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Ein Symbol im Stein

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Ja, es war schlimm.

Jerusha wickelte ihren endlich getrockneten Umhang enger um sich und betrachtete das, was von der Faunenmühle übrig war. Das zweistöckige Hauptgebäude mit seinen vielen kleinen Giebeln musste einmal prachtvoll gewesen sein, doch nun war das Dach eingesackt und an vielen Stellen bröckelte der Putz, so dass das nackte Mauerwerk sichtbar war. Sämtliche Glasscheiben waren verschwunden, und Jerusha vermutete, dass die Dörfler sie mitgenommen hatten; Glas war teuer, und viele Leute hatten nur gewachstes Papier vor ihren Fenstern, um den Winterwind abzuhalten.

„Hat deine Mutter nicht gesagt, dass jemand die Faunenmühle erworben hat?“ Das raue Flüstern Gríshos.

„Doch, hat sie. Aber genügend Menschen haben mitbekommen, was den KiTenaros widerfahren ist. Danach haben sie den Ort des Unglücks wahrscheinlich gemieden, und das Gasthaus musste schließen.“

„Viel Geld hat deine Familie scheinbar nicht dafür bekommen – sonst hättet Ihr, mit Verlaub gesagt, eine schönere Heimstatt in Kalamanca kaufen können.“

Jerusha seufzte. „Wie wahr.“

Würgekraut überwucherte die ganze linke Seite des Gebäudes und hüllte es in einen grünen Mantel; noch ein oder zwei Jahresläufe, dann war hier nur noch ein grüner Berg zu sehen, und vielleicht war das der freundlichere Anblick.

Hier war es also geschehen. Hier hatte der Fluch ihre Familie getroffen. Jerusha versuchte, das, was ihre Großmutter beschrieben hatte, in sich lebendig werden zu lassen. Und einen Moment lang sah sie den Hof hell erleuchtet und prächtig vor sich, bereit für das Clantreffen; vor dem Eingang war ein lebhaftes Kommen und Gehen von gut gekleideten Gästen, während ihre noch gesattelten Reitpferde in den Innenhof geführt wurden. Doch jedes Mal, wenn Jerusha versuchte, den eigenartigen Fremden in dieses Bild einzufügen, scheiterte sie. Nur die verschwommene Vorstellung einer Gestalt, die von einer Kapuze verhüllt die Stufen hinaufschritt, gelang ihr. Sie wusste einfach noch zu wenig über ihn. Hoffentlich konnte Rikiwa ihr mehr erzählen.

Um das ganze Haus herum wuchs hohes, stacheliges Flir. Jerusha band ihr Pferd vor dem Gebäude an – die dafür vorgesehenen Eisenringe in der Mauer waren noch vorhanden –, dann bahnte sie sich zu Fuß den Weg durch das Unkraut zu den Dienstgebäuden und Ställen. Hinter dem Haupthaus lag ein großzügiger Innenhof, doch auch die Ställe waren in schrecklichem Zustand und sahen ebenso wie das Hauptgebäude aus, als würden sie jeden Moment einstürzen. Also kein Erkundungsgang durch die Innenräume.

Die Flirsamen krallten sich an ihre Kleidung, und Jerusha fluchte. Es würde eine höllische Arbeit werden, das Zeug wieder abzukriegen.

Ihre Großmutter hatte ihr genau beschrieben, wo der Stein stand, auf dem die seltsame Inschrift aufgetaucht war. Jerusha band Amadera wieder los und führte sie den Pfad entlang zum Bach, der einmal die Mühle angetrieben hatte, bevor sie zum Gasthaus umgebaut worden war. Sie musste nicht lange am Ufer entlanggehen, um den Felsen zu finden. Es war ein unregelmäßig geformter Granitblock, der hüfthoch am Ufer aufragte, grün-gelblich gefleckt an den Stellen, wo Moose und Flechten wuchsen. Jerusha sah das eigenartige Symbol sofort. Amadera senkte den Kopf, begann das saftiggrüne Gras abzurupfen und Jerusha überließ sie sich selbst. Mit dem Bogen über der Schulter hockte Jerusha sich vor den Felsen und begann mit den bloßen Fingern, den Bewuchs abzukratzen. Es dauerte nicht lange, das verwitterte Symbol freizulegen. Lange betrachtete sie das Zeichen, das so viele Sommer alt war. Es bestand aus einem halben Kreis, in den von der rechten Seite ein eigenartiger Buchstabe hineinragte – es sah ein bisschen aus wie ein schräges Z, an das sich ein geschwungenes S anschloss.

