Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 7

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Als sie sich am Dorfweiher trafen, sah Jerusha an Darios Haltung und Gesichtsausdruck sofort, dass er schlechte Nachrichten hatte.

„Xiranthar sagt, er kann uns nicht helfen.“ Dario setzte sich neben sie ans Ufer und legte Jerusha den Arm um die Schultern. „Seiner Meinung nach ist kein Magier in Ouenda mächtig genug, um einen solchen Fluch auszusprechen. Auch er selbst kenne die Formel dafür nicht. Er hat angedeutet, dass es möglicherweise ein maskierter Gott oder Halbgott war, der deine Großmutter besucht haben könnte.“

Jerushas Verzweiflung kehrte zurück. „Ein Gott! Aber können Götter so rachsüchtig, so kleinlich sein? Und das würde heißen, dass sie tatsächlich ab und zu unter den Menschen wandeln!“

Auch Dario wirkte ratlos. „Natürlich können sie rachsüchtig sein. Denk doch nur an Shimounah und wie sie von den anderen Göttern verbannt wurde. Dabei war ihr einziges Verbrechen, Ghalil zu lieben, einen Menschen.“

Plötzlich musste Jerusha an die eigenartigen Worte des alten Gorias denken. Nichts ist endgültig, Lady Jerusha. Nichts, bis auf den Tod. Und ihre Entscheidung stand endgültig fest.

„Dario, ich muss fort“, sagte Jerusha leise. „Ich muss versuchen, diesem Fluch auf die Spur zu kommen. Irgendwie muss ich es schaffen, ihn zu lösen. Vorher können wir nicht heiraten.“

„Was soll das heißen, du musst fort?“ Darios Lippen waren schmal geworden. „Wo willst du hin? In den Götterhimmel, oder was? Und wie lange soll ich hier ohne dich bleiben? Das ist doch verrückt!“

„Bitte, Dario – mach es mir nicht noch schwerer. Wir verschieben die Hochzeit ja nur ein wenig.“

„Also, wohin willst du?“

Es klang so schroff, dass Jerusha Tränen in ihren Augen prickeln fühlte. Doch trotzig weigerte sie sich, sie fließen zu lassen. „Ich habe heute nochmal mit meiner Großmutter gesprochen, ganz in Ruhe. Sie konnte den Fremden nicht sehr gut beschreiben, weil die Kapuze seines Umhangs sein Gesicht verborgen hat, doch ein paar Hinweise habe ich. Ich will in der Gegend um die ehemalige Faunenmühle herumfragen, ob jemand sich an diese Nacht und an den Fremden erinnert. Und dann ist da noch etwas: Nachdem der Fluch gesprochen war, ist ganz in der Nähe auf einem Felsen eine seltsame Inschrift aufgetaucht. Meine Großmutter meint, es habe etwas mit dem Fluch zu tun. Ich will mir das selbst ansehen.“

Dario wirkte noch nicht recht überzeugt, doch immerhin mäßigte er jetzt seinen beißenden Ton. „Aha. Wo hat eure Familie früher gelebt?“

„In Quinlan; das ist in Benaris, nahe der Straße der Giganten. Acht Tagesreisen etwa von hier entfernt. Meine Großmutter sagt, sie wollte damals weg vom Ort des Unglücks, sie hat die Faunenmühle verkauft, und hier in Loreshom haben uns Verwandte aufgenommen.“

„Acht Tagesreisen? Das ist weit.“ Dario seufzte. „Hin und zurück sind das schon ein halber Mond. Wir müssten die Hochzeit wirklich verschieben. Und das alles nur, weil deine Großmutter dir irgendeine alte Fabel erzählt hat.“

Jerusha war nahe daran, die Geduld zu verlieren. „Verdammt, Dario, es ist keine alte Fabel, und das ist dir genauso klar wie mir, sonst hättest du Xiranthar gar nicht erst gefragt. Wenn wir nichts tun, dann –“

Dario wirkte verärgert, vielleicht fühlte er sich von ihr bloßgestellt. „Tja, dann? Vielleicht passiert einfach gar nichts.“

„Willst du das wirklich riskieren?“

„Moment, und diese acht Tage, das sind Tagesreisen zu Pferde, oder? Deine Familie hat kein Pferd.“ Eine Spur von Verächtlichkeit hatte sich in Darios Ton geschlichen, und Jerusha spürte Röte in ihre Wangen steigen. Nein, ein Pferd hatten sie keins, und auch sonst nicht viel. Mit dem einstigen Reichtum der KiTenaros war es vorbei, zu schwer hatte der Fluch ihren Clan getroffen.

