Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 6

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„Ich bin´s.“ Kiéran hatte sehr leise gesprochen, doch er wusste, dass Reyn ihn längst gesehen und gewittert hatte. Und tatsächlich, der Hengst donnerte nicht mehr mit den Hufen an die Wände seines Verschlags. Kiéran hörte ihn schnauben. Ob er sich schon näherte? Durch die weiche Streu, die den Hufschlag dämpfte, war es schwer zu sagen.

„Es ist Thar, dieser verdammte Schmied, der mir die Pferde scheu macht.“ Es war die Stimme des Stallmeisters Zarius. „Ich weiß, die Messer zu fertigen ist wichtig für den Tempel, die Dinger sind ja berühmt in ganz Ouenda, aber ständig zieht der Rauch hier herüber, das hält kein Mensch aus, von so einem armen Tier ganz zu schweigen, und dieses Gehämmer! Schrecklich. Dabei ist gerade Minitte so nervös.“

Seit er hier war, plapperte dieser Mann drauflos, der Wortschwall nahm kein Ende.

Schweigend hob Kiéran die Hand, und zum Glück begriff der Stallmeister und hielt endlich den Mund.

Das Geräusch eines Pferdes, das näherkam. Kiéran fühlte sich schrecklich unsicher. Um ihn herum war nichts als Dunkelheit. Wie soll ich erkennen, wie Reyn dreinblickt und die Ohren stellt, wie er sich bewegt, ob er gleich schnappen wird? Ich könnte Zarius fragen. Nein, auf keinen Fall! Lieber lasse ich mich von Reyn beißen.

„Los, komm her, Schwarzer“, sagte Kiéran, streckte die Hand aus und rechnete fast damit, dass er es bereuen würde. Seine Finger streiften über glattes Fell, dann spürte er den nach Heu riechenden Atem, den Reyn ihm entgegenblies, und weiche Nüstern drückten sich gegen seinen Arm. Der Hengst zupfte nur einmal kurz mit den Zähnen an seinem Ärmel, aber das wirkte eher spielerisch.

Einen Moment lang konnte Kiéran kaum sprechen, während er Reyn streichelte. Ein Freund an diesem düsteren Ort, wie viel das wert war. Sein Schwert war auf dem Schlachtfeld geblieben, wahrscheinlich prahlte jetzt einer der Männer aus Thoram damit. Womöglich Cerdus Maharir persönlich. Nein, der nicht, angeblich war auch er schwer verletzt worden. Vielleicht einer seiner Truppenführer. Wahrscheinlich würde AoWesta ihm ein neues gutes Schwert schenken, wenn er zurückkam – aber wohl kaum noch mal eines aus Sternenstahl, die waren zu selten.

„Euer Hengst ist ein prächtiges Tier“, wagte Zarius jetzt zu sagen. „Aus der Zucht von Tinad´alshar?“

„Ja. Und er weiß es zu schätzen, wenn man sich gut um ihn kümmert“, sagte Kiéran freundlich, aber mit Nachdruck. „Ihr werdet ihn ab jetzt auf die Weide führen?“

„Natürlich.“ Zarius zögerte. „Wenn wir ihn vielleicht als kleine Gegenleistung zu ein paar Stuten lassen könnten? Ich glaube, Iwella wird bald rossig.“

„Gut, warum nicht. Er hat schon ein paar schöne Fohlen gezeugt.“ Sollte Reyn ruhig seinen Spaß haben.

Nach der Mittagsvesper, in der immer einer der Priester heilige Schriften rezitierte, begannen die Arbeitsdienste. Es war eine Zeit, in der sich Kiéran besonders nutzlos fühlte. Vielleicht konnte er jetzt, wo er wieder auf den Beinen war, irgendwo mithelfen – sogar in der Küche mit anzupacken wäre eine nette Abwechslung. Ein hoher Offizier der Terak Denar beim Kartoffelschälen – warum nicht? Es sah ihn ja niemand aus der Quellenveste dabei. Und er war richtig gut darin, in seinen ersten beiden Jahren bei der Truppe war er oft genug dazu abkommandiert worden. Doch Kiéran hatte den Verdacht, dass seine Hilfe in der Küche gar nicht erwünscht war, der Dienst dort war laut Gerrity bei den Novizen sehr beliebt. Es war die einzige Zeit, in der sie der eisernen Disziplin des Tempels entfliehen konnten – nach der Vesper schollen regelmäßig Lachstürme herumalbernder Novizen aus der Küche, und keiner der Priester schritt ein.

