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Die Seele der Wälder

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Wie furchtbar weh ihr alles tat. Ihr Arm und ihr rechtes Knie schmerzten besonders heftig, und auch ihr Kopf fühlte sich nicht besonders gut an. Die Waldkondore fielen ihr wieder ein, und mühsam öffnete Jerusha die Augen. Die Welt um sie herum schien zu wackeln und zu tanzen, doch schließlich konnte sie ihre Umgebung deutlicher erkennen. Wie seltsam, die Kondore waren weg, und auch die Faunenmühle war nirgends zu sehen. Was für ein schöner Traum, ging es Jerusha durch den Kopf. Sonnenlicht schien zwischen gewaltigen Stämmen hindurch, zog leuchtende Speere durch die kühle grüne Dämmerung des Waldes. Zehn Männer zusammen hätten diese Bäume nicht umfassen können, und ihre Wurzeln reichten sicher bis ins Herz der Welt, in Tiefen, die kein Mensch je erblickt hatte. Ihre Rinde war von tiefen Runzeln durchzogen, und hoch, hoch oben erkannte Jerusha Äste und Blätter, jung und frisch. Sie hatten die Farbe des Frühlings.

Rechts von ihr ragte ein mit Farnen bewachsener Felsen auf, an dem ein kleiner Wasserfall herabrieselte. Und dort oben saß eine Frau. Nein, eher ein Mädchen. Ungläubig hob Jerusha ein wenig den Kopf und versuchte, genauer hinzusehen – doch anscheinend hatte sie selbst im Traum schwache Augen.

Manches konnte sie trotzdem erkennen. Das Mädchen war völlig nackt. Seine weiße Haut leuchtete durch das Braun und Grün des Waldes, und sein Körper war so vollkommen wie eine Statue. Ganz ruhig saß es auf dem Felsen und sein unverwandter Blick aus moosgrünen Augen begleitete Jerusha. Eine unscheinbare, getigerte Katze strich um die Knöchel des Mädchens.

Jerusha wurde wieder schwindelig, sie musste kurz den Kopf nach hinten sinken lassen. Als sie das nächste Mal hinsah, war das Mädchen verschwunden, obwohl Jerusha keine Bewegung bemerkt hatte. Was war das gewesen, eine Erscheinung?

Und doch, sie träumte nicht. Sie lag auf einer Art Bahre, die zwischen zwei Balken hing; die Enden schleiften über den Boden, so dass sie immer wieder durchgeschüttelt wurde. Gezogen wurde die Trage von einem Pferd, sie hörte das Pochen der Hufe, die kleinen Steine, die bei jedem Schritt wegrollten. Ihr Körper war in Decken gewickelt. Jerusha versuchte sich zu bewegen und stellte fest, dass Lederriemen ihren Körper auf der Bahre hielten. Doch ihre Hände waren frei, und vorsichtig hob sie die Rechte, tastete nach ihrer Schulter. Da war ein Verband und ihr Bein schmerzte auch heftig.

„Meine Liebe, das war ausgesprochen beängstigend vorhin“, hauchten die Schatten in ihr Ohr. „Zum Glück waren Leute auf der Straße unterwegs, ich konnte sie alarmieren.“

„Ich danke dir, Grísho“, flüsterte Jerusha. Es strengte sie an, zu sprechen. Sie wollte ihn fragen, was danach geschehen war, wohin sie jetzt gebracht wurde, doch schon hörte sie den leisen Befehl einer fremden Stimme und das Pferd hielt an. Eine Frau beugte sich über sie, und ihr Gesicht erschien Jerusha so vertraut, dass sie sofort wusste, wer es sein musste. Diese dunklen Locken! Anscheinend hatten viele der KiTenaro-Frauen sie geerbt. Doch Shimounah sei Dank, die Augen dieser Frau waren lebendig und voller Energie. Ihre Seele hatte den Fluch überstanden! Dankbarkeit erfüllte Jerusha, und enorme Aufregung. Diese unbekannte Frau war ihre Tante Rikiwa, die Schwester ihrer Mutter – sofort kamen ihr tausend Fragen in den Sinn, doch sie hielt sich erst einmal zurück.

„Keine geringe Überraschung, meine Nichte so kennenzulernen“, sagte Rikiwa, und auf ihrem schmalen Gesicht erschien ein Lächeln. „Ein paar Leute aus dem Dorf haben dich gefunden und erraten, dass du eine KiTenaro bist, da haben sie mir Bescheid gesagt. Wie fühlst du dich?“

„Mies“, sagte Jerusha.

