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Es war nach eins. Sicherlich würde Jim schon schlafen, und am nächsten Tag konnte ein Wunder geschehen. Der Morgen verspricht immer Wunder.

Behutsam öffnete er die Tür, sie mit vorsichtiger Hand festhaltend. Auf dem Waschtisch neben Jims Bett war Licht, aber es war eine kleine, heruntergeschraubte Petroleumlampe. Er ging auf den Zehenspitzen hinein, seine Schuhe knarrten fürchterlich.

Plötzlich setzte Jim sich auf und drehte den Docht höher. Er hatte eine rote Nase und rote Augen und hustete. Er starrte, und regungslos, vom Tisch, starrte Elmer zurück.

Mit einemmal redete Jim:

»Du Lumpenhund! Du hast's also doch gemacht! Du bist gerettet worden! Du hast dich dazu bemogeln lassen, ein baptistischer Medizinmann zu werden! Ich bin fertig! Von mir aus kannst du – in den Himmel gehn!«

»Ach, geh, Jim, hör doch!«

»Ich hab' genug gehört. Ich will auch gar nichts mehr sagen. Und jetzt hör' du mich an!« sagte Jim und redete sich drei Minuten lang voll Feuer alles vom Herzen. Den größten Teil der Nacht kämpften sie um die Freiheit von Elmers Seele, wobei Jim nie ganz unterlag und doch nicht siegte. Wie Jims Gesicht bei dem Meeting zwischen ihm und dem Evangelisten geschwebt und die Vision vom Kreuze ausgelöscht hatte, so hingen jetzt seiner Mutter und Judsons Gesichter bekümmert und verschwommen vor ihm, ein Schleier vor Jims Plädieren.

Elmer schlief vier Stunden und ging dann aus, vor Müdigkeit taumelnd, um Zimtkuchen, ein Sandwich und ein Kännchen dünnen Kaffee für Jims Frühstück zu holen. Sie stritten stürmisch weiter, Jim ein wenig hartnäckiger, Elmer immer gereizter, als kein geringerer Würdenträger als der Rektor, Rev. Dr. Willoughby Quarles, Fliege, gestärktes Hemd, gerundete Weste und so weiter, unter den fetten, weichen Fittichen der Wirtin hereinkam.

Der Rektor tauschte mit allen einige Händedrucke, er winkte die Wirtin mit den Augen aus dem Zimmer und rief in seiner kehligen Kanzelstimme, mit aus dem Bauch kommenden Tönen und langgezogenen R's und L's, einer sehr tiefen, umdüsterten Stimme, die höchst heilig war und in den durch seine bloße Gegenwart geschaffenen Tempel paßte, die sich Leichtfertigkeiten, Gekicher und die kindlichen Zynismen der Jim Leffertse verbat – ein Geräusch, das irgendwo zwischen den abendlichen Glocken und dem Morgenruf des Esels lag:

»Oh, Bruder Elmer, das war wacker, was Sie getan haben! Ich habe noch nie etwas Wackereres gesehen! Daß ein großer, starker Mann mit Ihren Gladiatorenkräften keine Angst hat, sich zu demütigen! Und Ihr Beispiel wird riesig viel Gutes wirken, rrrrriesig viel Gutes! Das müssen wir ergreifen und festhalten. Sie werden heute abend in der Y.M.C.A. sprechen – in einem Spezialmeeting zur Befestigung der Resultate, die unsere wundervolle Gebetswoche gezeitigt hat.«

»Ach, je, Rektor, ich kann nicht!« greinte Elmer.

»Oh ja, Bruder, Sie müssen, Sie müssen! Es ist schon angekündigt. Wenn Sie in der nächsten Stunde auf die Straße kommen, werden Sie die Freude haben, Anschläge zu sehen, die es in der ganzen Stadt ankündigen!«

»Aber ich kann keine Rede halten!«

»Der Herr wird Ihnen die Worte eingeben, wenn Sie den guten Willen mitbringen! Ich werde Sie selbst um Viertelacht abholen. Gott befohlen!«

Er war gegangen.

