Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 9

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Jerusha überlegte, ob sie noch einen Umweg durch Mandeth machen sollte, um sich von Goram TeRulius zu verabschieden. Nötig war das nicht, sie hatte ihm schon eine Nachricht zukommen lassen. Und schließlich entschied sie sich dagegen, noch einmal beim Tempel vorbeizureiten. Es würde wehtun. Sehr. Ich will nicht sehen, wie dort alles ohne mich weitergeht.

Stattdessen ritt sie nach Nordwesten. Sie hatte vor, sich über Selwys der Fähre über den Benar zu nähern, der sich nur ein paar Meilen weiter zum riesigen Fürstin-Jolissa-See erweiterte. Wenn sie sich beeilte, konnte sie übersetzen und ihre erste Nacht fern von daheim schon in Benaris verbringen. Eigentlich unfassbar, dass sie noch nie jenseits der Grenze gewesen war.

„Verehrteste, wenn Ihr nicht so schnell reiten würdet, käme ich viel leichter mit“, ertönte plötzlich eine Stimme direkt neben ihrem Ohr.

Jerusha ruckte vor Schreck an den Zügeln, Amadera machte einen Satz und ihre Reiterin wäre um ein Haar würdelos heruntergefallen. „Grísho! Wo steckst du?“

„In diesem erfrischenden Morgenschatten. Und so schön groß ist er. Sind Pferde nicht herrliche Tiere?“ Grísho machte sich nicht die Mühe, eine eigene Silhouette zu bilden, sondern erlaubte sich den Witz, den Schatten von Amaderas Maul für sich sprechen zu lassen.

Jerusha lächelte. „Absolut. Und ein sprechendes Pferd wollte ich schon immer. Aber noch lieber hätte ich mit dir geplaudert, als ich auf dem Fir Evarn saß.“

„Bist du sicher? Mir schien eher, du wolltest allein sein, meine Liebe.“

„Stimmt auch wieder. Sehr rücksichtsvoll. Weißt du Bescheid über den Fluch?“

„Nicht in allen Einzelheiten, nur hier und da habe ich ein paar Worte aufgeschnappt. Du weißt, die Höflichkeit hält mich davon ab, eure geschätzten Wohnstätten zu besuchen.“

„Das ist edel und gut von dir. Nicht jeder mag Schattenspringer im Haus, auch wenn sie keinen Dreck machen.“ Jerusha war froh, dass sie Grísho rechtzeitig abgewöhnt hatte, mit dem Schatten ihres Mundes zu sprechen. Doch andere Geschöpfe seiner Art waren sicher nicht so rücksichtsvoll, und sie hätte gewettet, dass genau das ihnen den Ruf eingebracht hatte, bei manchen Menschen Besessenheit hervorzurufen.

„Hättest du etwas dagegen einzuwenden, wenn ich dich begleite? Ohne dich wäre es ein wenig eintönig in Loreshom.“ Es klang fast schüchtern, und zwei bittend gefaltete Hände sprossen aus Amaderas Schatten hervor.

Jerusha fühlte sich von Grísho keineswegs besessen, sondern freute sich über seine Gesellschaft. „Willst du es dir wirklich antun, dich in meinen winzigen Mittagsschatten zu zwängen, wenn nichts anderes da ist?“

„Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber das ist nicht nötig. Du willst schließlich zur Straße der Giganten, und ich habe mir sagen lassen, dass die Bäume dort ihrem Namen gerecht werden. Wahrscheinlich sind ihre Schatten fett wie gemästete Ochsen.“

„Grísho, du verstehst nichts von gemästeten Ochsen.“

„Nein, dafür aber etwas von Schatten.“

„Immerhin, du wirst mir nichts von meinem Proviant wegessen.“

„Es muss einmal gesagt werden: Das, was ihr Essen nennt, ist eine ausgesprochen widerliche Angewohnheit.“

Dieser Angewohnheit wollte Jerusha gerne treu bleiben. Doch obwohl ihr Magen knurrte, legte sie, als die Sonne am höchsten stand, nur eine kurze Pause ein und knabberte ein getrocknetes Malzbrot. Sie standen auf einer kleinen Anhöhe, von hier aus konnte Jerusha ins Grenztal hinunterblicken. Wie eine breite Silberader zog sich der Benar durch die Landschaft. Jedes Jahr trat er über die Ufer, was eine Plage für die Bewohner der umliegenden Dörfer war, aber auch ein Segen, denn der Schlamm machte das Tal ungeheuer fruchtbar. Wenn Jerusha die Augen zusammenkniff, dann konnte sie zumindest raten, was dort unten alles auf den Feldern wuchs. Das sah nach Frühlingsweizen und Saftwurz aus, und an diesen Stangen rankten sich bestimmt Pristanbohnen hoch.

Im Osten, über dem Fürstin-Jolissa-See, quollen Wolken in die Höhe, die verdächtig nach Regen aussahen. „Heute Abend gönne ich mir ein Bett in einem Gasthaus“, sagte Jerusha zu Grísho und kratzte sich den Zikastich, eine Erinnerung an den Weiher in Loreshom. Sie konnte froh sein, dass der Zika sie nur am Bein erwischt hatte. Die kleinen schwarzen Biester wurden wild, wenn jemand den Grashalm mit ihrer Wohnkugel daran berührte, und natürlich hatte sie genau das versehentlich getan.