„Kein falsches Heldentum – gut so. Wir sind bald da, meine Hütte steht in diesem Tal, nur noch einen kurzen Marsch entfernt.“ Seltsam, ihre Tante schien die Waldkondore nicht zu fürchten, sie hielt nicht einmal nach ihnen Ausschau.

Als sie vor der kleinen, aus Feldsteinen gemauerten Hütte angekommen waren, half Rikiwa ihr von der Bahre und stützte sie, so dass Jerusha sich langsam und hinkend hinein bewegen konnte. Jerusha warf noch einen Blick zurück und stellte erfreut fest, dass Amadera sie gezogen hatte. „Wo hast du sie gefunden?“

„Sie lief am Fluss herum. Das arme Tier war völlig verängstigt. Zum Glück konnte ich sie schnell beruhigen und einspannen. Sonst wäre es ein schwerer Rückweg geworden.“

„Einspannen?“ Verblüfft musterte Jerusha ihr Pferd. „Sie hat sich ganz ohne Protest einspannen lassen?“ Als ihr Tante nickte, dämmerte Jerusha, dass der alte Pacuro ihr mit Absicht für wenig Geld ein gutes Pferd mitgegeben hatte. Ahnte er, was für sie auf dem Spiel stand? Wahrscheinlich schon. Welche Frau verschob schon ohne guten Grund ihre Hochzeit?

Erstaunt sah Jerusha sich in der Hütte um und musterte die geschnitzten Holzmöbel, die viel zu wuchtig wirkten für den kleinen Raum, die über dem Herd aufgehängten großen Pfannen und Töpfe, das Bild eines kupferfarbenen Drachens, das kostbar gerahmt fast die Hälfte einer Wand einnahm. „Alles aus der Faunenmühle, nicht wahr?“

„Mein gesamtes Erbteil“, sagte Rikiwa mit einem Achselzucken. „Obwohl ich das meiste verkauft habe, mochte ich mich von ein paar Sachen nicht trennen. Das Bild hing früher im großen Gastraum, einer unserer Vorfahren hat es gemalt.“ Sie half Jerusha, sich auf das schmale Bett zu legen. „So. Ruh dich aus. Ich mach uns einen Cayoral.“

Doch das, was sie vorhin gesehen hatte, ließ Jerusha keine Ruhe. „Da war ein Mädchen, sie saß einfach dort und hat mich beobachtet. Sie hatte eine Katze dabei.“

Ihre Tante stutzte, auf einmal waren ihre Augen schmal. „Du hast eine Iilon Eori gesehen? Erstaunlich, dass sie sich dir gezeigt haben. Wahrscheinlich waren sie neugierig. Und sie wissen, dass sie von den KiTenaros nichts zu befürchten haben.“

Eine KiTenaro. Jerusha lauschte in sich hinein und fand verworrene Gefühle. Noch immer hatte sie keine Ahnung, was es wirklich bedeutete, eine KiTenaro zu sein. „Wer sind die Iilon Eori? Waldnymphen?“

„Das Wort bedeutet Seele der Wälder. Jede von ihnen ist Hüterin eines bestimmten Baumes und ihm verbunden bis in den Tod.“

„Kennst du sie gut?“

„Ja, ich kenne sie gut“, sagte Rikiwa. Schweigend erhitzte sie auf einem alten, gusseisernen Ofen Wasser. Der Geruch nach Cayoral, einem Gewürztee, erfüllte die kleine Hütte.

Jerusha versuchte, die Schmerzen in ihrer Schulter und ihrem Bein nicht zu beachten, und beobachtete Rikiwa. Ihre Tante, die Frauen liebte. Rikiwas Körper war schlank und sehnig; sie trug eine mit herrlichen Mustern bestickte schwarze Bluse, Hosen und leichte Lederstiefel. Zu ihrer Überraschung fand Jerusha Rikiwas Gesicht mit seinen klaren, fast strengen Linien schön, und in den Augen ihrer Tante lag eine ruhige Kraft, die ihr gefiel.

„Willst du nicht wissen, warum ich gekommen bin?“ fragte Jerusha leise und nahm einen Schluck Cayoral.