Jerusha ließ die Fingerspitzen über das Symbol wandern. „Was meinst du, Grísho, könnte der Fremde das gemacht haben?“

„Welche andere Möglichkeit gibt es? Das Zeichen war am nächsten Tag da, hat sie erzählt.“

„Ich verstehe nur nicht, wie er es angestellt hat. Er wird ja kaum Eisen und Schlägel dabei gehabt haben. Und mir erscheint es sehr seltsam, dass er sich die Zeit dazu genommen haben soll.“ Der Block bestand aus Granit, einem Stein für die Ewigkeit, der einem Bildhauer stolzen Widerstand leistete.

„Vielleicht hat er es vorher gemacht, um Zeugnis davon abzulegen, dass er hier gewesen ist“, wisperte der Schatten, der sie begleitete.

Jerusha runzelte die Stirn. „Oder er hat das Zeichen auf magische Art entstehen lassen.“

Vielleicht war der, der den Fluch gesprochen hatte, tatsächlich ein Gott, und dies hier ist sein Zeichen, dachte sie erschöpft. Sie kannte das Symbol nicht, und das, obwohl Terémio sie viele Götterzeichen gelehrt hatte – fast einen halben Jahreslauf lang hatte sie während ihrer Lehrzeit tagtäglich irgendwelche Inschriften meißeln müssen.

Gerade als sie sich herumdrehen wollte, kreischte Grísho plötzlich auf, und erschrocken warf sich Jerusha alles andere als elegant hinter den Granitblock. Große weißgraue Schwingen strichen über sie hinweg, und eine Klaue zerfetzte den Stoff an ihrem Arm. Wütend riss sich Jerusha ihren Eschenbogen von der Schulter. Wie von selbst legten ihre Finger einen Pfeil ein, zog ihr rechter Arm kraftvoll die Sehne nach hinten. Der Pfeil schwirrte davon und traf sein Ziel. Der riesige Vogel über ihr kreischte auf. Na also, geht doch, dachte Jerusha mit einem Anflug von Stolz und ließ gleich den nächsten Pfeil folgen.

Von irgendwoher waren noch zwei weitere Waldkondore aufgetaucht, und sie griffen aus verschiedenen Richtungen an. Jerusha duckte sich hinter den Stein; fast ohne zu zielen schickte sie einen weiteren Pfeil nach oben. Da sie ihren Armschutz nicht trug, schnalzte die Bogensehne schmerzhaft gegen ihren Unterarm, und diesmal ging ihr Pfeil daneben. Was daran lag, dass Jerusha erschrocken ihrer Stute nachblickte, die gerade in Panik davongaloppierte. Einen Moment später war nur noch das Trommeln ihrer Hufe zu hören.

„Amadera!“ brüllte Jerusha ihr hinterher und stellte gleich darauf fest, dass die großen Raubvögel es ernst meinten. Schon wieder stießen sie auf sie herab, und dass einer von ihnen vom Himmel getrudelt war, schien sie nicht weiter zu schrecken.

Jerusha rannte los, zurück zur Faunenmühle – ein paar große Silvanidabäume gaben ihr Deckung, bis sie die Ställe erreicht hatte. Keuchend warf sich Jerusha ins dunkle, modrig riechende Innere und knallte die Tür hinter sich zu. Durch ein Astloch spähte sie nach draußen. Drei Kondore waren es jetzt, durch die Farbe ihrer Federn hob sich ihre Gestalt kaum vom trüben Himmel ab.

Langsam beruhigte sich Jerushas rasender Herzschlag. Sie wandte den Blick von den Raubvögeln ab und ließ ihren Blick durch das Innere des Stalls schweifen. Er war durch hölzerne Trennwände in Verschläge für die Pferde der Reisenden aufgeteilt worden. Auf dem Steinboden lag noch immer eine Schicht Stroh, und in einer Ecke moderten ganze Ballen Heu vor sich hin. Die Balken der Stalldecke waren von unzähligen hellen Spinnweben bedeckt.

„Immerhin, wir waren gewarnt“, wisperte Grísho, sein Seufzer klang wie ein Windhauch. „Dieser Wald ist kein guter Ort für Menschen.“

„Mein ganzes Gepäck ist weg“, sagte Jerusha fast ein wenig ungläubig. Amadera war über alle Berge, die kam garantiert nicht wieder. Damit waren auch ihre Satteltaschen, all ihr Proviant und die Ersatzkleidung verloren. Zum Glück war das an ihrem Arm nur ein Kratzer, aber die Tunika konnte man nicht mal mehr verschenken. Jerusha hatte größtes Verständnis dafür, dass auch Waldkondore ihren Nachwuchs irgendwie versorgen mussten, aber doch bitte nicht auf ihre Kosten! Sie hatte keine Ahnung, wie sie hier wieder herauskommen sollte. Die Vögel hatten es sich auf dem Baum gemütlich eingerichtet und wirkten, als hätten sie es überhaupt nicht eilig.

