Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 28

Sharedor

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Jerusha hatte keine Ahnung, warum sie einfach Ja gesagt hatte. Vielleicht, weil dieser Mann sich bestens in der Gegend auszukennen schien. Und vielleicht, weil es sich einfach gut anfühlte, bei ihm zu sein.

Mit ihm zu reiten bedeutete zwar, dass sie in nächster Zeit kaum mit Grísho reden konnte, doch das musste eben warten.

Wiesen und Weiden wichen Bäumen. Niedrige, buschige Kiefern drängten sich zwischen hoch aufragenden Craunen und Lybaren mit dichten Kronen. Ein Teppich aus Nadeln, die im letzten Herbst abgefallen waren, bedeckte den Boden und dämpfte den Hufschlag ihrer Pferde. Jetzt ritten sie aufwärts. Felsgrate ragten aus dem Wald auf, und der Weg wand sich zwischen Klippen hindurch. Es roch nach Moos und feuchtem Stein. Die Wolken hingen tief an diesem Tag, und Nebelfetzen wehten zwischen den Baumwipfeln hindurch. Zum Glück gab es trotzdem noch genug Schatten, Grísho würde sie begleiten können.

„Was soll ich tun, wenn ich etwas Verdächtiges bemerke?“ fragte Jerusha nervös. Sie warf einen Seitenblick auf Kiéran. Er wirkte wachsam, seit sie den Wald betreten hatten, und ließ die Umgebung nicht aus den Augen.

„Abhauen. Zieht Eurem Pferd den Bogen über die Kruppe, bis es durchgeht. Dann habt Ihr eine Chance, rechtzeitig außer Reichweite zu kommen.“

Er knotete die Zügel zu einer Schlaufe, um beide Hände frei zu haben, dann holte er aus seinem Reisebündel einen eigenartigen, dunkelroten Panzer mit Stacheln an den Schulterstücken und begann, ihn sich während des Reitens umzuschnallen. Der Panzer hatte die gleiche Farbe wie Kiérans Umhang, und langsam wurde Jerusha klar, dass das Teile einer Uniform waren.

„Hilft vielleicht nichts, ist eher Gewohnheit“, meinte er.

Nun ließ sich Jerushas Neugier nicht länger bezähmen. „Wer bist du? Ich meine – was?“

„Ein Terak Denar.“

„Im Ernst?“ Mit gemischten Gefühlen blickte Jerusha ihn an. Sie hatte schon von ihnen gehört, den legendären Elitekämpfern der Fürsten von AoWesta. Doch sie wusste nicht genug über sie, um beurteilen zu können, welche Rolle sie in Benaris spielten. Waren sie Leibwächter, besonders gut ausgebildete Soldaten, Todesschwadron, Assassinen? Ihr kam wieder in den Sinn, was ihre Großmutter erzählte hatte. Waren es Terak Denar gewesen, die ihren Sohn Thimmes – Jerushas Onkel – aufgespürt und hingerichtet hatten?

„Aber was ist passiert? Wieso bist du allein unterwegs? Das ist nicht üblich, oder?“ Plötzlich fiel Jerusha auf, dass sie ihn duzte, und sie spürte die Hitze in ihr Gesicht steigen. Hoffentlich nahm er es ihr nicht übel.

Doch er blickte sie nur von der Seite an. Schätzte er gerade ab, wie viel er ihr erzählen konnte? „Tja, eigentlich hatte ich gerade so was wie ein paar freie Tage. Allerdings unfreiwillig. Ich bin bei einem Gefecht verletzt worden, und meine Leute mussten mich zurücklassen. Jetzt versuche ich, mich meinem Regiment wieder anzuschließen.“

Daher also die Narben, dachte Jerusha. Es muss furchtbar gewesen sein. Zurückgelassen? Sehr ungewöhnlich. Doch der Ton, in dem er das alles erzählt hatte, ermutigte nicht, weiter nachzufragen.

„Und du, wie hat es dich in diesen Gasthof verschlagen?“

Jerusha zuckte die Schultern. „Ich hatte nichts mehr zu Essen und brauchte das Geld. Aber es war nicht gerade die beste Erfahrung meines Lebens.“

„Kann ich mir vorstellen“, murmelte Kiéran.

Sie wollte ihm sagen, wie wichtig es für sie gewesen war, dass er gestern zu ihr gehalten hatte. Doch das Schweigen, das sich zwischen sie geschoben hatte, schien auf einmal undurchdringlich.