„Ich kann es mir denken“, sagte Rikiwa, setzte sich auf den Rand des Bettes und reichte ihr die Tasse. „Eigentlich hätte ich gedacht, dass du schon viel früher kommen würdest. Aber Myrial und Kala haben sich jetzt erst überwunden und es dir erzählt, oder?“

„Ja. Sie haben lange gewartet. Zu lange, wie ich finde. Mein Herz ist vergeben.“

„Dann kann es jederzeit geschehen, dass der Fluch dich trifft. Du hast nicht mehr viel Zeit. Hast du den Stein gesehen?“

„Weißt du, was das Symbol bedeutet?“

„Nein. Niemand kennt es. Doch eins weiß ich inzwischen – es ist nicht das Einzige in Ouenda.“

Aufgeregt versuchte Jerusha, sich auf einen Ellenbogen zu stützten. Heißer Cayoral schwappte ihr über die Hand. „Wo sind die anderen?“

„Eins habe ich durch Zufall entdeckt, an einer Hauswand in Cyr – das ist in Yantosi. Das andere befindet sich angeblich auf einem Stein in Rus Laerd. Das ist in Benaris, fast an der Grenze zu Thoram.“

„So weit weg! Sahen die Zeichen genauso aus wie unseres?“

Rikiwa zuckte die Achseln. „Das in Cyr schon, doch anscheinend war es schon sehr alt, und das Haus war verlassen. In Rus Laerd war ich nicht, mir hat nur jemand davon erzählt. Deshalb weiß ich auch nicht, was für eine Geschichte dahintersteckt. Ob es auch ein Fluch ist, oder vielleicht ein Segen.“

Ein Segen, ha! Sehr wahrscheinlich. „Kannst du mir erzählen, was du in dieser Nacht gesehen hast?“ fragte Jerusha. „Als dieser Fremde in der Faunenmühle war.“

Rikiwa schloss die Augen, während sie sich erinnerte. Jerushas Blick wanderte von ihrem Gesicht zu ihren Händen – lang und schmal und kräftig waren sie, und fast so schwielig wie ihre eigenen.

Schließlich begann Rikiwa zu erzählen. „Ich sah ihn schon, als er am Eingang stand. Dunkel gekleidet war er, und ich dachte, er müsse reich sein – warum, weiß ich nicht mehr. Nein, stimmt nicht. Ich habe gesehen, wie er draußen Wevey Geld zugeworfen hat, und der Kleine hat es wirklich nötig gehabt, seine Eltern konnten ihm nicht mal ein Paar Schuhe kaufen.“ Sie schwieg einen Moment, bevor sie weitersprach. „Der Fremde blickte auf mich herab und strich mir über die Haare. Er trug Handschuhe aus weichem Leder. Ich konnte kaum den Blick von ihm abwenden. Seine Haare waren blond, ein sehr helles Blond. Er hatte so schöne grüne Augen, und seine Stimme klang wie das Rauschen der Bäume.“

Jerusha wagte kaum zu atmen. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass Rikiwa den gefährlichen Fremden aus so großer Nähe gesehen hatte. Vielleicht hatte es sie geschützt, dass sie noch ein Kind gewesen war – vier Jahresläufe jünger als ihre Schwester Myrial.

„Doch als ich hörte, wie er sich bei Mutter beschwerte, fand ich ihn nicht mehr nett, und irgendwie bekam ich ein bisschen Angst vor ihm. Ich überlegte, ob ich in den Wald gehen sollte, aber das durfte ich nicht mehr, wenn es schon dunkel wurde. Also verzog ich mich nach oben. Deswegen habe ich das Handgemenge nicht miterlebt und auch nicht, wie der Fluch gesprochen wurde.“

Grüne Augen. Dunkle Kleidung. Eine wohlklingende Stimme. Konnte das ein Gott gewesen sein? Aber wenn ja, welcher? Xatos, Sohn der Sonne, sicherlich nicht, die Beschreibung passte überhaupt nicht auf ihn. Vielleicht Cerak, der Sohn des Mondes, der Gott der Dunkelheit – er sollte schwierig und eigensinnig sein. Auch Jerusha hatte ihn schon angerufen, denn er war nicht nur Schutzpatron der Gärtner, sondern auch aller Künstler. Oder gar Jaeso, Sohn der Sterne? Er war großzügig und reich, aber einsam. Jaeso galt als der Schutzpatron der Händler.

