Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 4

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Langsam und widerwillig schlug Kiéran die Augen auf. Es musste früher Morgen sein. War es schon hell draußen? Er wusste es nicht, wieder ließen ihn seine Augen im Stich. Schwärze war um ihn, nichts als Schwärze. Und wie immer in den letzten Tagen war ihm, als stürze er, falle immer weiter; und es gab nichts, woran er sich festhalten konnte…

Kiéran merkte, dass er den Atem in kurzen Stößen hervorpresste, und versuchte sich zu entspannen. Verzweifelt konzentrierte er sich auf das, was er spürte. Selbst der Schmerz war willkommen, doch der war längst nicht mehr so brennend wie zu Anfang und taugte kaum noch als Ablenkung. An seiner Hüfte und am linken Arm war nur noch ein unangenehmes Pochen, das sich ertragen ließ; auch die Wunden an der linken Seite seines Gesichts fühlten sich nicht mehr so an, als habe jemand ein Messer in seiner Wange stecken lassen. Solange er nicht den Fehler machte, sich zum Schlafen auf die Seite zu legen.

Vielleicht werde ich nie erfahren, wie ich jetzt aussehe. Einer der giftigen Gedanken hatte es geschafft, sich in seinen Kopf zu schleichen, und schon stand Kiéran nur einen Schritt vom Abgrund entfernt. Mühsam zwang er sich, seinen Geist leerzuwischen wie die große Holztafel im Strategiezimmer, auf der sie immer mit Holzkohle Truppenbewegungen skizziert hatten in den atemlosen Stunden vor einem Gefecht. Ob er das noch einmal erleben würde?

Nicht nachdenken. Bloß nicht nachdenken. Kiéran sandte alle Aufmerksamkeit in seine Fingerspitzen. Er ließ eine seiner Hände über die kratzige Decke tasten, die nach Angst und feuchter Wolle roch durch den Schweiß seiner Alpträume. Ließ sie an der schmalen Matratze entlanggleiten, deren Füllung bei jeder Bewegung leise knisterte und eine nach Heu und Kräutern duftende Wolke aussandte. Seine andere Hand schob sich nach oben, über die glatten, eng zusammengefügten Steine der Außenwand. Es gab kein Fenster, soviel wusste er schon, doch von oben spürte er einen Luftzug auf der Haut, es musste eine Lüftungsklappe unter dem Dach geben.

Da – der Gong. Sein tiefer, satter Ton hallte durch den ganzen Tempel, der Weckruf für alle Bewohner. Aber eine Morgenspeise gab es noch lange nicht. Jetzt würden die Novizen und Priester eine stille Zwiesprache mit dem geheimnisvollen Etwas halten, das sie verehrten und dessen Namen Kiéran schon fast wieder vergessen hatte. Ach ja, Oscurus. Was auch immer das war. Es hatte irgendetwas mit den Schwarzen Spiegeln zu tun, denen der Tempel gewidmet war.

Kiérans Gedanken eilten zur Quellenveste – der Burg des AoWesta-Clans – und zu dem, was seine Kameraden jetzt wohl taten. Kurz vor der Morgendämmerung war Ablösung: Die Morgenwache rückte gerüstet und bewaffnet aus, um ihren und Kiérans Dienstherren, Fürst AoWesta, zu beschützen; die Nachtwache kehrte müde in die Baracken zurück. Dort drängten sich die anderen Mitglieder der Terak Denar – der Elitetruppe des Fürsten – sicher gerade gähnend in den Waschräumen. Kiéran selbst war um diese Zeit normalerweise schon in Uniform gewesen, auf dem Weg zur ersten Besprechung mit seinem Kommandanten Xen TeRopus und den anderen Offizieren.

Und hier? Nichts zu tun. Nur Leere. Stille. Schwärze. Wieso nur ließen seine Leute ihn nicht holen? Sie hätten längst hier eintreffen müssen! Das Gefecht an der Grenze zu Thoram, bei dem er verletzt worden war, war schon sieben Tage her, wenn er richtig gezählt hatte. Kiéran hatte von den Priestern erfahren, dass die Terak Denar danach in aller Eile abgezogen waren, anscheinend wurden sie an einem anderen Ort des Fürstentums gebraucht. Trotzdem, sieben Tage waren mehr als genug Zeit, um ein paar Leute auf die Suche nach ihm zu schicken. Oder ihm wenigstens irgendeine Nachricht zu senden. Selbst wenn keiner unserer Leute mitbekommen hat, dass die Priester mich in Sicherheit gebracht haben, was ist mit meiner Botschaft an Xen? Da steht doch drin, was geschehen ist und wo ich bin! Hat er sie womöglich nicht erhalten?

