Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 21

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Ein Duell? Der Fechtmeister murmelte ein paar schwache Worte des Protests, und Rinalania versuchte höflich ihr Entsetzen auszudrücken, doch niemand hörte zu.

„Ja, soll er die Waffe wählen“, meinte Farnek nach kurzem Zögern. Es klang, als sei es ihm nicht recht. Doch wahrscheinlich war auch ihm klar, dass sein Sieg ruhmlos sein würde, wenn er seinem blinden Gegner nicht einmal diese Chance gab.

Kiéran überlegte schnell. Schwert? Besser nicht, bei einer Waffe mit so großer Reichweite lagen alle Vorteile bei Farnek, und das Risiko verletzt zu werden war groß. Gerade wenn jemand derart in der Gegend herumdrosch wie dieser Novize. „Ich wähle das Messer.“

Irgendjemand drückte ihm ein Übungsmesser aus geschliffenem Holz in die Hand, dann hörte er Gerritys aufgeregte Stimme flüstern: „Möge Xatos über dich wachen!“

„Sag mir schnell, wie das Übungsfeld aussieht“, raunte Kiéran. „Wie groß ist es? Irgendwelche Hindernisse? Abschüssiger Boden?“

„Nein, ganz eben und flach, zehn Menschenlängen in jeder Richtung, überall Sand.“

Kiéran wusste, dass er immerhin eine kleine Chance hatte, dieses Duell zu überstehen. Seit er nichts mehr sah, schienen seine Ohren mit jedem Tag schärfer geworden zu sein. Er hörte viele Dinge, die ihm vorher einfach entgangen waren – das Gleiten von Fingern auf Pergament, den Atem eines Menschen, der einen halben Raum entfernt stand, den schnellen Flügelschlag eines Falken, der in der Nähe des Tempels jagte. Alles war wichtig – die Bewegung der Luft auf seiner Haut; das, was seine Fingerspitzen ihm meldeten; die flüchtigen Gerüche, die an seiner Nase vorbeiwehten. Manchmal kam es ihm vor, als ginge er jetzt viel achtsamer durchs Leben als früher.

Jetzt standen er und Farnek sich auch schon gegenüber. Kiéran duckte sich leicht und hielt das Messer locker in der Hand. Jeder Muskel seines Körpers war angespannt, doch in seinen Geist war Ruhe eingekehrt. Wie vertraut sich das alles anfühlte. Als stände er im Innenhof der Quellenveste – nur ein weiteres Übungsgefecht unter schwierigen Bedingungen. Verbundene Augen diesmal, Kiéran, konnte er Xen fast sagen hören. Tu dein Bestes und mach uns Ehre!

Kiéran lauschte und wartete. Bisher hatte er keine Ahnung, wo genau Farnek stand. Doch der Novize verriet sich bald. Als er angriff, warnte das Knirschen des Sandes Kiéran, und er wich auf Verdacht hin nach links aus. Er spürte einen Luftzug, als Farnek ihn passierte, und setzte sofort nach. Sein Messer traf etwas, und Otris rief mit förmlicher Stimme „Erstes Blut!“ Die Priester und Novizen murmelten überrascht.

Es ist zu laut, dachte Kiéran beunruhigt. Wenn Farnek jetzt wieder losschlug, würde er es nicht rechtzeitig hören.

Und Farnek zögerte nicht lange, er stürzte sich sofort wieder auf ihn. Kiéran bemerkte es eine Winzigkeit zu spät und spürte, wie das Holzmesser seine Robe durchbohrte. Verdammt. Doch er ließ sich davon nicht ablenken, sondern nutzte die Gelegenheit. Jetzt wusste er, wo Farnek war. Geschmeidig wie eine Raubkatze folgte er ihm, als er sich nach dem Stoß wieder zurückziehen wollte, und stach zu. Farnek grunzte vor Schmerz. Recht geschieht es ihm. Zahnloser Wolf! Es sind schon Männer für harmlosere Bemerkungen getötet worden.