Zuerst musste er jetzt aber dringend eine weitere Nachricht an Xen TeRopus, seinen Kommandanten, abschicken. Wenn er genau darüber nachdachte, war seine erste Botschaft arg gekritzelt gewesen, vielleicht hatte niemand sie lesen können. Besser wäre gewesen, er hätte sie jemandem im Tempel hier diktiert. Oder konnte sie irgendwie verloren gegangen sein? Womöglich dachten Santiago, Tarxas und die Rautenführer seiner Truppe – der Escadron Blau – er sei von den Soldaten aus Thoram gefangen genommen worden.

„Soll ich Euch auf dem Rückweg geleiten?“ fragte Zarius, doch Kiéran winkte ab und machte sich alleine auf den Weg von den Ställen zum Hauptgebäude. Doch es war schwieriger, als er gedacht hatte. Immer wieder kam er vom gepflasterten Pfad ab und spürte weiche Erde unter seinen Schuhen. Wahrscheinlich lief er in einem irren Zickzackkurs, hoffentlich sah ihm dieser Zarius nicht hinterher. Er war froh, als er schließlich die Steinmauern des Tempels unter seinen Fingern spürte, um ein Haar hätte er sich die Stirn daran angeschlagen. Den ganzen Tag schon lief er gegen irgendwelche Wände.

„Habt Ihr etwas vergessen?“ Die verwunderte Stimme von Zarius.

Verdammt, ich bin im Kreis gelaufen!

„Ich wollte Euch nur noch sagen, dass Ihr Reyn nicht zuviel Hafer geben solltet, dann wird er sicher ruhiger.“

„Ja, natürlich.“ Das klang leicht beleidigt. Wahrscheinlich hielt der Kerl ihn für einen kompletten Idioten. Jeder, der mit Pferden zu tun hatte, wusste, dass sie mit dem Hafer knapp gehalten werden mussten, wenn sie kaum Bewegung bekamen.

Kiéran drehte um und ging mit vorsichtigen Schritten weiter. Doch schon nach kurzer Zeit berührten seine Hände hüfthohe Sträucher. Wo war er denn jetzt? Er hatte keine Ahnung mehr, wo sich der Eingang zum Hauptgebäude befand. Hilflose Wut auf sich selbst stieg in ihm auf. Verirrt! Auf diesem kurzen Weg. Xatos´ Rache, wenn ich doch nur sehen könnte! Ein kurzer Blick würde genügen, dann wüsste ich, wo ich bin.

„Sucht Ihr den Weg zum Tempel, Kiéran SaJintar?“ Eine weiche, angenehme Stimme und der Geruch nach Kräuterkaramellen: Das war Rinalania, die Zweite Priesterin und Heilerin des Tempels.

„Das Gelände ist ein bisschen unübersichtlich hier“, murmelte Kiéran und spürte, wie Rinalania ihn am Ellenbogen ergriff und sanft in eine bestimmte Richtung lenkte. Was für eine Demütigung! Aber er konnte noch froh sein, dass es nicht der geschwätzige Stallmeister gewesen war, der ihn hatte retten müssen.

„Ich muss auch zu meinen Räumen im Hauptgebäude, wir können zusammen gehen“, sagte die Priesterin freundlich. „Wartet, hier draußen ist ein gutes Licht, da kann ich mir Eure Augen genauer ansehen. Könnt Ihr schon etwas Helligkeit erkennen?“

„Nein, kein bisschen“, sagte Kiéran niedergeschlagen. Er spürte die Frühlingssonne warm auf dem Gesicht, doch keiner ihrer Strahlen durchdrang die Dunkelheit.

Rinalanias Stimme klang von schräg unten zu ihm herauf, anscheinend war die Zweite Priesterin kleiner als er. Das überraschte ihn nicht; selbst die meisten Terak Denar überragte er. Doch im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden sah er nicht wirklich aus wie ein Elitekämpfer, seine Kraft steckte in der sehnigen Geschmeidigkeit seines Körpers, nicht in beeindruckenden Muskeln. Noch immer gab es hin und wieder Gegner, die ihn unterschätzten, bis es zu spät war.