Es war ein ungewohntes Gefühl, die Schotterstraße durch die Ohren eines Pferdes hindurch zu sehen. Aber es war auch ein gutes Gefühl – ja, richtig gut. Heute Abend würde sie keine schmerzenden Füße haben. Als sie ins Tal hinab ritt, wurde es immer wärmer, und Jerusha band ihren Umhang hinter sich an den Sattel. Der Wind bauschte ihre vorne geschnürte Bluse mit den weiten Ärmeln. „Grísho“, sagte Jerusha und seufzte. „Ich glaube, es gefällt mir, unterwegs zu sein. Ist das eine Sünde?“

„Wahrscheinlich schon. Soweit ich mitbekommen habe, nennt ihr doch sowieso alles, was euch Spaß macht, Sünde.“

Freundlich, aber gelangweilt winkten die Grenzsoldaten Jerusha durch. Zwischen Kalamanca und Benaris herrschte schon seit vielen Jahresläufen Frieden. Kalamanca war ein ruhiges, bäuerliches Fürstentum, und die rundliche Muria UlPorím, die es regierte, hasste Streitigkeiten. Zwar galt das weitaus größere, reiche Benaris, dessen Kernland die weiten Flussebenen des Benar waren, als schwieriger Nachbar. Doch seit einiger Zeit wurden die AoWestas von den Kriegsherren Thorams in Atem gehalten, daher war ihr Interesse an eigenen Eroberungen derzeit gering.

Das Floß wurde an Seilen über den Fluss gezogen; vier kräftige Männer mit schweißglänzenden Oberkörpern sorgten dafür, dass sich die hölzerne Plattform ihren Weg zum anderen Ufer bahnte. Es war eine Menge los, und geduldig wartete Jerusha am Ufer, bis sie und Amadera dran waren mit der Überfahrt. Eine Stimme an ihrem Ohr flüsterte nervös: „Pardon, meine Liebe, aber gibt es nicht noch einen anderen Weg? Einen, der nicht über dieses nasse Zeug führt?“

„Warum?“ flüsterte Jerusha zurück. „Das Floß macht einen wunderbaren Schatten.“

„Aber das Wasser! Es schimmert!“

„Leider müssen wir den Benar irgendwann überqueren, und bis zur nächsten Brücke ist es eine halbe Tagesreise. Ich weiß ja, dass du dich sogar vor Pfützen gruselst, aber wenn du wirklich mit mir mitwillst ...“

Gríshos Stöhnen verlor sich im Wind, und an einem ganz leichten Flimmern der Luft sah Jerusha, dass er von ihrem Schatten in den eines Flößers sprang. Entweder war er jetzt eingeschnappt, oder dort war die Überfahrt weniger unangenehm. Sehr leicht fiel ihm der Sprung, wenn Schatten sich berührten; es ging zur Not aber auch, wenn bis zu einer Armlänge Abstand dazwischen lag. Weiter kam er nicht. Deshalb lebten viele Wesen seiner Art in Wäldern; dort flossen die Schatten ineinander und boten den ganzen Tag über Schutz.

In den langen Schatten des Sonnenuntergangs tummelte Grísho sich am liebsten, und in der Nacht sammelte er neue Kraft. Jerusha gönnte es ihm, begann aber selbst, nach einem Gasthaus Ausschau zu halten. Es wurde sehr bald dunkel, und noch war sie nicht bereit dazu, nachts zu reisen oder unter freiem Himmel zu übernachten. Schließlich fand sie eine kleine Schänke mit Zimmern über dem Gastraum. Es war hier wohnlicher als bei ihr daheim; die Laken rochen, als seien sie frisch gewaschen und in der Sonne getrocknet worden. Jerusha konnte sogar ohne Aufpreis ein Bad aushandeln – sie hatte das Gefühl, genauso intensiv nach Pferd zu riechen wie Amadera selbst. Sie hatte versucht, der Stute als Belohnung für die treuen Dienste einen Apfel zu spendieren, doch den hatte sie verschmäht. Dafür stellte sich heraus, dass sie ganz verrückt nach Nüssen war.

Bevor sie einschlief, wandten sich Jerushas Gedanken Dario zu. Sie hatte Sehnsucht erwartet und fand keine in sich. Wie seltsam, ging es ihr durch den Kopf. In Loreshom kommt es mir oft vor, als könne ich ohne ihn nicht leben. Vielleicht reicht ein Tag der Trennung noch nicht, um jemanden zu vermissen. Oder es liegt daran, dass er sich vor der Abreise schlimmer benommen hat als ein Utz.

Es war der Gedanke an Liri, der an ihrem Herzen zerrte. Daheim standen ihre Betten nebeneinander, und nie schliefen sie ein, ohne kurz den Arm auszustrecken, sich an der Hand zu nehmen und die Göttin Alicanda um schöne Träume zu bitten.

Hätte sie versucht, so etwas mit Grísho zu tun, wäre er wohl aus dem Lachen kaum herausgekommen. Er verstand immer noch nicht, warum Menschen fast die Hälfte eines Tageslaufs mit geschlossenen Augen herumlagen.

Vielleicht erkläre ich es ihm irgendwann nochmal, dachte Jerusha, während sie wegdämmerte.

Nachtlilien

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