Mit Verspätung begriff Jerusha, was Rikiwa gesagt hatte. „Du hast überlegt, ob du in den Wald gehen solltest?“ wiederholte sie ungläubig. „Obwohl es schon dunkel wurde?“

„Ja.“ Rikiwas ruhiger Blick richtete sich auf sie, und Jerusha fiel auf, dass auch ihre Augen grün waren, sie hatten das tiefe Grün der Wälder, in denen sie lebte. „Ich spielte schon damals viel lieber mit den Iilon Eori als mit anderen Kindern. Das machte meiner Mutter Angst. Aber sie sind nur wirklich gefährlich, wenn jemand einen Baumfrevel begeht. Dann träumt derjenige davon, dass die Nymphen einen Haufen Blätter über ihn werfen, und am nächsten Morgen findet seine Familie ihn im Bett, erstickt.“

Jerusha war sprachlos. Und das hatte Rikiwa keine Angst gemacht?

Doch bevor sie fragen konnte, hatte Rikiwa sich schon abgewandt und starrte aus dem Fenster. „Auch auf eine andere Art sind sie gefährlich“, fuhr sie beiläufig fort. „Denn wer einmal von einer Nymphe verführt wurde, der taugt nicht mehr für irdische Frauen, er bleibt sein Leben lang allein und sehnt sich nach dem zurück, was er erfahren durfte. Meinem Cousin Gerion ist das passiert. Jeder Clan, der an der Straße der Giganten siedelt, hat auf diese Art einige der Ihren verloren.“

Die Iilon Eori vereinigten sich mit Menschen? Ein Schauder überlief Jerusha. Und noch einmal musterte sie Rikiwa, als sehe sie sie zum ersten Mal. Wie groß war die Versuchung gewesen – war sie der Grund, warum ihre Tante jetzt hier lebte, allein im Wald? Sie wusste, dass sie nie den Mut aufbringen würde, Rikiwa danach zu fragen.

Stattdessen sprachen sie über die Familie, und Jerusha konnte endlich einige der vielen Fragen stellen, die ihr in den Sinn gekommen waren, als sie die Schwester ihrer Mutter zum ersten Mal gesehen hatte.

„Myrial und ich, wir fühlten uns nie sehr eng verbunden“, erzählte Rikiwa. „Die Zwillinge waren immer zusammen, und ich gehörte nicht richtig dazu. Es gab jedes Mal ein großes Gemurre, wenn die beiden auf mich aufpassen sollten. Dafür habe ich ihnen Streiche gespielt, so viele mir eingefallen sind.“ Ein verschmitztes Lächeln. „Auch meine Mutter und ich waren uns nie sehr nah. Sie hatte so viel mit dem Gasthof zu tun, die meiste Zeit spielten wir Kinder alleine oder miteinander.“

Jerusha war fasziniert. „Hat denn Mutter – Myrial – dir in den letzten Jahresläufen ab und zu geschrieben? Oder warum herrscht dieses Schweigen zwischen euch?“

„Viel zu sagen hatten wir uns nie, und mit den Jahren sind wir uns noch fremder geworden. Aber sag mir bitte trotzdem, wie geht es Myrial? Und Kala?“

Sie redeten, bis Jerushas Kraft versiegte.

„Genug geredet. Schlaf jetzt.“ Rikiwas Stimme war energisch, das war kein Vorschlag, sondern ein Befehl. „Du hast die Wächter herausgefordert, und jetzt musst du dich davon erholen. Wer soll denn sonst diese Reise fortsetzen, die so wichtig ist für uns alle?“

Jerusha nickte. Ja, sie musste sich erst einmal erholen. Es erschien ihr unendlich verlockend, jetzt zu schlafen.

„Die Katze, die du gesehen hast, war übrigens Vilma“, hörte Jerusha noch, bevor sie die Augen schloss. „Sie hat deiner Mutter gehört, in unserer Kindheit. Normalerweise wäre sie längst tot. Es ist schon oft vorgekommen, dass die Nymphen uns die Katzen abspenstig gemacht haben. Sie lagen schnurrend auf dem Arm einer Iilon Eori, und das war meist das letzte Mal, dass ein Mensch sie gesehen hat. Immerhin, dadurch leben sie wesentlich länger.“

Jerusha war viel zu müde, um sich noch darüber zu wundern. Ihre Kraft reichte gerade noch dafür aus, Dario eine kurze Nachricht zu schreiben und sie Rikiwa zum Abschicken zu geben, dann schloss sie die Augen und schlief ein.

Nachtlilien

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