Er beugte sich zu Rinalania hinab, und jetzt betrachtete sie wohl prüfend seine Augen. Ob sie noch so aussahen wie früher? Eine eigenartige Farbe hatten sie, eine Art helles Braun – Goldbraun hatte Marielle es genannt. Sein Haar war weitaus dunkler, fast schwarz; so wie bei Offizieren vorgeschrieben hielt er es kurz geschnitten.

„Ich sehe keine Veränderung“, sagte Rinalania schließlich. „Wie erstaunlich, dass man Euren Augen die Verletzung nicht ansieht. Sogar die Pupille verändert sich, wenn Licht hineinfällt.“

„Dann könnte es doch sein, dass die Sehkraft wieder zurückkommt, oder?“

„Es tut mir wirklich, wirklich leid, Kiéran.“ Sie nannte ihn zum ersten Mal beim Vornamen, und das machte ihm Angst. Verzweiflung stieg in ihm auf. „Gibt es denn noch Heilkräuter, die etwas bewirken könnten? Ich habe gehört, ein Sud aus Wiesensternkraut und Kulmenrinde ...“

„Ja, natürlich, ja, das können wir noch ausprobieren.“ Jetzt klang Rinalania fast erleichtert und er ahnte ihre Gedanken. Lassen wir ihm diesen Strohhalm der Hoffnung! Helfen wird es kaum, aber immerhin schadet es auch nicht. „Es ist wirklich ein hartes Schicksal, dass Ihr erleidet. Wir hatten vor einem Mond ein halbes Dutzend Verletzte aus dem Dorf zur Genesung hier, aber keiner war so schwer getroffen wie Ihr.“

Kiéran zuckte die Achseln. „Wenn ich mich jemals darüber beschwere, dürft Ihr mich auslachen. Ich habe reichlich Blut von anderen vergossen, bevor ich selbst dran war.“

Auch wenn er keinen Wert auf ihr Mitleid legte, so redete er doch gerne mit Rinalania, sie klang ein bisschen wie Marielle. Hilflose Sehnsucht nach Milly, nach ihrem unbeschwerten Lachen, überfiel ihn. Ganz klar sah er sie vor seinem inneren Auge, die kurzen, strubbeligen blonden Haare, ihr hübsches herzförmiges Gesicht. Weil sie so groß und schlank war, hatte sie von ihren Freunden – die alle ebenso von edler Geburt waren wie sie – den Spitznamen Giraffe mitbekommen. Doch Kiéran gefiel es, dass er sie küssen konnte, ohne sich allzu weit herabzubeugen, und ihr Körper war biegsam wie ein Weidenzweig in seinen Armen. Sie wollten heiraten, sobald er zum Tar-Kommandanten – dem stellvertretenden Befehlshaber – ernannt worden war, und Xen TeRopus hatte angedeutet, dass das unmittelbar bevorstand.

Bevorgestanden hatte.

Auf einmal war Kiéran mulmig zumute.

Marielle und ihre Eltern lebten in Yantosi, ein gutes Stück von hier entfernt, doch längst musste seine Nachricht sie erreicht haben; ihre Antwort würde sicher bald eintreffen. Vorsichtig hatte er angedeutet, dass er nicht mehr sehen konnte, und sofort versichert, dass das bestimmt vorübergehend war. Er hatte eine kurze Vision davon, wie Marielle sich sofort aufs Pferd schwang, um zu ihm zu eilen und ihm beizustehen. Wie würde sie es aufnehmen, dass es jetzt erst einmal vorbei war mit ihren gemeinsamen Ausflügen? So manchen Tag waren sie auf der ebenso spaßigen wie vergeblichen Suche nach Drachen in den Bergen herumwandert und hatten immerhin schöne Aussichten gefunden. Diese Kletterpartien würde er vermissen, weniger dagegen die langweiligen Ghalilzeremonien mit ihren Eltern und die Bewirtungen mit ganzen Bergen von Fiudi. Warum hatte er eigentlich nie den Mut aufgebracht, ihnen zu beichten, dass er zwar gerne Süßes aß, aber ausgerechnet dieses klebrige Konfekt aus Milch und Fruchtsaft hasste? Er galt doch sonst als einer, den nichts schreckte.

Seine Gedanken schweiften zurück zu dem Tag vor fünf Jahresläufen, an dem er Marielle kennengelernt hatte, auf einem entsetzlich langweiligen, steifen Empfang für Abgesandte. Durch irgendeinen Zufall stand das blonde Mädchen neben ihm, sie waren die einzigen jungen Leute im ganzen Saal, und spontan hatten sie begonnen, sich respektlose Bemerkungen über die würdevollen Anwesenden und die Zeremonie zuzuflüstern – natürlich mit völlig unbewegten Gesichtern.