Elmer war völlig erschreckt, völlig abgeneigt und vor Entzücken geschwollen, daß er nach langen dunklen Stunden, in denen Jim, ein nicht Graduierter, ihn übel behandelt und seinen Verstand mit Schmutz beworfen hatte, vom Rektor der Terwillinger-Colleges als Mitapostel an den gestärkten Busen gezogen wurde.

Während Elmer sich zu etwas entschloß, wozu er sich schon entschlossen hatte, kroch Jim ins Bett und haderte in leisen, giftigen Tönen mit dem Herrn.

Elmer ging aus, um sich die Anschläge anzusehen. Sein Name war in lieblich großen Lettern gedruckt.

Am späten Nachmittag, nach einigen Vorlesungen, bei denen ihn jedermann respektvoll betrachtet hatte, versuchte Elmer eine Stunde lang seine Ansprache für die Y.M.C.A. und die angeschlossenen Damen vorzubereiten. Jim schlief, sein Schnarchen hörte sich an wie das Fauchen eines Leoparden.

Bei seinen Übungen im öffentlichen Sprechen, einem Kurs, der dazu bestimmt war, Kongreßmitglieder, Bischöfe und Verkaufsdirektoren zu erziehen, hatte Elmer Abhandlungen vortragen müssen über das Steuerwesen, die Ziele Gottes in der Geschichte, über unseren Freund den Hund und über die Herrlichkeit der amerikanischen Verfassung. Aber seine monatlichen Redeübungen waren nicht allzu anstrengend gewesen; niemand hatte sich darum gekümmert, ob er alle seine Gedanken und den größten Teil seiner Phraseologie aus dem Lexikon stahl. Der wichtigste Teil der Vorbereitung war das Ölen seiner polierten Mahagonistimme mit Pastillen gewesen, da er ziemlich unentwegt dem verbotenen Rauchen gefröhnt hatte. Er hatte nichts gelernt, als seine Stimme nach vorne zu bringen. Es war nie wichtig erschienen, auf die neunzehn Jünger der Redekunst Eindruck zu machen, oder auf den Lehrer, einen unordinierten, zugelassenen Prediger, der früher Steuerbeamter in Oklahoma gewesen war. Er hatte im öffentlichen Sprechen nie versagt, aber nie auch nur eine Sekunde lang interessiert.

Jetzt begriff er heftig schwitzend, daß man von ihm erwartete, er solle denken, den merkwürdigen Trieben und Wünschen, durch die Elmer Gantry sich von allen anderen menschlichen Wesen ein wenig unterscheide, Ausdruck verleihen und Ideen aussprechen, die nicht von jedem Halleluja-Strom fortgeschwemmt werden könnten.

Er versuchte sich auf die Predigten zu besinnen, die er gehört hatte. Aber die Prediger waren so voll Behagen von ihrer Autorität überzeugt, so sehr mit gewichtigen Botschaften ausgerüstet gewesen, und er selbst, er konnte im Augenblick keine Klarheit darüber gewinnen, ob er ein Missionar wäre, der seine überraschenden neuen Erleuchtungen der Menge weiterzugeben hatte, oder ganz einfach ein Sünder, der –

Ganz einfach ein Sünder! Und ob! Nichts anderes! Der Teufel sollte ihn holen, wenn er dem alten Jim untreu würde! O nein! Oder Juanita untreu werden, die zu ihm hielt und nett zu ihm war, wie grob und roh und großmäulig er auch sein mochte! Sie umarmen. Die Art, wie sie immer die dämliche Tante von Nell los wurde; sie blinzelte ihm nur zu, machte Tantchen irgendwas vor und schickte sie weg, Essen holen –

Gott! Wenn nur Juanita da wäre! Sie würde das Richtige wissen. Sie würde ihn beraten, ob er dem Alten und der Y. M. sagen sollte, sie möchten sich zum Teufel scheren, oder ob er diese Gelegenheit ergreifen sollte, Eddie Fislinger und allen den Y. M.-Klugscheißern zu zeigen, daß er nicht so vernagelt war –