„Ich versuche herauszufinden, wo Amadera abgeblieben ist“, meinte Grísho, und dann wurde es still im alten Pferdstall – bis zu dem Moment, in dem das Flüstern begann. Und in dem Jerusha auffiel, dass einige der braunen Stangen im Dachgebälk des Stalls gar nicht aus Holz bestanden. Dass sie gerade begannen, sich zu regen, sich zu recken. Verdammt - das da oben sind keine Spinnweben, sondern Nistfäden von Hunderthändern!

Halb fasziniert, halb angewidert beobachtete Jerusha, wie die raupenähnlichen, braunpelzigen Wesen zu ihr herunterkrochen. Die größten waren so lang wie ihr Arm, und jedes von ihnen hatte zwar keineswegs hundert, aber immerhin zwanzig Handpaare, winzig und rosig wie die Finger eines Säuglings. Es war ein faszinierender Anblick, wie all diese Hände beim Klettern zupackten und losließen, sich von einer Wand abstießen oder sich flach ausbreiteten, wenn es ein Stück Wand oder Boden zu überqueren galt.

Jetzt war einer der Hunderthänder bei Jerusha angekommen und betrachtete sie aus seinen Stielaugen. „Beschuch!“, nuschelte er; winzige Hände griffen nach Jerushas Tunika und klammerten sich fest. „Freude welch!“

„Wurrrde schon langweilisch“, gurrte ein anderer, und sein kleiner, lippenloser Mund öffnete und schloss sich wie das Maul eines Fischs.

Niemand, den Jerusha kannte, mochte Hunderthänder – vor allem deshalb, weil sie Dinge mitgehen ließen, die ihnen nicht gehörten, und weil es eine widerliche Arbeit war, die klebrigen Fäden ihrer Nistkokons aus dem Dachboden eines Hauses zu entfernen. Außerdem konnten sie gefährlich werden, wenn man sie reizte.

Von vierzig dieser Wesen umgeben zu sein, fühlte sich nicht sonderlich gut an. Vorsichtig zog Jerusha sich etwas zurück, bis sie mit dem Rücken an einer der hölzernen Trennwände stand. „Freut mich, dass ihr Gäste zu schätzen wisst, aber ich bin eigentlich nur auf der Durchreise. Mein Name ist Jerusha KiTenaro, ich –“

KiTenaro!“ Mindestens fünfzehn der Hunderthänder schrien es gleichzeitig, und Jerusha presste sich die Hände auf die Ohren, weil der Klang ihrer Stimmen so schrill geworden war wie eine Diamantsäge. Ihr Fell hatte sich zu einem grellen Gelb verfärbt. Am liebsten wäre Jerusha geflüchtet, doch das hätte die Waldkondore garantiert in beste Stimmung versetzt.

„Ihr kennt meinen Clan?“ Jerusha versuchte es mit einem Lächeln.

„Schulden habt ihr noch bei unsch, Schulden große!“ Ein besonders großes Hunderthändermännchen reckte vorwurfsvoll die Stielaugen. „Lohn esch es gibt jetzt endlich? Wir wünschen Gold, wir wünschen Edelstein.“

Jerushas Lächeln geriet zur Grimasse. Sie hatte schon davon gehört, dass manchmal ein Clan Schulden anhäufte und diese dann an irgendeinem bedauernswerten Mitglied hängenblieben. „Ich kann euren Ärger verstehen, wirklich sehr gut kann ich den verstehen“, sagte sie in beruhigendem Ton. „Und falls ich jemals eine Handvoll Edelsteine übrig haben sollte, seid ihr die allerersten, die etwas abbekommen. Versprochen.“

„Jetscht!“ murrten die Hunderthänder und zogen den Kreis um sie enger. Dutzende von Händen reckten sich ihr entgegen, ballten sich zu winzigen Fäusten. Überall öffneten sich Mäuler, so dass Jerusha die nadelspitzen Zähne darin bewundern konnte. Wahrscheinlich reichte eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, und der ganze Schwarm fiel über sie her.

„Jetzt geht aber nicht.“ Ganz langsam drehte Jerusha die Handflächen nach oben. „Oder seht ihr hier irgendwo Reichtümer?“

Ein Hunderthänder marschierte über ihre Finger, wahrscheinlich um zu prüfen, ob sie wirklich leer waren. Mehrere andere machten sich daran, in die Taschen ihrer Tunika zu klettern und sie zu durchwühlen. Das gefiel Jerusha nicht sonderlich, doch sie rührte sich nicht und zwang sich zu Geduld.