Gerrity jubelte laut, der Dummkopf. Dadurch hörte Kiéran den nächsten Angriff nicht, und den nächsten Treffer kassierte er. Gleichstand.

Inzwischen war es leicht, festzustellen, wo der Novize war. Farnek atmete schwer, wahrscheinlich vor Aufregung. Normalerweise hätte Kiéran ihn jetzt nicht ausruhen lassen, doch selbst anzugreifen war ohne Augenlicht zu schwierig. Also musste er zulassen, dass Farnek sich erholte, und auf dessen nächsten Schritt warten.

Diesmal warnten ihn die Zuschauer, einen Moment lang schienen sie den Atem anzuhalten. Sofort warf sich Kiéran in den Sand und rollte ab. Doch noch während er auf dem Boden war, merkte er, dass es ein schwerer Fehler gewesen war. Als er wieder hochkam, hatte er in der Dunkelheit völlig die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo er war und wo sein Gegner sich befand. Eine Hand entrang ihm das Messer und packte ihn am Arm, versuchte ihn herumzureißen. Kiéran wusste, dass er jetzt gleich einen Dolch an der Kehle haben würde. Er spannte seinen ganzen Körper an und riss sich mit einer heftigen Drehung los. Durch den Schwung wurde Farnek davongeschleudert und landete krachend auf dem Boden. Mit zwei Sätzen war Kiéran bei ihm und drückte den Novizen mit seinem Körper nieder.

Elegant war das nicht gewesen. Santiago hätte wahrscheinlich gefragt, ob er versuche, Großwildjäger zu spielen. Egal. Er hatte gesiegt.

„Was geschieht hier? Wie darf ich das verstehen?“ Dineshs Stimme klang mindestens so scharf wie Kiérans vorhin. „Meister SaJintar, ich bitte Euch, nicht zu grob mit meinen Novizen umzugehen. Im Gegensatz zu Euch lernen sie ihr Handwerk erst noch.“

Tja, Euer armer kleiner Novize hat angefangen, dachte Kiéran, doch er stand einfach nur auf und klopfte sich den Sand ab. Er wollte sich nicht noch einmal von Dinesh vorwerfen lassen, kindisch zu argumentieren. Stattdessen sagte er: „Wird nicht wieder vorkommen.“

„Na gut. Dann folgt mir bitte. Es gibt Neuigkeiten, die Euch betreffen.“

Trotz der blauen Flecken, die morgen seinen Körper zieren würden, fühlte Kiéran sich besser als seit Tagen. Nie hätte er gedacht, dass er überhaupt noch kämpfen konnte. Er hatte ja nicht mal den Mut gehabt, es auszuprobieren. Jetzt hatte Farnek ihn dazu gezwungen, und Kiéran war ihm dankbar dafür. Er streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen, doch die einzige Antwort war ein heiseres Flüstern dicht hinter seinem Ohr.

„Irgendwann wird der räudige Wolf mal nicht merken, dass ich da bin – und dann wird ihm das Fell abgezogen.“

„Na, da bin ich aber gespannt“, sagte Kiéran trocken, hob die Hand zum Abschied und folgte Dinesh zurück zum Tempel.

Dineshs Zimmer war mit wertvollen Möbeln eingerichtet; der Stuhl, auf dem Kiéran saß, war aus schwerem Holz, Sitzfläche und Rückenlehne waren aus geprägtem Leder. Wenn Kiéran es richtig ertastet hatte, liefen die Armlehnen in geschnitzte menschliche Gesichter aus. Doch all das interessierte Kiéran gerade wenig. Er konzentrierte sich voll und ganz auf Dinesh.

