Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 27
***
ОглавлениеKiéran brauchte lange, um einzuschlafen. Wie gut es ihm getan hatte, mit dieser jungen Frau zu reden! Er hatte sie nur als Schatten gesehen, viel mehr als die Umrisse ihres Körpers konnte er nicht erkennen, doch das war weniger schlimm gewesen als erwartet. Vielleicht deshalb, weil sie all seine Sinne angesprochen hatte. Klar und deutlich erinnerte er sich an ihren Nachtlilienduft. An ihre Aura, die sonnengelb und dunkelblau strahlte. An ihre Stimme, die nach einem Sommertag klang, leicht und froh. Und das, obwohl es ihr gerade nicht gut ging. Das hatte nicht zuletzt ihre Aura verraten, die Art, wie sie immer schwächer wurde. Was genau mit ihr los war, hatte er dann schließlich ohne diese Hilfe erraten.
Jerusha KiTenaro...
Er freute sich schon darauf, sie am nächsten Morgen wiederzutreffen. Vielleicht würde er ihr dann erzählen, dass er vor zehn Jahresläufen – am Hof von Fürst Ceruscan in Yantosi – Ijema KiTenaro getroffen hatte. Eine außergewöhnliche Frau, die ihn damals beeindruckt hatte. Warum diente ihre Verwandte als Magd in einem so üblen Gasthof wie diesem? Verkaufte sie ihren Körper? Hoffentlich nicht, das hatte sie nicht verdient.
Auch sein Magen war es, der ihn wachhielt. Auf einen Nachschlag des leckeren Eintopfs hatte er verzichten müssen, sonst hätte das Geld nicht mehr für die Übernachtung gereicht. Egal. Es war die Sache wert gewesen.
Kiérans Gedanken kehrten zu den Nachtlilien zurück. Sie waren selten, aber ein paar Mal hatte er schon welche gesehen. Seiner Meinung nach waren es faszinierende Blumen mit herrlichem Duft, doch er hatte nie versucht, eine davon für Marielle zu pflücken – das brachte angeblich Unglück, und sie verdorrten sowieso über Nacht, selbst wenn man sie sofort ins Wasser stellte. Und manche Leute schienen Nachtlilien ohne Grund zu hassen und zertrampelten sie, wenn sie irgendwo welche sahen.
Kiéran hatte den Wirt darum gebeten, ihn bei Sonnenaufgang zu wecken, und zum Glück dachte der Mann daran. Kiéran wusch sich schnell und packte seine wenigen Besitztümer zusammen, dann lief er mit federnden Schritten die Treppe hinunter. Es gab frisches Malzbrot mit Käse und geräuchertem Flussfisch als Morgenspeise – doch es war nicht Jerusha, die servierte. Kiérans gute Laune verpuffte. Wo war sie? Vielleicht hatte sie in der Küche und im Keller zu tun. Doch obwohl er absichtlich langsam aß, tauchte sie nicht auf.
„Wo ist eigentlich das nette Mädchen, das gestern bedient hat?“ fragte er den Wirt schließlich.
„Nettes Mädchen? Diese Sumpfnatter hat mich einfach im Stich gelassen. Soll sie doch ins Bett steigen, mit wem sie will, meinetwegen mit dem ganzen Dorf! Ich selber hätte ja keinen Ulder dafür ausgegeben, dass sie es mit mir treibt.“
Also doch, dachte Kiéran, und in seinem Inneren war ein seltsames Gefühl, eine Leere, die er zuvor nicht gespürt hatte. Er nickte wortlos und zahlte seine Unterkunft. Dann sattelte und zäumte er Reyn, der zum Glück etwas ruhiger geworden war durch den langen, harten Ritt gestern. Schließlich gelang es Kiéran sogar, das Mädchen aus seinen Gedanken zu verdrängen. Etwa drei Tage noch bis zur Quellenveste, wenn er weiter in diesem Tempo vorankam. Wie würde Xen reagieren, wenn er seinen Escadrán so unerwartet erblickte, praktisch von den Toten auferstanden?
Keine übertriebene Vorfreude. Erst musst du überhaupt bis zur Quellenveste kommen. Die Gegend, durch die er jetzt ritt, war berüchtigt – immer wieder wagten hier Truppen aus Thoram den Vorstoß nach Benaris. Und nicht einmal den AoWestas gelang es, den Wald von Sharedor zu sichern.