„Nischt drin“, murmelte eins der Wesen nach vollendeter Inspektion enttäuscht.

„Habe ich euch doch schon erklärt. Man sagt mir noch nicht mal nach, dass ich ein Herz aus Gold oder Augen wie Saphire habe.“ Jerusha lächelte schief. „Das hat alles meine Schwester abgekriegt.“

Das sorgte für eine gewisse Verwirrung und die Forderung, sie möge doch bitte sofort ihre Schwester herbringen.

„Leider nicht zu machen“, sagte Jerusha und verschränkte die Arme vor der Brust, nur für den Fall, dass irgendjemand nachsehen wollte, ob nicht auch ihr Herz irgendein Edelmetall hergab.

Die Hunderthänder schienen sich wieder etwas zu beruhigen, einige wechselten sogar wieder die Farbe hin zu einem hellen Braun. Ganz langsam wagte Jerusha, sich zu entspannen. „Jetzt mal von Anfang an. Was sind das überhaupt für Schulden? Was habt ihr für meinen Clan getan?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, was ein Schwarm Hunderthänder sich für Verdienste erworben haben sollte. Flaschen aus dem Keller in die Gaststube hochtragen, das ging vielleicht noch, aber sie bezweifelte stark, dass dieses gierige Pack die Geduld aufbrachte, mit seinen zahlreichen Händen ein Zimmer zu reinigen oder Wäsche zu waschen.

„Geputzt wir haben. Aufgepascht wir haben.“ Übellaunig richtete sich der große Hunderthänder vor ihr auf. „Auf eure Wohnhöhle. Nach dem Rechten sehen wir. Seit dreißig Schommern!“

„Ihr seht nach dem Rechten?“ echote Jerusha ungläubig. Das passte nicht wirklich zu der Ruine, die sie gerade besichtigt hatte. „Hättet ihr dann nicht vielleicht verhindern können, dass die Leute Glasscheiben aus den Fenstern herausbrechen? Nett wäre auch gewesen, wenn ihr ab und zu das Würgekraut heruntergezupft oder ein paar Waldkondore vertrieben hättet.“

Verlegenes Händescharren. „Aber dasch Kraut schieht doch hübsch ausch“, wagte ein junger Hunderthänder einzuwenden. „Und durch die Scheiben kommt jetscht viel mehr frische Luft alsch vorher!“

Jerusha seufzte, und auf einmal war es ihr, als spräche Liri in ihr. Du schimpfst die falschen, Shani. Die Hunderthänder können nichts dafür – es ist der Fluch, der all das angerichtet hat. „Ich bin sicher, ihr schätzt es sehr, wenn durch die Baumkronen, in denen ihr übernachtet, der Schneewind fegt. Aber glaubt mir, es gibt nur eine sehr kleine Handvoll Menschen mit ähnlichen Vorlieben. Wer hat euch denn den Auftrag erteilt, auf die Faunenmühle aufzupassen?“

Nach viel Gestotter und dem Raufen von braunen und gelben Pelzhaaren stellte sich heraus, dass damals vor dreißig Sommern ein kleines Mädchen – wahrscheinlich Jerushas Mutter Myrial – den Hunderthändern zugerufen hatte, sie sollten gefälligst vor ihrem eigenen Nest kehren. „Na ja, und das Nest unscher war immer hier, genau hier. Also wir haben gekehrt, wirklich fleißig gekehrt“, versicherte der große Hunderthänder, und Jerusha bildete sich ein, dass er jetzt einen leicht beunruhigten Blick hatte. „Dreißig Schommer lang, und was ist jetzt mit Lohn dem?“

Plötzlich taten diese Wesen ihr leid. Auf ihre seltsame Art hatten sie anscheinend wirklich versucht, hier nach dem Rechten zu sehen, und Jerusha konnte verstehen, dass sie enttäuscht waren von der Rückkehr der lange erwarteten Erbin.

Behutsam versuchte Jerusha den Hunderthändern beizubringen, dass es sehr wahrscheinlich nicht so gemeint gewesen war mit dem Auftrag. „Tut mir wirklich leid. Aber ich hätte sowieso kein Geld dabeigehabt. Und ich muss jetzt wirklich gehen. Noch viel Glück, erfreuliches Klettern und Nisten, oder was auch immer ihr gerne macht. Lebt wohl, und tausend Dank für alles!“

Erleichtert machte sich Jerusha aus dem Staub. Erst als sie den Hof schon halb überquert hatte, fielen ihr die Waldkondore wieder ein.

Da war es jedoch leider ein wenig zu spät.

Nachtlilien

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