Langsam und vorsichtig richtete sich Kiéran auf. Er hielt es nicht mehr länger aus auf seinem Krankenlager. Vorsichtig schwang er die Beine zur Seite und stellte die Füße auf die kühlen Steinplatten des Bodens. Sobald er sich bewegte, begann sein Schädel wieder zu schmerzen, ihm wurde schwindelig. Kiéran unterdrückte ein Stöhnen, stützte den Kopf in die Hände und wartete, bis es wieder etwas besser wurde. Der Krieger, der ihn erwischt hatte, musste mit voller Wucht zugeschlagen haben. Ein Wunder, dass sein Helm das ausgehalten hatte. Und doch war irgendetwas zerbrochen in seinem Kopf, sonst würden seine verdammten Augen ja mitspielen. Bestimmt brauchten sie nur etwas Zeit, dann erholten sie sich wieder; andererseits, waren sieben Tage nicht Zeit genug?

Vielleicht bin ich für immer blind. Der Gedanke brannte durch ihn hindurch, so heftig, dass er es nicht schaffte, ihn wegzuschieben. Kiéran ballte die Fäuste und biss die Zähne so fest zusammen, dass die Muskeln und Sehnen an seinem Hals hervortraten.

Ein metallisches Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Jemand hatte die Tür geöffnet. Leise Schritte, das Schaben von Bastsohlen auf Steinboden.

„Gelobt sei das Oscurus, möge seine Kraft nie versiegen!“ begrüßte ihn eine heitere Stimme. Gerrity, einer der Novizen. Kiéran mochte ihn. Er war ein ehemaliger Taschendieb, der das bequeme Leben im Tempel genoss. Seine Frömmigkeit und sein Fleiß hielten sich in Grenzen, was bedeutete, dass er sich häufig Zeit nahm, mit Kiéran zu plaudern.

Kiérans Anspannung löste sich. Er wandte den Kopf der Stelle zu, an der er die Tür vermutete. „He, Gerrity, ist jetzt nicht stille Besinnung dran oder so was?“

„O ja, dieses ständige Meditieren ist lästig wie Flir. Aber die Wände sind dick, hier hört uns niemand. Und, wie geht´s heute?“

Kiéran versuchte sich an einem Draufgängergrinsen. „Bestens. Ich werde gleich aufspringen und irgendwelche Heldentaten vollbringen.“

Gerrity musste lachen. „Sind alle Terak Denar so schlechte Lügner?“ Er machte sich

daran, Kiérans Wunden zu reinigen und die Verbände zu wechseln. „Immerhin scheint dein Ross – dieser schwarze Teufel – wieder ganz gesund zu sein, jedenfalls hat er heute Morgen so oft ausgetreten, dass er fast seinen Verschlag zerlegt hätte.“

„Er braucht Bewegung. Reitet ihn jemand?“

„Bist du wahnsinnig? Das traut sich keiner. Nicht mal Zarius. Aber er behauptet natürlich, es sei gegen die Ehre, das Pferd eines anderen zu nehmen.“

Au, verdammt. Am meisten schmerzte es, wenn der Gesichtsverband abgeschält wurde. Zum Glück hatte Gerrity geschickte Finger; die waren ihm in seinem früheren Beruf bestimmt nützlich gewesen.

„Ich werde heute mal bei ihm vorbeigehen“, sagte Kiéran und seufzte. Wenn Reyn schlechte Laune hatte – und das war nach sieben Tagen im Stall völlig normal –, dann war es selbst für seinen Herrn ein Risiko, zu ihm zu gehen. „Frag euren geschätzten Stallmeister, warum bei Xatos´ Rache er mein Pferd nicht auf die Weide lässt.“

„Das kann ich dir auch so sagen. Zarius hat Angst, dass das Vieh einfach über den Zaun hüpft und sich davonmacht.“

Keine unbegründete Sorge. Reyn konnte springen wie ein Hirsch. Und Kiéran hatte keine Ahnung, wie hoch die Koppeln des Tempels eingezäunt waren.