Reyn zerrte gutgelaunt an den Zügeln, und Kiéran ließ ihm seinen Willen. Zum Glück kannte sich Kiéran in dieser Gegend gut aus, und er wusste, welche Straße wohin führte. Andernfalls hätte er sich durchfragen müssen – er konnte keinen der Wegweiser mehr lesen. Wenn er sich ganz und gar konzentrierte, konnte er einzelne Buchstaben erkennen, aber es hätte eine Ewigkeit gedauert, einen ganzen Ortsnamen zu entziffern.
Sie preschten über die Landstraße in Richtung Rus Laerd, wandten sich dann nach Südwesten, in Richtung der Quellenveste. Kiéran war gespannt, ob er Truppen begegnen würde. Praktisch wäre es schon. Dann konnte er mit ihnen reisen, was bedeutete, dass er vor Angriffen sicher war und außerdem das lästige Problem der Verpflegung wegfiel.
Als sie gerade einen kleinen Ort passiert hatten, galoppierte Reyn an einer einzelnen Reiterin vorbei. Im letzten Moment merkte Kiéran, dass er ihre Aura von irgendwoher kannte. Er zügelte Reyn, und der Hengst warf protestierend den Kopf hoch. Mit etwas Mühe hinderte Kiéran ihn daran zu buckeln und klopfte ihm den Hals, als er nachgab und anhielt.
Tatsächlich, die Reiterin war Jerusha!
Auf einmal war Kiéran verlegen. Was sollte er jetzt sagen? Schönes Wetter heute? oder Ihr seid aber schnell abgereist! und Wieso habt Ihr Euch nicht mal verabschiedet? Wie lächerlich. Sie kannten sich schließlich überhaupt nicht.
Doch Jerusha nahm ihm die Entscheidung ab. „Ihr seid es!“ rief sie, und auf einmal leuchtete ihre Aura intensiv auf. Was bei allen Göttern bedeutete das? Dass sie sich freute? Anscheinend, er hörte es auch in ihrer Stimme. Und er spürte ein Echo dieser Freude in sich. Wie schön, dass sie sich noch einmal getroffen hatten. Welche wohlwollende Göttin das wohl arrangiert hatte? Shimounah vielleicht?
„Ein herrliches Pferd habt Ihr da“, sagte Jerusha und lachte auf. „Aber um ein Haar hättet Ihr mich über den Haufen geritten.“
„Tut mir leid“, sagte Kiéran. Zum Glück schritt Reyn jetzt ruhig dahin, er hatte sich schon ein wenig ausgetobt. „Seid Ihr schon lange unterwegs? Wohin wollt Ihr?“
„Nach Tholus. Dort wohnt jemand, den ich in einer wichtigen Angelegenheit um Hilfe bitten möchte.“ Er hörte an ihrer Stimme, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte, und fragte nicht nach. Was für eine Art von Hilfe brauchte sie? Sein erster Gedanke war, dass vielleicht eine bezahlte Nacht unerwünschte Folgen gehabt hatte. Doch das war ein Problem, für das jede skrupellose Heilerin eine Lösung wusste, dafür musste sie nicht bis nach Tholus reiten.
„In den nächsten Tagen will ich durch den Wald von Sharedor, danach geht´s weiter nach Tholus“, fuhr Jerusha fort.
Sie sagte das so unschuldig und ahnungslos, dass es Kiéran kurz die Sprache verschlug. „Durch den Wald von Sharedor? Allein?“ sagte er dann. „Oder schließt Ihr euch später noch einer Reisegruppe an?“
„Nein, wieso?“
Anscheinend wusste sie es wirklich nicht. Was für ein Glück, dass er sie rechtzeitig eingeholt hatte. „Sharedor ist berüchtigt für die abtrünnigen Magier, die sich darin verbergen. Die Gegend ist so zerklüftet und dicht bewaldet, dass sie nur schwer zu kontrollieren ist. Und wenn Soldaten nach den Magiern suchen, dann verschwinden die Kerle einfach über die Grenze nach Thoram, bis die Luft wieder rein ist.“ Kiéran sprach aus bitterer Erfahrung. Diese Magier zu stellen war die einzige Mission, bei der die Terak Denar rundweg versagt hatten.
