Читать книгу Nachtlilien - Siri Lindberg - Страница 11

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Wer hatte behauptet, dass Reisen Spaß macht? Sie selbst konnte es unmöglich gewesen sein. Seit vier Tagen regnete es schon. Wasser troff von Jerushas schwerem, vollgesogenem Umhang, von ihren Haaren, vom Zaumzeug. Der Matsch war an manchen Stellen der Straße so tief, dass die Stute bis zu den Fesseln darin versank und kaum vorwärts kam. Obwohl Jerusha versuchte, ihre Sachen nachts im Gasthaus zu trocknen, blieben sie feucht und klamm.

Schatten gab es keinen, und Grísho war inzwischen so schwach, dass sie sich nur noch nachts unterhalten konnten, wenn er durch die Dunkelheit etwas zu Kräften kam. Um ihn überhaupt mitnehmen zu können, hatte sie eine kleine Öllampe an Amaderas Sattelhorn befestigt, deren jämmerlicher Schein kaum eine Armlänge weit reichte; natürlich warf sie auch keinen besonders guten Schatten. Jerusha hatte schon fast für acht Ulder Lampenöl verbrennen müssen. Das hatte sie jetzt davon, dass sie seinen Bitten nachgegeben hatte, ihn mitreisen zu lassen.

Erstaunlicherweise kam sie trotzdem recht gut voran. Sie war schon an Timish und Elkaréd vorbei und auf dem besten Weg nach Quinlan. Dort stand die ehemalige Faunenmühle. Hoffentlich konnte sie bei Tante Rikiwa übernachten; Jerushas Vorrat an Münzen schmolz bedenklich zusammen.

Im Gasthaus Zum silbernen Krug nahm sie das billigste Zimmer, eine winzige Kammer im Keller direkt neben den nach Lauge riechenden Waschräumen. Das Abendessen würde aus feuchtem Malzbrot mit Käse bestehen, den Resten ihres Proviants. Wenigstens ein Gewürzbier wollte sie sich dazu gönnen. Nachdem sie ihr Gepäck im Zimmer verstaut hatte, stieg Jerusha die Treppen hinauf in die Gaststube. Immerhin, dort war es warm, im großen offenen Kamin loderte ein Feuer. Ein leiser Seufzer aus dem Nichts verriet ihr, dass Grísho die tanzenden Schatten zu schätzen wusste.

„Was darf´s sein?“ Der Wirt war ein dünner, langnasiger Mann, der eine abgewetzte Lederschürze trug. Als Jerusha ihn um ein Gewürzbier bat, sah er sie ganz seltsam an. Was glotzte er so? Gab es das Zeug hier in Benaris nicht? Wenn nicht, dann war das ein Skandal, es gab nichts Besseres, um sich aufzuwärmen.

„Verzeiht mir, aber wart Ihr schon mal in dieser Gegend?“ sagte der Wirt und hörte endlich auf, sie anzustarren.

„Ich war noch nie hier“, gab Jerusha zur Auskunft.

„Darf ich Euch dann nach Eurem Woher und Wohin fragen? Und verratet Ihr mir vielleicht, wie Euer Name lautet?“

Solche Auskünfte wurden in den Gasthäusern so gut wie immer erwartet, doch diesmal zögerte Jerusha dabei. Noch immer hatte der Mann einen eigenartigen Blick. Vielleicht hätte sie doch eine andere Unterkunft wählen sollen. „Mein Name ist Jerusha KiTenaro, ich reise gerade nach Quinlan. Das ist nur noch eine Tagesreise von hier, oder?“

Sie bekam keine Antwort. Ungläubig sah sie, dass dem Wirt die Röte in die Wangen stieg. „Habe ich´s mir doch gedacht“, murmelte er.

„Was gedacht?“

Ein kurzes Händeklatschen, dann noch eins, diesmal ungeduldiger. „Miko – eine Portion Braten, Brot und Butter, aber hurtig! Und den 34er Blauwein!“

Diesmal starrte Jerusha ihn ungläubig an. „Ich wollte doch gar keinen Wein.“

Ohne Umschweife zog der Wirt einen Stuhl heran und setzte sich. Was sollte das denn? Vorsichtig verschränkte Jerusha die Arme. Bis hierher und nicht weiter, Meister! Zum Glück schien der Wirt jetzt zu verstehen, dass er sie vielleicht etwas überrumpelt hatte. „Entschuldigt. Es war so lange kein KiTenaro mehr bei uns. Ich habe so lange darauf gewartet, dass ihr zurückkommt. Du musst die Tochter von Myrial sein, oder?“

„Ähm, ja – und wer seid Ihr?“

„Ich bin Dendelio OrTanek. Ich war ein dünner, schüchterner Küchenjunge in der Faunenmühle. Oh, das war ein prächtiger Hof, weit schöner als der Silberne Krug.“ Eine verächtliche Geste, die den Raum umspannte. „Und Eure Familie! Kala war immer so freundlich zu mir! Sie schickte mich zurück in die Schule und gab mir sogar noch Geld mit. Dabei wollte ich nichts weiter, als in der Küche helfen. Um bei Myrial zu sein.“ Verlegen wandte er den Blick ab. „Sie war hübsch wie eine Nymphe. Immer zu einem Streich aufgelegt, und doch oft sehr ernsthaft. Wie geht es ihr heute?“

Ihre Mutter? Immer zu einem Streich aufgelegt? Kein Zweifel, die Vergangenheit war eine völlig andere Welt. „Nicht sehr gut“, sagte Jerusha vorsichtig und fragte sich, wie viel sie diesem Fremden erzählen sollte. „Ich glaube, sie hat das mit ihrem Bruder und ihrer Zwillingsschwester nicht verkraftet.“ Von diesen Ereignissen wusste er wahrscheinlich. Kein Grund, auch noch den Mordversuch ins Spiel zu bringen, sonst saß sie noch bis Mitternacht hier und versuchte zu erklären, was eigentlich nicht zu erklären war.