„Ich habe es Euch bisher nicht erzählt, doch es gibt mehrere Wege, die Macht der Schwarzen Spiegel zu nutzen. Man kann beispielsweise einen Tropfen Spiegelsubstanz entnehmen und sie in ein Amulett einlassen. Das schwächt den Spiegel, und mehr als zehn solcher Tropfen im Jahreslauf zu entnehmen, ist schädlich für ihn. Doch in diesem Jahreslauf haben wir erst zwei Amulette angefertigt.“

Kiéran spürte, wie eine ungeheuere Aufregung in ihm hochstieg. Er packte die Armlehnen des Stuhls fester. „Was genau wollt Ihr damit sagen?“

„Ich habe in den letzten Tagen in alten Schriften geforscht und mit den Priestern anderer Tempel Erfahrungen ausgetauscht.“ Kiéran hörte ein Lächeln in Dineshs Stimme. „Meiner Meinung nach ist es möglich. Ein solches Amulett könnte Euch die Sehkraft zurückgeben.“

Auf einmal fühlte sich Kiéran schwach, fast schwindelig. Wenn es wirklich klappte, was Dinesh ihm da anbot, dann hieß das, er konnte sein Leben fortsetzen wie zuvor. Doch er traute sich kaum, daran zu glauben. „Wie kann man einem Spiegel Tropfen entnehmen?“

„Die Schwarzen Spiegel bestehen nicht aus Glas, sondern eher aus einer Art Flüssigkeit. Und wenn man nur wenig von ihr entnimmt, wächst sie sozusagen nach, wenn man sie auf die richtige Art hegt. Auf diese Art kann man auch neue Spiegel erschaffen – man nimmt einen Tropfen, fügt ihn auf eine Silberplatte und wartet, bis er sich ausdehnt und die Platte bedeckt. Das dauert allerdings viele Jahresläufe.“

Wie schade, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, einen dieser Schwarzen Spiegel zu sehen. Es war bestimmt ein lohnender Anblick. „Wäre es nicht gefährlich für mich, die Kraft des Oscurus mit mir herumzutragen?“

„Soweit wir wissen, nicht. Doch es darf nicht mehr als ein Tropfen sein. Eine größere Menge Spiegelsubstanz zu beherrschen gelingt nur Priestern.“

Eine wichtige Frage musste er noch stellen, obwohl er wusste, dass sie Dinesh vielleicht verärgern würde. „Und was wird als Gegenleistung für das Amulett von mir erwartet? Muss ich in den Orden eintreten?“ Wenn das der Fall war, dann stand er vor der härtesten Entscheidung seines Lebens.

Dinesh zögerte lange, sehr lange. Dann erklärte er: „Ich werde nicht von Euch fordern, dass Ihr ein Priester des Schwarzen Spiegels werdet. Das sagte ich Euch bereits. Menschen zu einem bestimmten Lebensweg zu zwingen, rächt sich.“

Kiéran war in der Stimmung, diesem Ersten Priester die Füße zu küssen. Aber das ließ er dann doch besser sein. Stattdessen stand er auf und beugte den Kopf vor Dinesh, wie er es bisher nur vor dem Fürsten selbst und seinem Kommandanten getan hatte. „Das ist eine weise Entscheidung“, sagte er so förmlich wie möglich, um das Beben in seiner Stimme zu verbergen. „Jetzt weiß ich, dass Xatos wahrhaftig mit mir ist. Er selbst muss mich in diesen Tempel geführt haben. Wann könntet Ihr das Amulett anfertigen lassen?“

„Wir brauchen ein paar Tage zur Vorbereitung. Aber zu Dragetag in der nächsten Woche ist es soweit, und ihr werdet nach Sonnenuntergang bei der Zeremonie des Schwarzen Spiegels dabei sein. Wenn Qaras, unser Bewahrer, keine Einwände erhebt.“

Wer war eigentlich Qaras, und welche Rolle spielte der Bewahrer im Tempel? Kiéran hatte noch nie mit ihm zu tun gehabt, er schien ihm still wie ein Schatten und genauso wenig greifbar. Nur einmal hatte Kiéran ihn mit anderen Priestern reden hören; er hatte eine monotone Stimme, sprach schnell und eindringlich. Doch Kiéran hatte keine Gelegenheit mehr, Dinesh nach ihm zu fragen, denn seine Audienz beim Ersten Priester war beendet.