„Kiéran? Ich fragte gerade, ob Ihr Euch in Eurem Quartier wohlfühlt. Einen eigenen Waschtisch und Abort haben neben dem Krankenzimmer nur die Räume der hochrangigen Priester.“

Verlegen räusperte sich Kiéran. „Verzeiht mir, Rinalania. Ja, das Quartier ist perfekt. Trotzdem hoffe ich, dass ich es nicht mehr lange in Anspruch nehmen muss.“

„Das würde mich für Euch freuen.“ Ein eigenartiger Ton klang in ihrer Stimme mit. Was sollte das heißen? Wunderten sich die Priester ebenso wie er, dass sich sein Dienstherr nicht um Kiérans Schicksal zu scheren schien? Auf einmal verging Kiéran die Lust auf jede weitere Unterhaltung. Er war froh, als er endlich wieder allein war. Außerdem hatte er hämmernde Kopfschmerzen, so schlimm wie nie zuvor.

Von der Archivarin Yllsa hatte er sich einige Blatt Pergament geholt, und nun versuchte er halbwegs gerade Zeilen darauf zu bringen. Doch es klappte nur sehr schlecht. Zweimal fegte er Pergament und Kohlestifte in einem Wutanfall auf den Boden und musste sie auf Händen und Knien wieder zusammensuchen. Nein, diesmal würde er kein solches Gekritzel abschicken. Schließlich überwand Kiéran sich und fragte Yllsa, die Archivarin, ob er ihr etwas diktieren dürfe. Im Kopf hatte er sich längst die passenden Worte für seine Botschaft zurechtgelegt. Bloß keinen zu gereizten Ton anschlagen, seine Kameraden sollten nicht merken, wie viel es ihm ausmachte, hier festzusitzen. Morgen würde er den Hüter der tempeleigenen Fledermäuse bitten, die Nachricht auf den Weg zu bringen. Sein Geld reichte nicht mehr für einen berittenen Boten.

Der Gong kündigte die Zweite Meditation und wenig später die Abendspeisung an. Gerrity brachte Kiéran seine Portion in die Kammer.

„Wurzelsuppe mit einigen Brocken Hammel darin“, kündigte er an und stellte die Schale lautstark auf den Tisch. „Den Hammel haben uns Leute aus dem Dorf gebracht. Wenn man sie so reden hört, kennt ihre Dankbarkeit uns gegenüber keine Grenzen, aber wenn bei ihnen geschlachtet wird, kriegen wir auffällig oft die alten und gebrechlichen Tiere ab. Rinalania muss mal wieder ein ernstes Wörtchen mit ihnen reden.“

„Na ja, dann hoffen wir mal, dass euer Koch das Vieh lange genug gesotten hat.“ Trotz allem musste Kiéran grinsen.

„Wie ist denn das Essen bei euch, den Roten Wölfen? Kriegt ihr einen besseren Fraß

vorgesetzt?“

Kiéran erinnerte sich an das letzte, hastige Mahl im Feldlager mit seinen Kameraden. So kurz vor einem Gefecht bekam außer Santiago kaum jemand viel herunter. „Nein, aber immerhin hat mich Fürst AoWesta regelmäßig an seine Tafel eingeladen. Hm, lass mich mal nachdenken, das letzte Mal gab´s als Vorspeise Palmblütensuppe mit Rahm und dann mit Nüssen und Wildkräutern gefüllten Braten in einer Blauweinsoße.“

Gerrity stöhnte. „Und jetzt soll ich mich über den blöden Hammel freuen?“

„Tut mir leid“, sagte Kiéran mit ehrlichem Bedauern.