Nein! Hier hatte ihm der Alte gesagt, daß er die Hauptsache wäre; für ihn hatte man ein großes Meeting einberufen. Quarles und Juanita! Nein, nein! Die Beiden konnte er nie zusammenbringen! Und der Alte hatte ihn beschworen –

Angenommen, es käme in die Zeitungen! Wie er einen zähen Kunden gerettet hatte, genau so gut wie Judson Roberts. Juanita – Unterröcke wie sie waren überall zu finden, aber wo konnte man einen Kerl finden, der anfangen und auch schon Seelen retten konnte?

Weg mit diesen blödsinnigen Gedanken, jetzt wo Jim schlief, und die Sache zusammenstellen. Wie war das mit den Arbeitern im Weinberg? Irgend so was war's doch. In der Bibel … Wie oft sie es auch wiederholen mochten – und keinem armen Hund war es jemals schlechter gegangen mit dem gemeinen Eddie, der ihn von der einen Seite stieß, und Jim, der ihn von der anderen heruntermachte – was auch geschah, er mußte diesen Viechskerlen zeigen, daß er es ebensogut verstand –

Teufel! So konnte man nicht weiterkommen; das hieß nicht arbeiten. Aber –

Über welchen verdammten Dreck sollte er denn überhaupt reden?

Mal sehen. Herrje, das war ein großartiger Gedanke! Ihnen sagen, wie ein großer starker Kerl, je stärker er war, desto eher könnte er sich's leisten, zuzugeben, daß die Kraft des Heiligen Geistes ihn ganz einfach kampfunfähig gemacht hätte –

Nein. Teufel! Das hatte ja Old Jud gesagt. Er mußte was Neues haben. Bißchen neu wenigstens.

Er sollte nicht »Teufel« sagen. Schluß damit machen. Bekehrt bleiben, ganz egal, wie schwer es war. Er hatte keine Angst vor – er und der alte Jud, sie waren stark genug, um –

O nein! Es war nicht der alte Jud; seine Mutter war es. Was würde sie denken, wenn sie ihn einmal mit Juanita sehen sollte! Juanita! Das schlampige Luder! Ganz sittenlos!

Er mußte sich dahinterklemmen. Jetzt gleich!

Elmer packte die Kante seines Arbeitstisches. Es knackte. Er hatte Freude an seiner Kraft. Er zog seinen schmutzigen roten Sweater aus, streichelte seinen riesigen Biceps und ging wieder an seine apostolische Arbeit:

Mal sehen: Die Burschen in der Y. würden von ihm erwarten, daß er sagt –

Er hatte es! Niemand konnte sich jemals auch nur zu einem Fluch versteigen, wenn es nicht – wie hieß das nur? – im unerforschlichen Ratschluß der Vorsehung lag.

Höchst eifrig machte Elmer umfangreiche, formlos gekritzelte Notizen in einem Zehn-Cent-Heft, das bisher dem Deutschen gedient hatte. Er sprang auf, schaute gelehrt drein und versammelte seine Bibliothek um sich: die Bibel, die er von seiner Mutter hatte; das Neue Testament, das er von einem Sonntagsschullehrer hatte; seine Lehrbücher für die wöchentlichen Vorlesungen über Bibeltexte und Kirchengeschichte; und ein Vierzehntel einer vierzehnbändigen Sammlung »Die großen Reden der Welt«, das er in einem seltenen, unter dem Einfluß des Alkohols stehenden Augenblick um siebzehn Cents in Cato erworben hatte.

Der Impetus, den er anfangs gehabt hatte, war ganz weg.

Nun, er würde bei der Bibel Hilfe finden. Die war ganz geoffenbart, Wort für Wort, ganz egal, was Spötter wie Jim sagten. Er würde die erste Stelle nehmen, die er aufschlug, und darüber reden.