Gerrity berichtete er zuerst von der guten Nachricht; allen anderen wollte Kiéran es noch nicht erzählen. Doch Gerrity reagierte seltsam. „Ich habe mir schon fast gedacht, dass sie so etwas bei dir versuchen wollen. Ich hoffe, du wirst glücklich.“ Das klang eher melancholisch.

„Du hast mir gar nicht gesagt, dass so was geht. Keiner hat es mir gesagt!“ Kiéran war ärgerlich. Dabei hätte ihm allein die Hoffnung schon viel bedeutet.

„Wir lassen es nicht gerade vom Ausrufer verkünden, was die Amulette bewirken können. Dinesh rückt die Dinger nur ungern raus. Stell dir vor, er hätte entschieden, dass dir keins gewährt wird, und du hättest es mitgekriegt.“ Wahrscheinlich verzog Gerrity jetzt das Gesicht. „Du hättest ihn unter Garantie umgebracht, mit bloßen Händen wenn nötig. Oh, wie du es Farnek gezeigt hast, wumps, das war einfach göttlich. Man hätte Eintritt verlangen können.“

Kiéran grinste. „Falls ich keine Zukunft mehr bei den Terak Denar habe, kann ich ja so mein Geld verdienen. Schade nur, dass ich mir jetzt im Tempel einen Feind gemacht habe.“

„Warum interessiert dich das noch? Sobald du das Amulett hast, gehst du, und wahrscheinlich sehen wir dich nie wieder.“ Jetzt klang Gerrity wirklich traurig.

„Blödsinn. Die Quellenveste ist nur wenige Tagesreisen entfernt. Es wird sich bestimmt eine Gelegenheit finden, euch zu besuchen.“

„Das fände ich sonnig. Trotzdem, wir müssen uns ranhalten, um bis zu deinem Abschied deine Ausbildung noch ein wenig weiterzuführen. So, hier sind die Schlüsseldrähte und das ist das schwierigste Schloss hier im Tempel – los geht´s!“

Kiéran hatte erwartet, dass die letzten Tage im Tempel quälend langsam vergehen würden, doch so war es nicht. Er nahm jetzt täglich an der Ertüchtigung teil. Otris erhob keine Einwände, wenn er ab und zu einem Novizen oder Priester einen Ratschlag erteilte. Die Priester rissen sich darum, gegen Kiéran im Messerkampf anzutreten, und immerhin schafften es sowohl Thar, der Schmiedemeister, als auch Lil Tori, eine junge Priesterin, ihn zu besiegen.

„Nimm´s nicht übel, ich habe ganz gezielt ausgenutzt, dass du blind bist“, sagte ihm Thar. „Und vor unserer Lil Tori zittert sowieso jeder, besonders wenn sie mit ihren zwei Schwertern und zu Pferde kämpft.“

Thars direkte Art gefiel Kiéran. Wie schade, dass er nicht öfter in der Schmiede vorbeigegangen war, wo Thar – wie er von Gerrity gehört hatte – jeden Tag riesige Krüge Kräutertee leerte und alle anschnauzte, die es wagten, anderer Meinung zu sein als er selbst. Jetzt lohnte es sich kaum noch, morgen war schon die alles entscheidende Zeremonie. Dafür besuchte er am Nachmittag Reyn, der gerade auf der Weide war und sich garantiert mit dem zarten Sommergras den Bauch vollschlug. „Bald geht´s wieder los, Schwarzer“, sagte Kiéran lächelnd und klopfte seinem Hengst den Hals. „Und wehe, du wirfst mich ab.“

Reyn hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als den Ärmel von Kiérans Robe zu zerfetzen. Kiéran fluchte. Ich muss ihm diese Schnapperei wirklich abgewöhnen, sonst wird meine Schneiderrechnung auf Dauer schockierend.