Keine zehn Tage war es her, dass er mit dem Fürsten gespeist hatte. Es kam Kiéran vor wie gestern. Sein Fürst Eli Naír hatte ihm auf die Schulter geklopft, seine Worte klangen ihm noch im Ohr: „Kiéran, wenn alle meine Roten Wölfe so wären wie du, dann müsste ich niemanden fürchten und die Kriegsherren aus Thoram schon gar nicht. Ihr werdet sie zurückjagen über die Grenze, nicht wahr?“

Die Terak Denar hatten es tatsächlich geschafft und Cerdus Maharir davongejagt; ohne ihr Eingreifen hätten AoWestas Truppen eine bittere Niederlage erlitten. Doch es sah nicht so aus, als sei der Fürst für diesen Sieg besonders dankbar. Es war ein harter Kampf gewesen, und so viele waren gefallen. Gelfus. Vanden. Wyvar. Odrim. Yatric. Auf einmal war in Kiérans Mund ein widerlicher, saurer Geschmack. Wieso tat er sich eigentlich leid? Er hatte Glück gehabt. Immerhin lebte er noch. Hoffentlich ist Santiago nichts passiert! Die Ungewissheit ist eigentlich das Schlimmste. Ist vielleicht sogar Xen getötet worden, herrscht in der Truppe Chaos? Das würde vielleicht erklären, warum ich keine Antwort bekomme.

Am Abend zogen sich die Priester und Novizen wie immer tief ins Innere des Tempels zurück und vollzogen dort die Zeremonien des Schwarzen Spiegels. Ein doppelter Gongschlag kündigte sie an, und Kiéran hörte hastige Schritte und geflüsterte Gespräche, als sämtliche Bewohner seinem Ruf folgten. Erregung und Ehrfurcht schienen in der Luft zu liegen.

Bewegungslos lag Kiéran auf seinem Bett und starrte ins Nichts. Und wieder schien er in die Dunkelheit hineinzustürzen, oder war es die Dunkelheit, die auf ihn herunterstürzte? Schließlich hielt er es nicht mehr aus; er schob sich von seinem Bett und tastete sich an der Wand entlang. Ja, da war das Wandregal, glatt geschliffenes Holz, dort der Metallhaken, an dem sein zerfetzter Umhang befestigt war, auf dem Boden lag der Brustpanzer, jetzt war er fast an der Tür angelangt. Hatten die Priester abgeschlossen, um ihn während der Zeremonie in seinen Räumen zu halten? Nein, die Klinke ließ sich herunterdrücken.

Seine Hand zögerte auf dem glatten Metall. War es eine Falle oder eine Chance? Hatten sie mit Absicht oder aus Dummheit darauf verzichtet, ihn einzuschließen?

Kiéran spürte, wie etwas in ihm erwachte, etwas wie Neugier oder Kampfgeist, eine Spur von Lebendigkeit. Um diese Zeit war es draußen schon dunkel, die Zeremonie fand nie vor Sonnenuntergang statt; und von Gerrity wusste er, dass es im Tempel selbst nur wenige Lampen und Fackeln gab. Vielleicht konnte er versuchen, im Schutz dieser Dunkelheit etwas näher an den Zeremoniensaal heranzukommen? Es interessierte ihn immer mehr, was darin vorging und was es mit diesen Schwarzen Spiegeln auf sich hatte.

Die Wände waren leicht gewölbt, der Gang verlief in einem Halbkreis. Anscheinend war das Gebäude rund. Hier, nahe der Außenwand, befanden sich die Wohnkammern der Priester; viele Stunden hatte er schon damit zugebracht, ihren alltäglichen Verrichtungen zuzuhören. Kiéran ließ seine Fingerspitzen leicht an der Wand entlangstreifen und bewegte sich durch den Gang. Seine weichen Lederschuhe machten kaum ein Geräusch auf den Steinen. Hin und wieder blieb Kiéran stehen, lauschte aufmerksam und sog die Luft ein. Niemand war in der Nähe, er hörte keine Schritte und kein Atemgeräusch, nur von fern drang ein Wiehern aus den Ställen. Es klang nicht nach Reyn.

Ein kühler Luftzug kam aus dem Spalt unter einer Tür hervor. Ging es hier nach draußen? Einige Schritte weiter roch er den Qualm einer Fackel, spürte ihre Hitze. Er umging die Stelle sorgfältig, um sich nicht daran den Kopf zu stoßen oder seine Haare in Brand zu setzen. Dafür prallte er kurz darauf gegen einen Hocker, den jemand im Gang stehengelassen hatte. Grelle Schmerzen schossen durch sein verletztes Bein, und es dauerte eine Weile, bis er es schaffte, weiterzugehen.

Stimmen erklangen aus den Tiefen des Gebäudes. Ein Raunen, ein Vibrieren. Gesang. Kiéran bewegte sich lautlos in diese Richtung und bog in einen Gang ab, der von der Außenmauer wegführte, ins Innere hinein. Immer deutlicher wurden die Stimmen. Der Zeremoniensaal konnte nicht mehr weit entfernt sein.

