigen! Aber ich verstehe jetzt, was du vorhin gemeint hast. Das Spiel gewinnt dadurch erst die richtige Spannung.“

Als Isabella an der Reihe war, legte sie alle Karten bei Mike an und beendete das Spiel mit einem grandiosen dritten Canasta. Laura blieb der Mund offen stehen. Das war das erste Mal, dass sie in diesem Spiel Minuspunkte machten und dann auch noch mit drei roten 3ern. Am Ende des Spieles war der Punktestand wieder völlig offen.

„Isabella und Mike haben 4.280 Punkte. Wir haben 4.035 Punkte. Alle müssen 120 Augen raus legen.“

Mit einem weiteren schnellen, aber grandiosen Sieg besiegten Mike und Isabella das andere Paar um Längen.

„Süße, sei nicht sauer. Ich habe dir ja gesagt, dass Mike ein guter Kartenspieler ist“, versuchte William seine schmollende Laura zu trösten und kam um den Tisch herum, um sie zu küssen.

„Schon früher hat er sich lieber seinen Kartentricks gewidmet, als seine Hausaufgaben zu machen.“

„Das lass ich so nicht auf mir sitzen. Ich fordere Revanche!“

„Ich habe von dir nichts anderes erwartet. Du wärst doch nicht meine Cousine, wenn du jetzt aufgeben würdest! Der Abend ist noch jung und wenn ich noch etwas Wein haben könnte, kann es sofort weitergehen.“

William erhob sich zum Weinkeller, um eine weitere Flasche Rotwein zu holen.

„Isa, kannst du mit Mike Plätze tauschen? Ich will doch mal sehen, ob Mike auch gut genug ist, mich nicht rauben zu lassen!“

„Jetzt willst du es aber wirklich wissen. Wie in alten Zeiten! Aber gerne, daran soll es nicht liegen.“

Auch wenn es Laura nicht zugeben wollte. Es machte ihr unheimlich viel Spaß Mike herauszufordern. Die alte Spannung, die Laura schon lange vermisste, war in das Spiel zurückgekehrt. So, wie jetzt, war es eben nur bei „über Kreuz“ und mit guten Spielern möglich. Und eins musste sie Mike lassen. Er war ein verdammt guter Spieler. Es reizte sie durchaus, sich mit ihm auf geistiger Ebene im Spiel zu messen. Isabella hatte wieder einmal ein Gespür dafür, wie man alle an einen Tisch bekam. Ob Waffenstillstand hin oder her, freiwillig hätte sie sich nämlich nicht mit Mike hingesetzt und hätte einen Abend mit ihm verbracht, aber in der Kombination mit Canasta, war es das reinste Vergnügen. William kam mit 3 Flaschen Rotwein in den Armen zur Tür herein.

„Was hast du heute noch vor?“, fragte ihn Mike.

„Glaubst du, ich laufe ständig in den Keller? So, wie ich das sehe, wird das noch ein langer, lustiger Abend. Hätte ich gewusst, dass es so einfach ist, alle an einen Tisch zu bekommen, hätte ich das schon längst gemacht. Isabella, ich danke dir dafür. So entspannt, wie heute Abend, war es schon längst nicht mehr.“

„Wer sagt, dass es mein Verdienst war?“

„Ich kann mir nichts anderes vorstellen. Dafür kenne ich die beiden Streithälse hier schon zu lange.“

Er zeigte dabei auf Laura und Mike und grinste. Bis nachts um 3 Uhr dauerte die Kartenrunde an und es wurden noch mehrmals die Paare und Konstellationen getauscht, bis jeder mit jedem spielte und genauso verlor, wie er auch gewann. Erschöpft, aber glücklich sank jeder in sein Bett. Am glücklichsten jedoch war William, der heute einen Bruder erlebte, den er sich sein ganzes Leben lang schon wünschte und auch die Gelegenheit hatte Isabella näher kennen zu lernen. Von Stunde zu Stunde verstand er mehr, warum sie für Laura so etwas Besonderes war. Sie hatte es als Einzige fertig gebracht, dass alle miteinander an einem Tisch saßen und sich nicht stritten, sondern sich sogar amüsierten. Er hätte das selbst nie für möglich gehalten. Aber Isabella hatte es in nicht einmal 24 Stunden ihrer Anwesenheit geschafft. Das rechnete er ihr hoch an! Er wusste zwar nicht, was sie bedrückte, aber wenn er ihr helfen könnte, würde er es sofort tun. Zufrieden und glücklich kuschelte er sich an Laura heran und schlief ein.


Blick der Veränderung

Подняться наверх