„Das war schlimm. Ja. Ich glaube, ich werde sie mal besuchen.“

„Gute Idee“, sagte Jerusha. Dann sagte sie nichts mehr, denn gerade wurde ein Teller mit Braten und frisch gebackenem Brot vor ihr auf den Tisch gestellt. Es wäre eine schwere Sünde gewesen, das alles kalt werden zu lassen.

Erst als sie den letzten Rest Soße aufgewischt hatte, war sie wieder in der Stimmung zu reden. „Wem gehört die Faunenmühle heute eigentlich?“

„Ich weiß es nicht. Es ist eine Schande. Ihr werdet es ja selbst sehen.“

Mehr war ihm dazu nicht zu entlocken, und leider war er an dem Unglücksabend auch nicht im Gasthof gewesen und hatte den Fremden nicht miterlebt. Schade. Doch immerhin hatte er interessante Dinge über ihre Verwandtschaft zu erzählen. Zum Beispiel, dass ihr Großvater Fenvar – Earel und somit Clanherr, ein so mächtiger, wie die KiTenaros ihn lange nicht mehr gesehen hatten – Gast mehrerer Fürsten gewesen war. Dass es ihm gelungen war, einen Greifen zu zähmen. Oder dass ihr Cousin Galtael zehnmal hintereinander das berühmte Treffen der Bogenschützen in Parthus gewonnen hatte. Bis er sich weigerte, weiterhin teilzunehmen, weil die Veranstaltung ihn langweilte.

„Ein Greif – eins dieser Mischwesen, die wie eine Kreuzung aus Adler und Löwe aussehen?“ Jerusha staunte. „Habt Ihr ihn mal gesehen?“

„Einmal nur. Ich wäre vor Furcht fast gestorben.“ Dendelio lächelte schief. „Aber ich glaube, meistens haben sie sich in den Bergen getroffen.“

„Kennt Ihr auch mein Tante Rikiwa?“

„Ja, natürlich, sie lebt noch immer in der Nähe der Faunenmühle, mitten zwischen den Giganten. Sie ist zurzeit fast die Einzige, die sich das wagt. Und es sind nicht nur Xher, vor denen sich die Leute fürchten – habt ihr Xher in Kalamanca?“

Jerusha schüttelte den Kopf. Nein, von diesen Raubtieren gab es in Kalamanca fast keine mehr. Sie lauerten in Bäumen oder geduckt im hohen Gras auf Beute, durch ihr grünsilbernes Fell perfekt getarnt. Ihre Pfoten spürten jede Erschütterung des Bodens, und ihren riesigen Ohren, die sie beim Lauern seitlich anlegten, entging kein Geräusch. War ihre Beute nah genug herangekommen, brachen die Xher ihr mit einem schnellen Sprung das Genick.

Dendelio seufzte. „Es ist auch ein Problem, dass in diesem Jahreslauf mehr Waldkondorküken ausgeschlüpft sind als sonst, und sie alle brauchen reichlich Futter, um zu wachsen – muss ich noch mehr sagen?“

„Nicht wirklich“, meinte Jerusha. Ihre Mutter hatte sie vor diesen riesigen Vögeln gewarnt. Nur die größten Bäume konnten ihre Nester tragen, deshalb gab es besonders viele Waldkondore an der Straße der Giganten. Jede ihrer grau-weiß gestreiften Schwingen maß eine Menschenlänge, und ihr handlanger Schnabel war messerscharf.

Doch Dendelio war noch nicht fertig. „Im Herbst hat es meinen Hund erwischt, und vor einem Mond wäre ich beinahe selbst dran gewesen, als wir am Waldrand Kräuter suchten. Also nimm dich in Acht.“

„Mach ich“, versprach Jerusha. „Und jetzt wäre ein bisschen Schlaf willkommen, ich sage Lebewohl für heute. Möge Euer Clan gedeihen!“

Als sie gähnend die Treppe hinabstieg und die Tür zu ihrer Kammer öffnete, stellte sie fest, dass ihr gesamtes Gepäck verschwunden war. Das Zimmer wirkte, als habe es lange Zeit niemand betreten. „Ghalils Schande, was soll das?“

Jemand tauchte hinter ihr auf. Ein Junge mit breiten Schultern, auch er trug eine Küchenschürze. „Sucht Ihr Eure Sachen? Der Meister hat gesagt, ich soll sie nach oben bringen. Ins beste Zimmer, das unter dem Dach.“ Ihm war die Neugier darauf anzusehen, was an dieser jungen Frau denn so besonderes war. Sollte sein Meister es ihm erzählen. Jerusha war dafür viel zu müde.

Das Dachzimmer war herrlich. Ein geschnitztes Holzbett, dessen Matratze so weich war wie Schwanenfedern. Auf dem Boden ein Teppich aus Kehanowolle, der sich wunderbar unter den bloßen Füßen anfühlte, und an einer Seite des Zimmers ein Waschtisch aus Porzellan mit einer Kanne heißen Wassers.

Ausnahmsweise fand Jerusha es gar nicht so übel, eine KiTenaro zu sein.

Nachtlilien

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