Wenig später kam ihnen ein Trupp von etwa zehn Kaufleuten und ihren Gehilfen entgegen; das Rattern ihrer Karren und das Schnauben der Zugochsen waren schon von Weitem zu hören. Als sie näher kamen, sah Jerusha Angst in den Augen der Männer und Frauen. Angst vor uns? Wie eigenartig. Sie haben Glück – wir sind keine Magier in Verkleidung. Oder fürchten sie sich vor Kiéran? In dieser Uniform und auf seinem Hengst sieht er aus wie Xatos persönlich.

Doch das Gegenteil war der Fall, die Kaufleute wirkten erleichtert, als sie Kiéran sahen.

„Wie weit noch bis zum Waldrand, Roter Wolf?“ rief ein breitschultriger, in Leder gekleideter Mann, wahrscheinlich der Führer der Kolonne. Er marschierte vor einem Wagen, der bis oben hin mit Fässern und Säcken beladen war. Die eisenbeschlagenen Räder waren fast so hoch wie ein Mensch, langsam holperten sie über den Boden, der von Wurzeln durchzogen war.

Kiéran hob grüßend die Hand. „Eine halbe Tagesreise – ihr habt´s bald geschafft. Ist irgendwas Besonderes vorgefallen?“

„Nichts. Nur ein Achsenbruch, und der war keines Magiers Schuld. Jaeso sei mit euch!“

„Danke! Xatos schütze eure Reise.“

Mittags rasteten sie auf einer kleinen Lichtung. Amadera und Kiérans Hengst begannen sofort zu weiden. Das beruhigte Jerusha. Sicher würden sie spüren, wenn jemand sich näherte – Amadera hatte auch vor ihr gemerkt, dass die Waldkondore kamen. Seit damals wurde die Stute jedes Mal nervös, wenn sie bemerkte, dass ein Raubvogel in der Nähe war.

Bewundernd musterte Jerusha Kiérans Rappen, der Amadera um mehr als zwei Handspannen überragte; sein Fell schimmerte wie ein Rabenflügel. „Kann ich ihn streicheln?“

„Besser nicht“, sagte Kiéran schnell. „Er beißt. Und geh nicht zu dicht hinter ihm vorbei. Für Reyn ist es Ehrensache, Ärger zu machen wo es nur geht.“

„Ich glaube, ihr seid zwei Kämpfer und nicht nur einer“, scherzte Jerusha, doch zu ihrer Überraschung ging Kiéran nicht auf ihren lockeren Ton ein. „Das stimmt. Im Gefecht ist er für mich so etwas wie ein zusätzlicher Arm, und er hat mir schon mindestens einmal das Leben gerettet.“

Jerusha wartete ab, ob Kiéran aus seinen Satteltaschen Proviant zum Vorschein bringen würde. Doch er tat nichts dergleichen, trat nur auf der Wiese etwas Gras nieder und legte seinen Umhang darüber. „Hier. Dann ist es nicht so feucht und wir können uns auf den Boden setzen.“

Das war nett von ihm, doch ein bequemer Sitzplatz war nicht gerade das, was Jerushas Gedanken beherrschte. „Äh, du hast nicht zufällig etwas zu Essen dabei?“ fragte sie verlegen.

„Eine Prise Salz. Und du?“

Jerusha zuckte mit den Schultern. „Ein oder zwei Brotkrumen und einen Zipfel Jakobsburger Wurst.“

„He, du hast mehr als ich.“

Plötzlich mussten sie beide lachen. Es fühlte sich gut an, und auf einmal war alles wie am Abend zuvor. Nur dass sein Lächeln jetzt breiter und herzlicher war.

„Zwei Vagabunden zusammen auf der Landstraße“, meinte Kiéran, noch immer lächelnd. „Was meinst du – schaffst du es, einen Hasen oder eine Taube zu schießen? Und dann sollten wir versuchen, Wasser zu findensehen, ob wir Wasser finden.“

„Was ist, wenn sie uns in der Zwischenzeit die Pferde stehlen?“

„Der Kerl, der Reyn zu stehlen versucht, tut mir jetzt schon leid.“

Nebeneinander pirschten sie durch den Wald. Jerusha trug den Bogen schussbereit, mit aufgelegtem Pfeil. „Pass auf – Zika!“, flüsterte Jerusha, als sie sah, dass Kiéran dabei war, mit dem Bein eine Wohnkugel zu streifen. Er nickte dankbar und wich aus.

Am Rande einer Lichtung sahen sie ein kleines Rudel Shannahirsche, die noch ihren dichten, dunkelbraunen Winterpelz trugen. Sie standen bis zum Bauch im hohen Gras, und während die Weibchen fraßen, hielt der Bock – leicht zu erkennen an den spiralig gedrehten Hörnern – Wache.