Als es schließlich soweit war und die Zeremonie bevorstand, fühlte sich Kiéran nervöser als vor einem schwierigen Gefecht. Rinalania ließ ihm ein besonderes Gewand bringen und holte ihn in seiner Kammer ab; sie war sehr ernst. „Wenn du möchtest, berichte ich dir während der Zeremonie, was geschieht. Wäre doch schade, wenn du gar nichts mitbekommst.“

Kiéran zögerte. „Aber stört es nicht alles, wenn du mir ständig etwas zuflüsterst?“

In ihrer Stimme war ein Lächeln, und ein Hauch von Kräuterkaramellen wehte ihn an. „Du weißt ja gar nicht, wie leise ich flüstern kann. Also was ist, soll ich?“

„Rinalania, du bist einfach ein Schatz.“

Ja, das war sie, und wahrscheinlich eine der stärksten Frauen, die er je getroffen hatte. Er musste daran denken, was Gerrity ihm über sie erzählt hatte. Sie war Gerberin gewesen, was Kiérans Meinung nach eine der übelsten Berufungen war, die Ouenda zu bieten hatte. Außer harter Arbeit an den Bottichen mit stinkenden Häuten, an der Seite eines gleichgültigen Mannes, hatte sie nicht mehr viel vom Leben zu erwarten gehabt, zumindest schien es so. Denn nach dem Tod ihres jüngsten Kindes hatte Rinalania sich von einem Tag auf den nächsten entschieden, ihr Leben der Heilkunst zu widmen. Mit Hilfe eines Darlehens, das ihr Clan ihr gewährte, hatte sie die Lehrzeit an der berühmten Akademie von Reshan Julis bewältigt. Und danach eine neue Heimat im Tempel der Schwarzen Spiegel gefunden.

Respektvoll betrat Kiéran an Rinalanias Seite den Großen Saal und öffnete sich ganz für die Eindrücke, die ihm seine Sinne zutrugen. Der Raum musste gewaltig sein, das hörte Kiéran an der Art, wie seine Schritte auf dem polierten Steinboden klangen. Es war kühl darin, und roch nach einem aromatischen Rauch. Kiéran und Rinalania hielten sich nahe an der hinteren Wand; seine ausgestreckte Hand berührte Säulen aus kunstvoll behauenem Stein. Es waren schon einige Menschen anwesend, doch Kiéran konnte nicht erraten, wer sie waren, denn niemand sprach.

„Auf dem Boden zeigt ein Mosaik die Positionen, die die Priester, der Bewahrer und der Chronist einnehmen müssen“, hauchte Rinalania, und selbst das schien schrecklich laut in dieser Stille. „Der Bewahrer selbst steht vor einer senkrechten Steinwand, die mit eingemeißelten Zitaten aus den Alten Schriften bedeckt sind. Ihm gegenüber befindet sich der Erste Priester, er ist derjenige, der alle Gesänge und Beschwörungen und Rituale kennt. Die anderen Priester umgeben die beiden in einem doppelten Halbkreis – die Priester im inneren Kreis und die Novizen und geringeren Mitglieder des Tempels im äußeren.“

Kiéran nickte, allmählich konnte er sich vorstellen, was um ihn herum vorging. „Ist Qaras schon da?“ Kiéran lauschte neugierig, ob er die monotone Stimme des Bewahrers irgendwo hörte.

„Nein, natürlich nicht – er kommt als Letzter, und bringt den Schwarzen Spiegel mit, den er in seiner Obhut hat.“

Kurz darauf begann die Zeremonie. Dineshs Stimme erhob sich in einem Gesang, dessen Worte so uralt waren, dass Kiéran sie nicht entschlüsseln konnte. Die Priester setzten an bestimmten Stellen ein, ein mächtiger Chor aus Frauen- und Männerstimmen, der im Großen Saal widerhallte wie in einer gewaltigen Höhle. Manche der Gesänge waren kompliziert ineinander verwoben, sicher dauerte es eine Weile, bis die Novizen das gelernt hatten. Dann sang Neraia alleine einen Teil des Rituals, ihre Stimme war hoch und klar und kräftig. Kiéran staunte darüber, wie gut sie war; selbst bei Hofe hatte er noch nicht viel Vergleichbares gehört.