„Warum sind die Magier eigentlich gefährlich? Es ist ja kein Verbrechen, sich von der Akademie loszusagen.“
„Es interessiert niemanden, was die Leute von Tir´han Quedys über diese Abtrünningen denken.“ Kiéran lächelte grimmig. „Das Problem ist, dass sie manche Reisende, die sie allein erwischen, abfangen und ihnen die Lebenskraft rauben – mehr brauchen sie nicht, um in Sharedor zu existieren, Nahrung ist für sie dann unnötig. Doch für die Opfer endet es oft tödlich.“
Jerusha schwieg einen Moment lang, dann sagte sie leise: „Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt. Dagegen sind Pfeile kein großer Schutz, oder?“
„Pfeile?“ hätte Kiéran fast gefragt, doch dann bemerkte er, dass sie einen Bogen über der Schulter trug. Er hatte das Ding schlicht übersehen, er sah es nur als schmale violette Linie in der Dunkelheit.
„Bitte reitet nicht alleine da durch“, sagte Kiéran eindringlich. „Am besten, Ihr wartet am Waldrand, bis eine größere Gruppe vorbeikommt und schließt Euch dieser an. Das kann allerdings ein oder zwei Tage dauern, im Moment ist auf der Straße hier nicht viel los.“
Sie schwieg kurz. „Ja, das werde ich wohl tun“, sagte Jerusha dann.
Gleich würden sie sich verabschieden. Und wahrscheinlich nie wiedersehen. Reyn ruckte schon wieder an den Zügeln, er wollte weiter.
„Wenn Ihr möchtet, begleite ich Euch.“ Moment, was hatte er da eben gesagt? Wenn er zur Quellenveste wollte, dann war das ein Umweg! Es war nicht seine Aufgabe, Beschützer einsamer junger Frauen zu spielen. Außerdem war er alles andere als sicher, ob er zum Beschützer taugte. Gegen einen Magier konnte ein einzelner Soldat fast nichts ausrichten. Und Kiéran hatte ja nicht einmal ein Schwert. Ganz abgesehen davon, dass er noch immer so gut wie blind war. Seltsam – er wollte nicht, dass sie das wusste.
Jerusha ließ sich Zeit mit der Antwort. Er konnte sich denken, was ihr durch den Kopf ging. Wahrscheinlich erschien es ihr als keine besonders gute Idee, sich mit irgendeinem Kerl zusammenzutun, den sie erst seit ein paar Stunden kannte. Das konnte auf eine ganz andere Art gefährlich werden als die Hindernisse im Wald von Sharedor. Und Kiéran wusste, dass er zurzeit nicht allzu vertrauenerweckend aussah.
Doch dann sagte Jerusha plötzlich: „Ja, ich glaube, das wäre schön. Liegt es denn auf Eurem Weg?“
„So gut wie“, log Kiéran. Ungebeten drängte sich der Gedanke in seinen Geist, dass sie sich von ihm vielleicht gute Geschäfte erhoffte. Würde sie am nächtlichen Lagerfeuer versuchen, sich ihm anzubieten? Sie konnte ja nicht wissen, dass er keinen rostigen Ulder mehr in der Tasche hatte. Schluss jetzt, dachte Kiéran wütend und zwang sich, nicht mehr daran zu denken. Und auch nicht daran, dass er schon seit vielen Monden keine Frau mehr gehabt hatte.
„Wie erkennt man eigentlich diese Magier?“ fragte Jerusha.
„Tja, das ist das Problem.“ Kiéran zuckte die Schultern. „Meistens sieht man es ihnen nicht an. Man kann niemandem vertrauen in diesem Wald.“
Und wieso vertraute sie ihm? Nur, weil sie gestern das Essen miteinander geteilt hatten?
Sie ritten noch immer nebeneinander. Reyn war zwar ein Schurke, aber er war auch die Disziplin eines Regiments gewohnt – er duldete es, dass Kiéran ihn auf gleicher Höhe mit dem anderen Pferd hielt.
Kiéran war gespannt, wie ihm der Wald von Sharedor erscheinen würde. Normalerweise wirkte er wie eine dunkle Mauer am Horizont.
Diesmal konnte Kiéran ihn kaum erkennen, und er wirkte sehr viel weniger einschüchternd. Na, hoffentlich war das ein gutes Zeichen.