„Sieh mal!“ Jerusha kauerte sich vorsichtig auf den Boden, um die Tiere nicht zu verjagen, und kniff die Augen zusammen, um sie zu einem schärferen Bild zu zwingen.

„Was? Wo?“ Kiéran blickte in die falsche Richtung, schaute schräg an den Shannas vorbei.

„Da. Am Waldrand. Shannas.“

Doch sie hatte nicht den Eindruck, dass er die Tiere sah. Und begeistert wirkte er auch nicht. „Selbst wenn du nur eins schießt, ist das zuviel Fleisch, wir werden nur einen kleinen Teil mitnehmen können. Außerdem schmeckt Shanna doch erst, wenn man es eine Woche lang in Grünwein einlegt.“

„Ghalils Schande, bist du verwöhnt. Na gut. Ich glaube, da im Unterholz sitzt noch ein Hase. Den krieg ich.“

Und so war es, auch wenn sie dazu zwei Pfeile brauchte. Ebenfalls ein Glücksfall war es, dass sie auf dem Rückweg zu den Pferden nicht nur einen Bach, sondern auch eine Stelle mit Sauerlauch fanden. „Na also“, sagte Jerusha und bückte sich, um ein paar der zarten Blätter zu pflücken. „Damit können wir den Hasen füllen, dazu noch deine Prise Salz, und das Mittagsmahl ist gerettet.“

„Was ist denn da?“ Kiéran blickte suchend auf dem Boden herum.

Jerusha zeigte ihm die Blätter und deutete auf die Stelle, wo sie wuchsen. „Sauerlauch. Das Zeug, aus dem sie die Frühlingssuppe brauen. Sag bloß, du kennst es nicht!“

„Nein“, sagte er kurz angebunden, ging weiter in Richtung des Lagers – und marschierte dabei geradewegs über die Sauerlauchbüschel.

„He!“ Ärgerlich machte sich Jerusha daran, wenigstens den Rest der Blätter zu retten. Was ist los mit diesem Mann? Manchmal wirkt er ganz normal, und furchtbar nett noch dazu, und im nächsten Moment ist er wieder seltsam und verschlossen. Ich werde nicht schlau aus ihm! Vielleicht war es doch ein Fehler, sein Angebot anzunehmen und mit ihm zu reisen.

Schweigend bereitete sie den Hasen vor, während Kiéran versuchte, ein Feuer in Gang zu bekommen. Sorgfältig gab er den ersten kleinen Flämmchen mit seinem Körper Windschatten und fütterte sie mit Ästchen und trockenen Rindenstücken. „Au, verdammt!“ hörte Jerusha ihn fluchend, anscheinend hatte er sich verbrannt. Zum zweiten Mal schon.

Jerusha schüttelte ratlos den Kopf.

Der Braten wurde köstlich. Jerusha aß mit Genuss und leckte sich danach heimlich das Fett von den Fingern. Doch es störte sie, dass Kiéran in bitterem Schweigen versunken war, anscheinend war er aus irgendeinem Grund wütend.

„Na gut“, sagte Kiéran schließlich. Er hatte auf einem umgestürzten Baumstamm eine Menschenlänge von ihr entfernt gesessen, doch jetzt stand er auf. „Ich glaube, es ist besser, wenn ich dir die Wahrheit sage. Du hättest es sowieso bald gemerkt, so, wie ich mich anstelle.“

„Was denn gemerkt?“ Ein Schauder überlief Jerusha. Sie waren allein hier und um sie herum lag meilenweit Wald. Bitte, bitte, jetzt nur keine üblen Überraschungen! Auf einmal konnte Jerusha kaum noch fassen, wie naiv sie gewesen war. Was in aller Welt hatte sie bewogen, allein mit diesem Mann zu reisen? Er hatte freundliche Augen, na und, das konnte täuschen. Er konnte hier mit ihr machen, was er wollte, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn daran hindern sollte.

Kiéran blickte zu Boden. Es dauerte eine Weile, bis er schließlich zum Sprechen ansetzte. „Ich bin blind“, sagte er schlicht.

Was?“

„Na ja, nicht ganz blind, aber so gut wie. Umrisse von Menschen und Gegenständen kann ich erkennen. Aber viele Dinge bleiben mir verborgen. Natürlich kenne ich Sauerlauch, ich habe mir sogar mal nach drei Portionen den Magen daran verdorben. Aber ich sehe das Zeug einfach nicht. Und das Feuer auch nicht.“

Jerusha war erleichtert, dass er nichts Schlimmeres zu gestehen hatte. Sah aus, als habe sie sich doch nicht in seinem Charakter getäuscht. Auf einmal wurde ihr manches klar – es war nicht seine Schuld gewesen, dass er den Sauerlauch in den Boden gestampft hatte. Doch wie hatte er sie eigentlich auf der Straße wiedererkannt, an der Stimme?