„Quaras hält den Spiegel mit beiden Händen, er selbst darf nicht sprechen, sondern muss die Kraft durch sich hindurchlenken“, flüsterte Rinalania. „Jetzt!“

Die Stimmen der Priester sanken zu einem Murmeln herab, und die Wörter begannen sich zu wiederholen, immer und immer wieder. Eine Gänsehaut überlief Kiéran. Was geschah nun? Selbst Rinalania schien jetzt nicht mehr ansprechbar, und er wagte nicht, sie zu stören.

Ein eigenartiges Kribbeln durchlief ihn, er spürte etwas. Und schon begann die Dunkelheit wieder zu wogen, riss ihn mit. Trotzig stemmte sich Kiéran gegen das Schwindelgefühl, das ihn erfasste. Es gelang etwas besser als das letzte Mal, doch dann traf ihn die nächste Welle, und er musste sich gegen eine Säule lehnen, um nicht zu stürzen.

„Der Schwarze Spiegel ist nicht mehr flach“, stieß Rinalania tonlos hervor. „Wellen tanzen darauf. Unsere Gedankenkraft bringt den Spiegel zum Schwingen. Normalerweise würde jetzt der Chronist festhalten, was die Muster zeigen, und daraus Wahrheiten erkennen. Doch diesmal ist es anders. Jetzt wird der Erste Priester – oh! Ein Tropfen!“

Von einem Atemzug zum nächsten wurde es still im Großen Saal des Tempels, nur der Klang der Stimmen schien noch einen Moment lang nachzuhallen.

Was ist? wollte Kiéran fragen, doch er brachte kein Wort heraus. Er spürte Rinalanias Hand auf seinem Arm, wieso schob sie ihn voran? Anscheinend sollte er vortreten. Warum, bei allen Göttern, sagte sie nichts mehr? Orientierungslos schritt Kiéran in die Dunkelheit hinein, jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als den Priestern zu vertrauen. Doch er konnte kaum gehen, alle seine Sinne spielten verrückt. Meine Füße stehen nur einen Fingerbreit vor dem Abgrund!

Ich falle. Ich falle! ICH FALLE!

Kiéran konzentrierte sich mit aller Kraft auf seine Füße, die entgegen seines Gefühls sicher und fest auf dem Steinboden standen.

Die Gesänge schwollen wieder an, brausten durch ihn hindurch wie ein mächtiger Strom, wie das Tosen eines Wasserfalls. Eine Berührung. Jemand auf seiner linken Seite strich über seine Hand, sanft und andächtig. Dann von rechts das gleiche Gefühl. Kiéran ließ es geschehen, und einen Moment lang beruhigte sich sein Geist. Doch dann berührten Finger seinen Hals, und Kiéran reagierte instinktiv. Seine Hand fuhr hoch und umklammerte mit eisernem Griff das Handgelenk des Unbekannten vor ihm.

„Kiéran“, sagte die Stimme des Ersten Priesters ruhig. „Seid bereit, das Amulett zu empfangen.“

Verlegen löste Kiéran seinen Griff und zwang sich, seinen Körper zu entspannen. Diesmal ließ er es zu, dass Dinesh ihm die Lederschnur mit dem Amulett um den Hals legte.

„Passt gut darauf auf – kein Mensch bekommt mehr als eins davon in seiner Lebenszeit.“

Das Amulett fühlte sich glatt und schwer und warm an um seinen Hals. Atemlos wartete Kiéran darauf, dass etwas geschah.

Er hob den Kopf. Noch immer war es finster um ihn, sehr finster. Doch dann erkannte er Linien, feine leuchtende Linien in dieser Dunkelheit. Umrisse. Sein Herz hämmerte. Er konnte die Säulen erkennen, das Mosaik des Bodens, Gestalten! Es klappte, er konnte wieder sehen! Nur schade, dass es so dunkel war hier drinnen.

Eine Hand ergriff die seine, zog ihn sanft zum Ausgang des Saales. Schon ein paar Atemzüge später stand Kiéran im Bogengang des Tempels, und wandte sich der Person zu, die ihn aus dem Saal geführt hatte.

Und schrie auf.

Nachtlilien

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