Ein schwappendes Geräusch verriet Kiéran, dass der Novize gerade frisches Wasser in seinen Waschtisch geschüttet hatte. Dann ein Rascheln. „Hier ist frische Kleidung, eine unserer Roben. Der Erste Priester Dinesh schickt seine Grüße. Ach ja, und er lässt fragen, ob du dich schon imstande und geneigt fühlst, an der Ertüchtigung teilzunehmen.“

„Teilnehmen wohl kaum“, sagte Kiéran. Ertüchtigung nannte sich das morgendliche Kampftraining. Denn die Priester des Schwarzen Spiegels waren ein wehrhafter Orden; sie wussten sich zu verteidigen und halfen den umliegenden Dörfern, wenn diese von feindlichen Truppen oder Plünderern überfallen wurden. Tägliche Übungen mit der Waffe waren Pflicht, ebenso wie bei den Terak Denar. Schon seit Tagen lauschte Kiéran aus der Entfernung dem Klang von Stahl auf Stahl, seine Ohren hatten längst erkannt, mit welchen Waffen die Priester kämpften, welche Qualität ihre Übungsschwerter hatten und wie viele Menschen sich an der Ertüchtigung beteiligten. Er schätzte, dass mehr als zwanzig Priester sich jeden Tag zu den Übungsstunden versammelten.

„Ja, ich weiß, deine Augen.“ Auf einmal klang Gerrity verlegen. „Aber ich glaube, wir könnten trotzdem eine Menge von dir lernen. Seit Meister Kermac an einer Geschwulst gestorben ist und Otris übernommen hat, ärgern sich alle über die schlechte Ertüchtigung. Und du warst schließlich –“

„Ja“, unterbrach ihn Kiéran schroff. Er wollte das nicht hören. Ein eisiges Kribbeln kroch in ihm hoch bei dem Gedanken, wieder auf einem Kampfplatz zu stehen. Besser, er schob diesen Moment der Wahrheit noch ein wenig hinaus, bis er wieder etwas sehen konnte, selbst wenn es nur Licht und Schatten war. „Bitte sag Priester Dinesh – sag ihm, dass ich noch nicht bereit bin.“

„Mach ich.“ Gerrity klang enttäuscht.

„Viel mehr würde mich diese Zeremonie der Schwarzen Spiegel interessieren.“

„Ah! Verstehe ich. Aber leider – vergiss es. Diese Geheimnisse hüten die Priester wie bissige Hunde. Noch nie habe ich einen Fremden bei der Zeremonie gesehen.“

„Trotzdem. Ich könnte Dinesh einfach mal fragen.“ Kiéran wusste selbst nicht genau, warum er nicht locker ließ. So wichtig war ihm die Sache eigentlich gar nicht.

„Tu das. Wenn ein einfacher Erdenwurm wie ich, der noch nicht das Arithón trägt, dumm nachfragt, dann wird er leicht zu zwei Wochen Dienst bei den stinkenden Fledermauskäfigen verdonnert. Aber du bist ein Gast, vielleicht ergeht es dir besser.“

„Das Arithón?“

„Ein Ding aus geschliffenem Metall, das die Priester auf der Stirn tragen. Es wird bei der Priesterweihe verliehen. Kann´s dir ja leider nicht zeigen, es ist recht schön. Schwarzes Metall mit silbernen Symbolen.“

Zum Glück war Gerrity inzwischen fertig mit dem Wechseln der Verbände. Kiéran bedankte sich und tastete auf dem Bett nach der Robe, er spürte den festen Stoff zwischen den Fingern. An den Rändern verlief eine Borte mit rituellen Stickereien, anscheinend Schriftzeichen. Die Säume der Robe fühlten sich eigenartig wulstig an. „Was ist das hier?“

„Da ist Eulengras eingenäht“, gab Gerrity bereitwillig Auskunft. „Stellt den richtigen Fluss der Energien sicher.“

Kiéran hob die Augenbrauen. Sollte er dieses Ding wirklich tragen? Es würde sich eigenartig anfühlen und sehr fremd. Aber er hatte keine Wahl. Der größte Teil seiner Uniform der Terak Denar war unrettbar hinüber, nur der dunkelrote Lederpanzer mit den stachelförmigen Stufen an den Schultern hatte das Gefecht überstanden und lag jetzt in einer Ecke der Kammer. Auch die dunkelroten Unterarmmanschetten mit den eingearbeiteten, nach außen zeigenden Metallstacheln waren unbeschädigt. Den eingedellten Helm mit dem Relief eines wütend knurrenden Wolfs hatte er als Andenken behalten. Keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, ihm das Ding vom Kopf zu ziehen. Zum Glück war er bewusstlos gewesen.

„Ach ja, es ist nicht zufällig eine Nachricht für mich eingetroffen?“ fragte Kiéran beiläufig. „Von Fürst AoWesta oder den Terak Denar?“

„Nein, nichts.“

„In Ordnung“, sagte Kiéran nur. „Danke, Gerrity.“ Regungslos blieb er auf dem Bett sitzen, bis er die Tür zufallen hörte.

Bald. Bald würden sie ihn zurückholen. Er musste nur ein wenig Geduld haben.

Und jetzt besuchte er besser Reyn, bevor ein Unglück geschah.

Nachtlilien

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