„Ich dachte, vielleicht könntest du mir das Geld geben, um eins zu kaufen.“ Die Bitte fiel Jerusha schwer. Aber schließlich war Dario wohlhabend, und er war ihr Verlobter, was sollte also dagegen sprechen?

„Vergiss es“, sagte Dario hart. „Ich möchte nicht, dass du weggehst. Wenn du ein Pferd willst, dann wirst du es dir selbst kaufen müssen. Oder leih dir eins. Das wird aber niemand machen, weil jeder hier seinen Gaul selber braucht.“

Eigentlich hatte sie ihn fragen wollen, ob er mit ihr kommen würde. Doch erst war es nicht der richtige Moment gewesen, und jetzt war ihr nicht mehr danach zumute.

„Herzlichen Dank für dein Verständnis“, fauchte Jerusha, sprang auf und klopfte Gras und Erde von ihrem Rock. Ohne einen Blick zurück marschierte sie davon. Nie hätte sie gedacht, dass Dario sie so im Stich lassen würde! Hatte er denn kein Interesse daran, dass der Fluch gelöst wurde, der immerhin auch ihn betraf? Vielleicht nahm er die ganze Sache noch immer nicht richtig ernst.

„Wenn du auf diese blödsinnige Reise gehst, dann wenigstens bewaffnet und nicht allein, sonst ist es viel zu gefährlich, Jerusha! Nimm jemanden mit“, rief Dario ihr nach.

Jerusha drehte sich noch einmal um. Na gut! „Kommst du mit mir?“

Er zögerte, doch dann schüttelte er den Kopf. „Ich würde es tun. Aber ich habe gerade so viele Aufträge.“

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Jerusha um und ging zu ihrem Haus zurück. Dort holte sie als erstes ihre lederne Börse hervor und sah nach, wie es um ihre Ersparnisse bestellt war. Gar nicht so schlecht, dort klimperten drei Silber, zehn Dag und sieben Ulder. Andererseits brauchte sie mindestens einen Silber für die Hochzeitsfeier, denn ihr wurde langsam klar, dass Dario wahrscheinlich ihren Anteil an den Kosten des Fests einfordern würde. Womöglich fand er das nicht einmal seltsam. Außerdem würde sie Liri und ihrer Mutter Geld dalassen müssen, damit sie in der Zeit, in der Jerusha nichts verdiente, halbwegs versorgt waren – dafür legte sie einen weiteren Silber und fünf Dag auf die Seite.

Jetzt war nicht mehr viel übrig. Ein Pferd bekam man nicht für weniger als acht Dag, das hieße, sie hätte kaum noch etwas für Unterkunft und Verpflegung übrig. Verdammt seien Dario und sein Geiz! dachte Jerusha und hielt dann erschrocken inne, weil ihr bewusst wurde, dass sie gerade ihren zukünftigen Mann verfluchte. Nein, nie wieder würde sie gedankenlos vor sich hin fluchen, nicht einmal, wenn ein Riss im Stein ihr die Skulptur ruinierte!

Mit Bitterkeit im Herzen ging Jerusha zu dem Schuppen, in dem sie ihre eigene kleine Bildhauerwerkstatt eingerichtet hatte. Ein paar ältere Werke, die sie ohne Auftrag angefertigt hatte, standen dort und hatten schon ein wenig Staub angesetzt. Die um Futter bettelnde Katze, ein Falke und ein paar Gesichter, die sie als Kind aus dem weichen Flussstein geschabt und gefeilt hatte. Ein paar Studien von Händen in verschiedenen Gesten. Auf einem niedrigen Regal waren einige Tonmodelle aufgereiht, darunter auch Shi mit dem Drachen; Jerusha fertigte immer erst ein kleines Modell, bevor sie eine wichtige Stein- oder Bronzeskulptur begann. Aber auch drei größere Arbeiten standen im Schuppen: Zwei Liebende aus schwarzem Vulkanstein, die sich in unendlicher Zärtlichkeit verbunden waren; die Konturen ihrer Körper flossen ineinander. Liris Gesicht im Profil beim Bogenschießen, kurz bevor sie den Pfeil von der Sehne schwirren ließ; zum ersten Mal war es Jerusha gelungen, ihre klare Konzentration in diesem Moment einzufangen. Sie hatte einen hellen Kalkstein verwendet, um Liris strubbelige blonde Haare gut wiedergeben zu können.