Kiéran versuchte sich einzureden, dass er keineswegs spionierte, dass es kein Vertrauensbruch war, den er hier beging. Er wollte nur frische Luft schöpfen. Hatte ihm schließlich niemand verboten, oder?

Von einem Moment auf den anderen begann die Dunkelheit um ihn herum zu wogen, zu schwingen. Kiéran fühlte sich, als stehe er auf dem Deck eines Schiffs, das vom Sturm gebeutelt wurde. Ihm wurde schwindelig, und eine leichte Übelkeit stieg in ihm auf. Schnell lehnte er sich gegen die Wand und drückte den Rücken gegen den kühlen Stein. Lieh sich die Kraft der Mauern, die vielleicht schon seit Jahrtausenden hier standen. Doch das half nichts. Die Wellen brandeten gegen ihn und verformten die Dunkelheit, die ihn umgab. Bunte Schleier wogten vor seinen Augen, und es war wunderschön und beängstigend zugleich. Was bei Xatos´ Rache ist hier los? Was passiert mit mir?

Kiéran drehte sich um, krallte sich mit beiden Händen in den Stein. Und dann geschah es. Vor seinen Augen traten Schemen hervor, etwas hellere Linien auf dunklerem Grund. Kiérans Herz machte einen Sprung, als er begriff, was das war. Es waren die Umrisse der Steine dicht vor seinem Gesicht! Atemlos betastete er die Steine, verglich das, was er fühlte, mit dem, was er sah. Wilder Jubel erfüllte ihn.

Der Gesang, der an seine Ohren drang, wurde lauter, schwoll an zu einem mächtigen Brausen. Eine einzelne Stimme schwang sich daraus hervor, tief und klar. Kiéran wusste, dass er die Sprache kannte, doch er hatte sie lange nicht mehr gehört. Es dauerte einen Moment, bis er sie erkannte. Es war Lingua Rejna, die Königssprache; sein Vater hatte sie Kiéran früh gelehrt, noch vor der Alten Handelssprache. Doch die Wände waren zu dick, er verstand nur hin und wieder ein paar Worte. Feld des Blutes ... geht ... Atem der Dunkelheit ... Mondlicht ... im Schacht eines Brunnens ...

Doch das alles war nicht wichtig. Längst nicht so wichtig wie das Wunder, dass er wieder sehen konnte! Ein Teil von ihm wollte es genießen, es bis zur Neige auskosten – doch ein anderer Teil, sein Instinkt, brüllte ihn ohne Unterlass an. Was auch immer hier vorgeht, es ist stärker als du! Verschwinde, mach schon, sonst wird deine Seele davongerissen wie ein welkes Blatt auf einem reißenden Strom!

Kiéran bewegte sich nicht. Was war, wenn er jetzt floh? Würde er dann zurückfallen in die tiefe Dunkelheit? Würden die Umrisse verschwinden, die wogenden Farben? Allein der Gedanke daran war unerträglich. Aber vielleicht würden sie ihm auch erhalten bleiben, vielleicht war er jetzt geheilt und brauchte seine Schwäche nicht mehr zu fürchten.

Wie auch immer - geh! Geh jetzt, schnell!, schrie sein Instinkt. Widerstrebend entschied sich Kiéran, dem Rat zu folgen… und merkte, dass er nicht mehr imstande war, sich zu bewegen. Er befahl seinen Beinen, zu rennen, seinen Armen, sich von der Wand abzustoßen, doch nichts geschah. Kiéran öffnete den Mund zu einem Schrei, doch der Laut wurde ihm aus dem Mund gesogen, kein Ton kam hervor. Die Zeit dehnte sich, eine Unendlichkeit zog vorbei, und dann war um ihn herum wieder Dunkelheit, vollkommene Schwärze. Er sah nichts mehr!

Zum zweiten Mal hatte er alles verloren.

Kiéran wollte seine Qual herausbrüllen, sein ganzer Körper zog sich zusammen zu diesem einen Schrei. Doch nichts brach die Stille um ihn herum.

„Ihr hättet das nicht tun sollen.“ Eine gebildete Stimme, perfekt akzentuiert und wohlklingend.

Kiéran fuhr zusammen.

Nachtlilien

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