Er öffnete bei: »So haltet euch nun ferne von ihnen, du Thathnai, Landpfleger jenseit des Wassers, und Sethar-Bosnai, und ihr andern des Rats, ihr von Apharsach, die ihr jenseit des Wassers seid«, einem Gebot, das wohl geistvoll war, jetzt aber nicht die geringste Hilfe bot.

Er begann wieder an seinem üppigen Haar zu ziehen und sich zu kratzen.

Herr Gott. Irgendwas mußte sein.

Die einzige Möglichkeit, im ganzen Leben weiterzukommen, lag darin, daß man diese Mächte begriff, von denen die Wissenschaftler mit ihren Laboratorien und dem ganzen Zeugs nichts erfassen konnten, die aber für einen wahren Christen ebenso leicht waren wie –

Nein. Er hatte außer Chemie I keine Labor-Kurse genommen, deshalb konnte er nicht beweisen, daß alle diese Physiker und Biologen Trottel sind.

Unglückselig fing Elmer die netten Notizen auszustreichen an, die er in seinem Heft gemacht hatte.

Zu seinem Verdruß merkte er, daß Jim wach war und höhnte: »Alles recht heilig und lehrreich, Höllenhund? Warum nimmst du deine erste Predigt nicht von den Heiden? Du wärst nicht der erste künftige Messias, der das tut!«

Jim schleuderte ihm ein dünnes Buch zu und fiel wieder in den Schlaf des Ungläubigen. Elmer hob das Buch auf. Es war eine Auswahl der Schriften von Robert G. Ingersoll.

Elmer war empört.

Seine Ansprache von Ingersoll nehmen, dem elendigen alten Atheisten, der sagte – na also, auf jeden Fall kritisierte er die Bibel und alles! Einer, der nicht an die Bibel glaubte, sollte doch wenigstens nicht die anderen in ihrem Glauben stören. Eine hundsgemeine Schweinerei, das zu tun! So eine Unverschämtheit von Jim, ihm vorzuschlagen, er sollte sich irgendwas von Ingersoll holen! Er würde das Buch ins Feuer schmeißen!

Aber – alles war besser, als weiter sein Hirn abzustrapazieren. Er vergaß seine Schmerzen, indem er sich Hals über Kopf ins Lesen stürzte. Schläfrig verfolgte er Seite um Seite von Ingersolls Predigen und Scherzen. Plötzlich setzte er sich auf, blickte argwöhnisch zum verstummten Jim hinüber, blickte argwöhnisch gen Himmel. Er stöhnte, zauderte und begann dann rasch aus Ingersoll in sein Deutschheft abzuschreiben:

Die Liebe ist der einzige Regenbogen auf der dunklen Wolke des Lebens. Sie ist der Morgen- und der Abendstern. Sie leuchtet über der Wiege des Kindes und wirft ihre Strahlen auf das stille Grab. Sie ist die Mutter der Kunst, sie inspiriert den Dichter, den Patrioten und den Philosophen. Sie ist die Luft und das Licht eines jeden Herzens, sie erbaut jedes Heim, sie entzündet das Feuer auf jedem Herd. Sie war die erste, die von Unsterblichkeit träumte. Sie erfüllt die Welt mit Melodien, denn die Musik ist die Stimme der Liebe. Die Liebe ist die Magierin, die Zauberin, die aus wertlosen Dingen Freuden macht und erlauchte Könige und Königinnen aus gemeinem Lehm schafft. Sie ist der Duft der wundersamen Blume – das Herz – und ohne diesen heiligen Trieb, diese göttliche Schwäche, sind wir geringer als die Tiere; mit ihr aber, wird die Erde zum Himmel, sind wir Götter.

Nur einen Augenblick, während er abschrieb, sah er unsicher aus; dann:

»Dreck! Wahrscheinlich ist heute abend kein Mensch da, der Ingersoll gelesen hat. Sind alle gegen ihn Außerdem werd' ich's ein bißchen umändern.«

Sinclair Lewis: Die großen Romane

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