Eine Gruppe von spielenden Kindern; damals hatte Jerusha zum ersten Mal Marmor ausprobiert und festgestellt, dass das Zeug unglaublich hart war, und die Splitter, die sich bei der Arbeit am Stein lösten, messerscharf. Weil sie sich den teuren Stein nicht leisten konnte, hatte sie nachts eine Schubkarre voll aus einem Steinbruch nahe Ehandu geklaut. Gut, dass das nie herausgekommen war. Eigentlich war es ganz lustig gewesen; sie hatte sich für den Raubzug das Gesicht schwarz bemalt und ihr altes Hemd mit Eichenteer eingerieben. Es hatte funktioniert, der Wachhund war mit eingekniffenem Schwanz vor ihr geflüchtet.

Alle anderen Skulpturen hatte sie schon verkauft. Die Gestalt eines lauernden Xhers aus schwarz-grünem Granit hatte ihnen ein neues Dach beschert; das alte war ungefähr so dicht gewesen wie ein Sieb. Leider hatte sie für den Xher auch vier Monde gebraucht, denn Granit war eins der härtesten Gesteine überhaupt, und zudem hatte sie nicht viel Zeit gehabt, um neben ihrer Arbeit am Tempel daran weiterzumachen.

Zum Glück gab es im Dorf jemanden, der als Käufer für Skulpturen infrage kam. Jerusha verlor keine Zeit und machte sich auf den Weg zu ihm.

Pacuro JiLardem war Ortsvorsteher von Loreshom, ein gewitzter alter Bauer, der Probleme freundlich und gelassen regelte und dabei gar nicht daran dachte, die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen. Pacuro war ein begeisterter Sammler. Seine Frau Zhara hatte sich regelmäßig aufgeregt, wenn er neue Stücke ins Haus brachte, während sie gerade kurz nicht aufgepasst hatte. Die beiden hatten sich wilde Wortgefechte geliefert, und ein paarmal waren sogar Wurfgeschosse von innen durch die Fenster geklirrt. Anschließend konnte man Pacuro dabei beobachten, wie er betrübt die Scherben durchharkte, um sein neuestes Stück wiederzufinden. Seit Zhara tot war, ging Pacuro fast täglich mit geschulterter Spitzhacke auf Wanderschaft durch die Umgebung des Dorfs, denn seine neueste Leidenschaft war es, den Boden nach Überbleibseln alter Schlachten zu durchwühlen.

„Sieh dir das mal an, Jerusha“, sagte er, nachdem er sie in sein großes, seit mindestens zwei Sommern ungeputztes Haus gebeten hatte, und präsentierte ihr stolz eine vom Rost zerfressene Speerspitze. „Habe ich heute erst gefunden.“

Jerusha versuchte, das Ding schön zu finden, aber es gelang ihr nicht so recht. „Äh, ja, sehr interessant“, versicherte sie Pacuro und büßte es mit einer Führung durch den Rest seiner Sammlung. Er hatte sogar ein uraltes, seltsam geformtes Schwert entdeckt, und sein Paradestück war ein erstaunlich gut erhaltener Brustpanzer. Darüber hinaus hatte er noch Dutzende von metallnen Knöpfen, fast fünfzig Pfeilspitzen und Einzelteile von Kettenhemden.

„Wieso liegt hier eigentlich so viel von dem Zeug im Boden?“ wunderte sich Jerusha.

Pacuro vergrub die Hände noch tiefer in den Taschen. „Viel weiß ich auch nicht darüber. Nur, dass hier, an den Ufern des Lint, eine schreckliche Schlacht stattgefunden haben muss, vor sehr, sehr langer Zeit. Und nicht alle der Teilnehmer waren Menschen.“

Ein Schauer überlief Jerusha. „Wer war denn da noch?“

Wortlos zeigte er ihr eine vollendet elegante, silberne Pfeilspitze, die von Gravuren bedeckt war. Reflexe liefen über ihre Oberfläche, als Pacuro sie im Licht drehte und wendete. „Eliscan, glaube ich. Sieh dir das Ding doch an – es ist wahrscheinlich ein paar tausend Jahresläufe alt, sieht aber aus wie neu. So etwas kann kein Mensch schmieden, nicht mal der gute Andros, mein verehrter Schwiegersohn, der sich so viel drauf einbildet, was er alles zustande bringt.“

Fasziniert nahm Jerusha die Pfeilspitze in die Hand. Schön wie ein Kunstwerk war sie. Jerusha wusste nicht viel über die Eliscan; es hieß, sie seien doppelt so groß wie der größte Mensch und schön von Gestalt, bis auf ihre Augen, die wie Feuer loderten. Kein Sterblicher vermöge ihnen im Kampf zu widerstehen, da sie magische Fähigkeiten besäßen. Soweit bekannt, lebten sie im benachbarten Reich Khorat und vollzogen dort abscheuliche Zeremonien, bei denen das Herausreißen von Herzen bei lebendigem Leibe eine wichtige Rolle spielte.

