Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 10
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ОглавлениеKiéran begann, die Zeit des nachmittäglichen Arbeitsdienstes in der Waffenkammer zu verbringen. Er schnitzte Griffe für frisch geschmiedete Messer, polierte Klingen und ölte Schwerter ein. Das waren alles Tätigkeiten, bei denen er mit den Händen sehen konnte, und die altvertrauten Gerüche nach Waffenöl, Leder und Metall waren ihm ein Trost. Am dritten Tag griff er peinlicherweise voll in die Klinge eines Dolches, doch zum Glück konnte Rinalania die Blutung schnell stoppen.
„Noch eine Kräuterkaramelle dazu, als kleinen Trost?“ fragte sie schelmisch, und Kiéran musste lachen. „Ja, warum nicht“, meinte er und steckte sich ihre Gabe gleich in den Mund. „Warum habt Ihr eigentlich immer welche dabei?“
„Ehrlich gesagt esse ich sie selber gerne, aber vor allem sind sie für die Kinder im Dorf“, erzählte Rinalania. „Die kriegen ja sonst nie was Süßes und müssen schon so schwer auf den Feldern arbeiten. Ich mache die Karamellen selbst, und wer weiß, vielleicht werden wir irgendwann auch dafür berühmt – und nicht nur für unsere Messer mit der blattförmigen Klinge.“
„Wäre jedenfalls schön“, meinte Kiéran und schlenderte mit seiner frisch verbundenen Hand in die Waffenkammer zurück. Wieder eine Verletzung. Diesmal erfinde ich aber keine Geschichte dazu, ging es ihm durch den Kopf, und er musste grinsen. Als Novo – jung und einsam, ein schüchterner Diplomatensohn unter lauter muskelbepackten Draufgängern – hatte er behauptet, die lange Narbe über seinen Rippen stamme von einem Schwertduell. In Wirklichkeit war er mit sechzehn auf einem frisch gewischten Boden ausgerutscht und auf die eigene Waffe gefallen, die er vergessen hatte wegzuräumen.
Am Nachmittag, als Kiéran mit verbundener Hand weiterarbeitete, besuchte ihn Gerrity wieder. „He, Roter Wolf! Ich verstehe nicht, warum du dir die Mühe machst und den halben Tag hier schuftest. Dabei könntest du doch auf der faulen Haut liegen und es dir gut gehen lassen.“
Kiéran drehte den Kopf seiner Stimme zu. „Meinst du das ernst? In meiner Kammer herumzuhocken ist ungefähr so spannend, wie einem Eiszapfen beim Schmelzen zuzuhören.“
„Also wenn das so ist, ich hätte da eine Beschäftigung für dich.“ Kiéran fragte sich, warum Gerrity auf einmal so verschmitzt klang. „Ich kenne die eine oder andere Kunst, die im Leben nützlich ist, wenn du weißt, was ich meine.“
„Ich kann´s mir fast denken.“ Kiéran war dankbar dafür, dass Gerrity es meistens schaffte, ihn aufzuheitern. „Aber will ich das wirklich lernen?“
„Glaub mir, du willst. Kannst die Jungs und Mädels aus deinem Regiment – oder wie auch immer man das nennt – damit überraschen. Zum Beispiel, indem du eine verschlossene Tür bezwingst.“
Kiéran versuchte sich den Gesichtsausdruck seines Kommandanten Xen TeRopus vorzustellen, wenn Kiéran vor seinen Augen mit Metallstäbchen an einem Türschloss herumfummelte. „Hm. Bei den Terak Denar ist die übliche Methode dafür eher ein gezielter Axthieb.“
„Ich weiß, ihr seid harte Burschen und so. Das heißt, du willst nicht?“
„Doch“, sagte Kiéran und war selbst überrascht über seine Antwort. „Wann fangen wir an?“
„Na also. Guter Junge. Wie wär´s mit der Zeit während der Meditationen und nach der Abendspeisung? Dann kannst du am Nachmittag weiter Zeit in deinem Metallwarenladen hier verbringen.“ Und dann war er auch schon weg, wahrscheinlich musste er zur Unterweisung der Novizen, die fand ungefähr zu dieser Zeit statt.
Kiéran arbeitete weiter und verlor dabei das Gefühl für die Zeit. Die Klinge war fast perfekt in ihrer kühlen Glätte, als der Gestank von Fledermausdreck hereingeweht wurde – wo kam der denn her? Einen Wimpernschlag später wusste er es. „Is ´ne Nachricht gekommen für Euch“, verkündete die tiefe, ein wenig brüchige Stimme von Uram, dem Hüter der Fledermäuse.
Eine Nachricht für ihn? Es durchfuhr ihn wie ein Feuerstoß. Sofort legte er die Klinge weg und streckte die Hand aus. Uram legte ihm den Streifen hinein. Schmal war das Ding, aber seidenweich, ein teures Material. Unwillkürlich hob Kiéran es an die Nase, um daran zu riechen – in letzter Zeit ertappte er sich öfter dabei, dass er in der Gegend herumwitterte wie ein Jagdhund. Doch das Ding roch nur ein bisschen nach Pergament, nach Urams feuchten, schwitzigen Händen und nach Fledermaus.
„Steht ein Absender darauf?“ fragte Kiéran, doch anscheinend war Uram schon fortgegangen, er hörte nur noch seine Schritte, die sich entfernten.
Kiéran hätte schreien können vor Hilflosigkeit. Hier war sie endlich, eine Nachricht für ihn – nach zehn Tagen! – und er konnte sie nicht einmal lesen. Von wem sie wohl war? Von Marielle, von AoWesta, von Xen? Er hielt den Pergamentstreifen so fest in der Hand, dass er ihn beinahe zerdrückte. Schnell überlegte er, zu wem er gehen konnte. Rinalania war in einem der Nachbardörfer unterwegs, um neue Nahrungsmittel für den Tempel zu beschaffen und Bauernkinder mit Kräuterkaramellen zu beglücken. Dinesh war gerade in seiner Kammer und meditierte, um sein Ich zu läutern und sich tief in sich selbst zu versenken. Das war, wie Kiéran inzwischen wusste, für die Priester eine wichtige Übung, damit die Kraft des Oscurus in ihnen erhalten blieb. Ihn dabei zu stören, kam nicht in Frage. Kiéran überlegte weiter. Die Versuchung war groß, einfach den erstbesten Novizen zu fragen, aber was war, wenn vertrauliche Dinge in der Botschaft standen? Nein. Aber wie wäre es mit Yllsa, der Archivarin? Sie hatte schon einmal angeboten, ihm vorzulesen. Doch er war zu stolz gewesen, anzunehmen – obwohl er Bücher fast so heftig vermisste wie sein Schwert.
Kiéran stand auf und machte sich auf den Weg zum Archiv.