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Schatten

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Kiéran stellte fest, dass er sich wieder bewegen konnte, doch er wusste selbst, dass eine Flucht jetzt keinerlei Sinn mehr machte.

„Wir wussten, dass Ihr da wart, und das hat die Zeremonie gestört“, fuhr die Stimme fort, auf einmal war sie schneidend scharf. „Ich musste sie abbrechen lassen.“

Kiéran erkannte die Stimme. Sie gehörte Dinesh, dem Ersten Priester des Tempels. Gerrity hatte schon einiges über ihn erzählt, und so konnte sich Kiéran vorstellen, wer ihm jetzt in der Dunkelheit gegenüber stand: ein breitschultriger Mann mit kantigem Gesicht und kurzem graubraunem Haar; einer seiner Vorderzähne war schräg abgebrochen.

Langsam erholte sich Kiéran, sein Kopf wurde wieder klar. Er atmete tief durch und richtete sich auf. „Das tut mir leid, und es war nicht meine Absicht.“

„Ich weiß.“ Dineshs Stimme wurde etwas sanfter. „Beinahe hättet ihr einen hohen Preis dafür bezahlt. Das Oscurus ist eine alte und mächtige Kraft. Wahrscheinlich hat euch die Robe gerettet; die eingestickten Worte formen einen Schutzzauber, und auch das Eulengras hat seine Bedeutung.“

Wider Willen war Kiéran fasziniert. „Ich habe etwas von dieser Kraft gespürt. Sie brachte die Dunkelheit zum Wogen.“ Hoffnung packte Kiéran, entriss ihm die Worte förmlich. „Einen Moment lang war es so, als könnte ich sehen. Hat das Oscurus die Macht, mir meine Augen zurückzugeben?“

„Ich warne Euch noch einmal, Kiéran SaJintar. Versucht nichts auf eigene Faust, überlasst es den Priestern, Euch zu helfen. Aus gutem Grund sind die meisten Besucher, die uns hier beehren, eher bemüht, den Zeremoniensaal zu meiden.“

Dinesh wich einer Antwort aus. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Hatte Kiéran es sich vielleicht nur eingebildet, diese Linien, diese Wogen aus Licht zu sehen? Nein, hatte er nicht. Doch auch die Gefahr, die er gespürt hatte, war anscheinend real gewesen.

„Das klingt, als sei es zu meinem eigenen Besten, die Zeremonie nicht mitzuerleben“, sagte Kiéran vorsichtig und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er hörte ein paar Gänge weiter Schritte; die Priester verließen den Saal. Doch durch diesen Gang kam niemand; vielleicht hatte Dinesh die anderen gebeten, sie unter vier Augen sprechen zu lassen.

„Gut möglich, Meister SaJintar. Zumindest im Moment noch.“

„Im Moment noch?“ echote Kiéran und zog die Augenbrauen hoch.

„Einige – und gar nicht mal wenige – der Verwundeten, die wir hier zur Gesundheit zurückführen, entscheiden sich anschließend, im Tempel zu bleiben. Sich zu Priestern weihen zu lassen und das Arithón zu tragen. Es ist möglich, dass das auch Euer Weg ist.“ Vielleicht spürte Dinesh seine Skepsis, denn er fügte hinzu: „Keine Sorge, Priester des Schwarzen Spiegels zu sein bedeutet nicht etwa, dass Keuschheit oder eine völlige Abkehr von der Welt von Euch erwartet würde. Nur die Bereitschaft, den Regeln des Tempels zu folgen und die Kräfte des Oscurus zu bewahren. Dafür habt Ihr Teil am Mysterium der Zweiten Ebene, aus dem auch die Götter ihre Kraft schöpfen.“

War das etwa der Preis der Genesung, wurde von ihm erwartet, dass er sich nach der Heilung voller Dankbarkeit dem Kult weihte? Kiéran hatte längst herausgefunden, dass nur etwa dreißig Menschen im Tempel lebten, obwohl er Platz für beinahe hundert bot. Viele Kammern standen leer. „Das wird nicht möglich sein – ich habe Fürst AoWesta Gefolgschaft geschworen“, wich Kiéran aus.

Dinesh schwieg, und Kiéran konnte sich denken, was ihm durch den Kopf ging. Eine Gefolgschaft lässt sich aufkündigen. Doch der Erste Priester sprach es nicht aus; vielleicht ahnte er, wie Kiéran dann reagiert hätte. Kiéran entschied sich, das Thema zu wechseln.

„Ich dachte bisher, dass nur die Eliscan und dergleichen Wesen über solche starken magischen Kräfte verfügen. Entstammt das Oscurus einer nichtmenschlichen Macht?“

„Nein!“ Es klang scharf wie ein Peitschenknall. „Die widerwärtigen Geschöpfe Khorats haben nichts, aber auch gar nichts, damit zu tun. Schon vor Jahrtausenden haben wir sie zurückgedrängt und daran gehindert, ganz Ouenda zu erobern. Damals war unser Orden noch weitaus stärker als jetzt.“

Dinesh setzte sich in Bewegung, er schritt durch die Gänge zurück zum Eingangsbereich. Kiéran versuchte der Richtung seiner Stimme zu folgen und neben ihm zu gehen. Doch das war nicht einfach, und er streifte den Arm des Ersten Priesters, wäre fast gegen ihn geprallt. Wie peinlich! Eilig tastete Kiéran wieder nach der Wand, um die Finger daran entlanggleiten zu lassen. Das half ihm, einen geraden Weg einzuhalten.