Wie seltsam, dass diese widerlichen Geschöpfe solche herrlichen Dinge erschaffen haben, ging es Jerusha durch den Kopf.

„Ach ja, wenn wir schon darüber sprechen, wer etwas zustande bringt“, versuchte sie ihn auf ihr eigenes Anliegen zu lenken. „Ich wäre jetzt bereit, ein paar meiner Arbeiten zu verkaufen. Gesehen hast du sie ja schon.“

„Na endlich!“ Pacuros runzeliges Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Aber wieso? Brauchst du Geld?“

„Ja, ich muss auf eine Reise gehen und würde gerne ein Pferd und das Zaumzeug dazu kaufen.“ Jerusha war entschlossen, nicht viel mehr zu verraten.

„Hm.“ Pacuro rieb sich die Nase. „Ist jetzt zufällig auch dieses Porträt der Bogenschützin zu haben?“

Das hatte Jerusha fast erwartet. „Vergiss es, Pacuro. Das ist nicht irgendeine Bogenschützin, sondern meine Schwester! Ich würde mir mieser vorkommen als ein Haufen Entenkot, wenn ich Liris Bildnis verkaufen würde.“

„Gut, dann nehme ich die Marmorkinder. Wie viel willst du dafür haben?“

Jerusha zwang sich, „Zwei Silber“ zu sagen. Das war ein stolzer Preis, aber sie brauchte das Geld, und Pacuros Clan gehörten fast sieben Höfe im Dorf, die im letzten Jahr alle eine gute Ernte eingefahren hatten. Doch Pacuro war ein gewitzter Händler, und es dauerte eine Weile, bis sie sich auf ein Silber und vier Dag geeinigt hatten. „Aber, weißt du was, wir können uns auch auf ein Silber plus ein Pferd verständigen“, schlug Pacuro vor. „Mein Vetter hat eine Stute gekauft, die er eigentlich vor die Kutsche spannen wollte, aber sie dreht jedes Mal durch, wenn er es auch nur versucht, und er will sie wieder loswerden.“

O je, das klang nach einem schwierigen Ritt. Doch vier Dag waren ein sehr guter Preis, und Jerusha wusste, dass sie es sich nicht leisten konnte, abzulehnen. Vielleicht konnte sie das Pferd nach ihrer Rückkehr zu einem besseren Preis in Reth Elshak wieder verkaufen. Und so wurde sie Besitzerin von Amadera, einer fuchsfarbenen Stute mit langen Beinen und freundlichem Blick – jedenfalls, solange man ihr keine Kutsche zeigte.

Ohne noch länger zu zögern, begann Jerusha ihre Sachen zu packen und in die neu erworbenen Satteltaschen zu stopfen. Sie überlegte, ob sie ihren Langbogen aus Eschenholz und einen Köcher mit Pfeilen mitnehmen sollte, so wie Dario es ihr geraten hatte. In ihrer Kindheit hatte ihr Großvater Fenvar, ein berühmter Bogenschütze, begonnen, sie in seiner Kunst zu unterrichten. Doch schon nach wenigen Tagen hatte er mitten in einer Übung kühl festgestellt „Du hast schlechte Augen“, und war ohne ein weiteres Wort gegangen. Danach hatte ihre Mutter sie jeden Tag nach der Dorfschule weiter unterrichtet und sie so lange üben lassen, bis Jerusha völlig instinktiv schoss. Doch das glich nur geringfügig aus, dass sie auf größere Entfernungen einfach nicht scharf sah.

Ach, was soll´s, dachte Jerusha schließlich und hängte sich den Bogen über die Schulter. Ich muss eben nah genug herankommen, bevor ich schieße.

Sie bat das junge Paar vom Hof nebenan, Nicojem und seine schwangere Frau Bylla DoAland, ein Auge auf Liri zu haben und dafür zu sorgen, dass sie die Dorfschule nicht schwänzte, so wie ihre nichtsnutzige Schwester damals. Auch Kianna versprach, nach dem Rechten zu sehen.

Ihre Freundin konnte es anscheinend nicht fassen, dass Jerusha das Dorf verließ. „Die Hochzeit verschieben, und das, obwohl Dario dagegen ist! Ich hoffe, du weißt, was du tust. Und du willst mir wirklich nicht sagen, warum?“ Mit einer fahrig wirkenden Geste rückte sie ihren Lieblingshut, den eine bunt gefärbte Fasanenfeder zierte, zurecht. Er thronte gerade auf einer Statuette von Kianna, die Jerusha aus Alabaster gefertigt und ihrer Freundin zum Namenstag geschenkt hatte.