Kiéran wandte sich ab. „Wahrscheinlich hätte ich es dir gleich sagen sollen, und dann hättest du dir sicher noch einmal überlegt, ob ich dich wirklich begleiten soll. Es tut mir leid."

„Man sieht es deinen Augen nicht an“, war alles, was Jerusha auf Anhieb einfiel.

„Ja. Das hat man mir gesagt.“

„Kannst du mich denn sehen? Weißt du, wie ich aussehe?“

„Ehrlich gesagt, ich habe nicht die blasseste Ahnung, ob du hübsch bist oder hässlich wie ein Utz.“ Kiéran klang verlegen.

„Wie ein Utz?“ Jerusha musste lachen. Und wunderte sich darüber, wie frei und leicht ihr auf einmal zumute war. Hier war endlich ein Mensch, der sie nie nach ihrem Aussehen beurteilen würde. Für den es keine Rolle spielte, wem sie ähnlich sah, weil er es ohnehin nicht wahrnehmen konnte. Das war herrlich!

Kiéran sagte nichts, blickte nur starr in den Wald hinein. Seine Haltung war verkrampft. Sofort tat es Jerusha leid, dass sie gelacht hatte; hoffentlich hatte er das nicht falsch verstanden. Sie ahnte, wie schwer es für ihn – einen Terak Denar! – war, diese Schwäche zu akzeptieren. Vielleicht war es jetzt an ihr, ihm etwas zu geben.

„Doch, ich hätte mich sehr wohl dafür entschieden, mit dir zu reisen“, sagte sie. „Und wie wäre es, wenn wir uns jetzt wieder auf den Weg machen? Bis zum anderen Ende des Waldes ist es noch ein ganzes Stück.“

Die Anspannung in seinem Körper löste sich wieder etwas. „Ja. Lass uns losreiten. Hat keinen Sinn, länger in Sharedor zu verweilen als nötig.“

„Übrigens“, schob Jerusha verlegen nach. „Ich habe auch schwache Augen. In größerer Entfernung sieht alles aus, als hätte jemand Farbe auf eine Leinwand gekleckst. Ich schlage vor, wir weisen uns einfach gegenseitig darauf hin, wenn uns irgendetwas Verdächtiges auffällt.“

„In Ordnung“, sagte Kiéran und schwang sich in Reyns Sattel. „Dafür, dass du schlecht siehst, schießt du übrigens verdammt gut.“

Etwas war anders geworden zwischen ihnen. Sie gingen anders miteinander um. Kiéran wirkte entspannter, lachte sogar noch einmal über einen Witz. Es hatte ihm offensichtlich gut getan, ihr sein Geheimnis zu offenbaren. Und was war mit ihr? Sollte sie ihm von dem Fluch erzählen, der sie und ihre Familie bedrohte, der ihr Leben und das von Dario ins Unglück stürzen würde, wenn sie nichts unternahm? Nein. Sie wusste zwar selbst nicht warum, aber es widerstrebte ihr zutiefst.

Erschrocken wurde ihr klar, dass sie schon den ganzen Tag lang nicht an Dario gedacht hatte.

Einen Moment lang war sie verwirrt und betroffen. Sie musste ihm einen Brief schreiben, heute noch! Jerusha versuchte in sich heraufzubeschwören, wie es sich anfühlte, in Darios Armen zu liegen, mit ihm zusammen auf der Wiese am Fir Evarn zu sitzen, mit ihm über einen Tanzboden zu wirbeln. Es gelang, und die Panik in ihr flaute ab.

„Ist es sicherer, die Nacht durchzureiten, oder können wir rasten?“ fragte sie Kiéran.

Zu ihrer Erleichterung sagte er: „Besser, wir rasten und halten abwechselnd Wache. Sonst fallen wir morgen vor Müdigkeit vom Pferd und sind erst recht eine leichte Beute.“

Sie fanden ein Nachtlager am Waldrand, wo es reichlich trockene Äste gab, die für ein Feuer taugten, und frisches Wasser in einem nahen Bachlauf. Geschickt legte Kiéran den Pferden Fußfesseln an, damit sie sich selbst Futter suchen konnten, aber nicht zu weit wegwanderten. Während Jerusha Tinte und Feder auspackte und in sich die richtigen Worte für Dario suchte, ließ Kiéran sie taktvoll in Ruhe. Ein regelmäßiges scharfes Knacken verriet ihr, dass er mit dem Fuß Äste für ihr Feuer zusammenstutzte.

Nachtlilien

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