Kiéran fand es erstaunlich, dass seine Tat nach dem einen scharfen Verweis des Ersten Priesters anscheinend vergessen und vergeben war. Hätte ein Novo der Terak Denar sich etwas Vergleichbares zuschulden kommen lassen, wären ihm einige äußerst unangenehme Strafdienste sicher gewesen. Nun gut, wenn Dinesh die Sache auf sich beruhen lassen wollte, umso besser.

„Vielleicht habt ihr jetzt eine Ahnung davon bekommen, warum die Schwarzen Spiegel ein Mysterium sind, dem ich mich schon seit vielen Jahresläufen widme“, sagte Dinesh, er verlor kein Wort über Kiérans Schwierigkeiten, geradeaus zu gehen. „Sie zu erforschen ist meine Lebensaufgabe. In diesem Tempel ruhen Aufzeichnungen, die bis zum Anbeginn der Zeit zurückreichen. Ich versuche sie zu sichten und aus ihnen zu lernen.“

Kiéran nickte langsam. Das passte mit dem zusammen, was Gerrity erzählt hatte. Im Archiv, da verbringt er manchmal den halben Tag und liest einfach, Stapel von Büchern um sich herum, eins dicker als das nächste. Das muss man gesehen haben, wie zärtlich der die Dinger anfasst!

„Ich begreife noch nicht ganz, wie das alles zusammenhängt. Das Oscurus und die Schwarzen Spiegel.“

„Die Spiegel sind der sichtbare Teil des Oscurus, durch sie ist es uns Menschen möglich, seine Energie zu erschließen und einen Blick in das Wesen der Dinge zu werfen.“

Doch es war nicht nur das, was Kiéran interessierte. „Wie seid Ihr eigentlich hier gelandet, Dinesh? Oder ist das eine Frage, die sich nicht schickt?“

„Eigentlich schon.“ Dinesh klang amüsiert. „Aber Ihr bekommt trotzdem eine Antwort. Ich entstamme einer edlen Familie; der Name meines Clans tut hier nichts zur Sache. In meinem achtzehnten Sommer ritt ich mit Verwandten und Verbündeten von unserer Heimat Ufardi zu einem wichtigen Treffen in der Nähe von Rus Laerd.“

„Lasst mich raten. Ihr seid nie dort angekommen.“

„Genau. Wir kamen an diesem Tempel der Schwarzen Spiegel vorbei, und ich wurde neugierig, was sich hinter den Mauern verbergen möge. Nun, ich bekam eine kleine Ahnung davon, und blieb.“

So so, Dinesh stammte also aus Larangva, dem Fürstentum an der Küste des Südlichen Meeres; an seiner Art zu reden merkte man das nicht. Ein warmes Gefühl durchflutete Kiéran. In seiner Erinnerung nahm das lebensstrotzende Larangva, das für seine Hafenstädte, Silberschmieden und Obstplantagen bekannt war, einen besonderen Platz ein; von seinem zehnten bis zu seinem fünfzehnten Sommer hatte er dort gelebt. Diese Zeit hatte sein Leben geformt, im Guten wie im Schlechten. Doch dann war sein Vater – ein Abgesandter Yantosis – in eine andere Gegend beordert worden. Und wieder einmal hieß es Abschied nehmen, wie schon so oft. Nie zuvor war ihm das so schwer gefallen.

Kiéran zwang sich, die Erinnerung wegzuschieben, und konzentrierte sich wieder auf Dinesh. „Wie haben Eure Verwandten reagiert? Es muss ein Schock gewesen sein für sie.“

„Sie versuchten mich erst durch Überredung, dann mit Zwang zurückzuholen.“ Dinesh seufzte. „Es gab ein Gefecht. Doch die Priester setzten sich durch, und ich durfte bleiben. Das ist nun zwanzig Jahresläufe her.“

Kiéran hob die Augenbrauen. Die Priester hatten es geschafft, dem Angriff eines mächtigen Familienclans zu trotzen?

Mit einem Moment Verzögerung merkte Kiéran, dass Dinesh stehengeblieben war. „Wir sind jetzt vor dem Archiv. Ich werde noch eine Weile alte Schriften studieren. Findet Ihr selbst zu Eurem Quartier zurück?“

Kiéran war verblüfft; aber es gefiel ihm, dass Dinesh ihn nicht wie einen Krüppel behandelte. „Ja, das schaffe ich schon.“

„Dann wünsche ich Euch eine gute Nachtruhe. Und glaubt mir, wir suchen wirklich nach einem Weg, Euch zu helfen.“

Widerstreitende Gefühle zerrten an Kiéran. Gab es tatsächlich eine Chance für ihn? Zumindest erschien das jetzt nicht mehr unmöglich. Aber wie hoch war der Preis für diese Hoffnung?

Egal. Dineshs Worte waren aufrichtig, und das war genug für den Augenblick.

„Danke“, sagte Kiéran ruhig. „Das weiß ich zu schätzen.“

Nachtlilien

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