„Es tut mir leid“, sagte Jerusha niedergeschlagen. „Aber es geht nicht.“

Kianna sah nicht sehr besänftigt aus. „Hier ist dein Kleid, es ist fertig. Wickele es gut ein, damit die Motten nicht drankommen.“

Jerusha umarmte Kianna fest und raffte vorsichtig das Seidenkleid zusammen, um es zu Hause in einem Schrank zu verstauen.

Die Nacht, die folgte, war schlimm – Angst und Zweifel krochen in Jerusha hoch und hielten sie Stunde um Stunde wach. Tue ich das richtige? Soll ich nicht doch lieber warten bis nach der Hochzeit, und dann erst losreiten? Das ist doch alles völlig überstürzt. Erst am nächsten Morgen kehrte ihre Entschlossenheit zurück. Warten und hoffen war nicht der richtige Weg.

Amadera war fertig gesattelt, und nun standen sie alle vor dem kleinen Hof der KiTenaros; ihre Mutter hielt die Zügel der Stute, während Jerusha sich von Liri verabschiedete. Ihre Mutter wirkte so gleichgültig wie sonst auch und ihre Großmutter war in stumme Trauer versunken. Jerusha hatte nicht das Gefühl, ihnen nahe zu sein. Bei Liri war das anders. Ihre kleine Schwester weinte.

„Passt du für mich auf die Nachtlilien auf?“ flüsterte Jerusha ihr zu, als sie sich umarmten, und Liri nickte. „Natürlich. Jeder, der versucht, sie zu pflücken, bekommt einen Pfeil zwischen die Rippen!“

Liri wusste, wohin Jerusha ritt. Ohne ihre Mutter zu fragen hatte Jerusha entschieden, dass Liri ein Anrecht darauf hatte, die Wahrheit zu erfahren – schließlich betraf der Fluch auch sie. Jerusha war erstaunt gewesen, wie gefasst Liri reagiert hatte. Vielleicht hatte sie schon vor langer Zeit gespürt, dass etwas bei den KiTenaros nicht stimmte.

Auch Dario hatte sich vor dem Hof eingefunden, und nun schloss er Jerusha in die Arme. „Entschuldige, dass ich mich so unverzeihlich benommen habe“, flüsterte er ihr ins Ohr. „So etwas wird nie wieder vorkommen. Glaub mir, ich schäme mich!“

„Solltest du auch“, sagte Jerusha, und erst nach kurzem Zögern erwiderte sie seinen Kuss.

„Ich habe ein Abschiedsgeschenk für dich.“ Dario drückte ihr einen kleinen Gegenstand, der in graue Seide eingewickelt war, in die Hand. Jerusha packte ihn aus, doch ihr Lächeln schwankte und wäre beinahe erloschen, als sie sah, was es war. Ein kleiner Handspiegel mit graviertem Silberrahmen. Meinte er das ernst? Erst zwang er sie, eine ihrer Skulpturen zu verkaufen, und jetzt machte er ihr ein so teures Geschenk. Noch dazu einen Spiegel – sie war sicher, dass sie ihn die meiste Zeit in seiner Seidenhülle lassen würde. Und hatte er nicht daran gedacht, dass es unklug war, etwas Wertvolles mit auf eine solche Reise zu nehmen? Es würde ihr doch nur gestohlen werden.

„Bitte benutz ihn, ich glaube es wäre gut für dich“, sagte Dario, und seine sanften Augen ruhten auf ihr. „Und komm bitte möglichst bald zu mir zurück.“

„Ich versuch´s“, erwiderte Jerusha mit einer Spur von Kühle und hob die Hand zum Abschied. Dann stieg sie auf, schnalzte mit der Zunge und trieb Amadera an. Gehorsam setzte sich die Stute in Bewegung und trug sie aus Loreshom hinaus.

Eine wilde Mischung von Gefühlen durchflutete Jerusha. Eine so große Reise, ihre erste. Schon oft hatte es sie gelockt, ferne Fürstentümer zu besuchen und Länder, die hier im Dorf noch nie jemand gesehen hatte. Jetzt würde sie zumindest mal nach Benaris kommen.

Wie schade, dass der Anlass ein so scheußlicher ist, dachte Jerusha grimmig und ließ Amadera lostraben.

Nachtlilien

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