Читать книгу Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - Страница 10

Belleville, 20. Arrondissement

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Eine gute halbe Stunde später ließ sich Loïc Perrec auf einen leeren Platz im hinteren Teil der Buslinie 96 fallen und streckte seine Beine von sich. Er hatte noch ein wenig Luft schnappen wollen und war von seinem Büro im Kommissariat am Quai des Orfèvres die Strecke bis zum Hôtel de Ville zu Fuß gelaufen. Das Leben in der Großstadt bereitete ihm noch einige Schwierigkeiten und so recht konnte er sich an den Lärm, die Menschenmassen und die allgegenwärtige Hektik nicht gewöhnen. Er vermisste die Weite seiner Heimat, die Artischockenfelder und die endlosen grünen Wiesen, die sich am Horizont mit dem Blau des Meeres mischten. Perrec sah aus dem Fenster. Es begann bereits zu dämmern und bald würden die ersten Lichter gegen die Dunkelheit der Nacht anleuchten. Der Asphalt schimmerte silbern und Perrec wunderte sich, dass er von dem sommerlichen Schauer gar nichts mitbekommen hatte. Aber sie hatten in ihrem Besprechungsraum nun auch wirklich nicht aufs Wetter geachtet, gab er sich selbst die Antwort. Er dachte an das Meeting zurück, das ihm so viel über seine Kollegen verraten hatte. Und über seine Chefin, Victoire de Belfort. Er mochte ihre etwas burschikose und gleichzeitig sehr herzliche Art. Eigentlich, dachte er und musste über seinen Gedankengang grinsen, war sie die tägliche, lebende Ermahnung für Malbert, sein Schwarz-Weiß-Denken aufzugeben. Denn de Belfort, die mit dem Mountainbike ins Kommissariat radelte und auch sonst – von ihrem Füller einmal abgesehen – kaum Wert auf Statussymbole legte, war ein Mitglied der Pariser Bourgeoisie. Wahrscheinlich hat ihre Familie so viel Geld, dass sie es im ganzen Leben nicht ausgeben könnte, dachte der junge Bretone ohne jede Spur von Neid und betrachtete die Häuser, die draußen an ihm vorbeizogen. Der Bus bog in die Rue Oberkampf ein und würde in wenigen Minuten die steile Rue de Ménilmontant hinauffahren. Perrec war froh, in dieser Gegend von Paris eine Wohnung gefunden zu haben. Er mochte den Mix aus alten, herrschaftlichen Stadthäusern, gesichtslosen Wohnblocks, alten Bistros und modernen Geschäften. Wenn schon Großstadt, dann richtig, hatte er sich gesagt, als er die einschlägigen Anzeigenmagazine für Immobilien gewälzt hatte. Die Haltestelle Pyrénées-Ménilmontant kam in Sicht. Er drückte auf den roten Halteknopf. Morgen würde er sich auf die Suche nach der Enkelin von Michel Souliacs altem Hausgenossen machen. Vielleicht konnte diese Irina Laguerre ja weiterhelfen. Auch Suzanne Hérault, die Nachbarin, würde er sich noch einmal vorknöpfen, sie hatte etwas zu verbergen, dessen war er sich sicher. Wer weiß, vielleicht kannten sich die beiden jungen Frauen sogar, sie würden sich in dem Haus doch bestimmmt einmal über den Weg gelaufen sein. Loïc Perrec stieg aus, ging ein paar Schritte die Straße hinauf und betrat die kleine Épicerie nicht weit von seiner Wohnung. „Bonsoir Monsieur.“

Er grüßte den alten Mann, der ganz hinten in seinem kleinen Lädchen auf einem Hocker saß.

„Sie kennen sich ja aus“, lachte der, und Perrec nickte. „Aber ja“, rief er zwischen den Regalen hindurch, auf denen sich Nudeln, Dosengemüse, Getränke, Süßigkeiten und Toilettenpapier in buntem Durcheinander stapelten. „Sie sind sozusagen meine Vorratskammer, Monsieur.“ Er packte sich eine Dose Ravioli, eine Flasche Wasser sowie einen Dreierpack Schokoriegel auf den Arm und balancierte alles vorsichtig zur Kasse. Der Alte war inzwischen aus seiner Ecke gekommen und saß nun hinter der winzigen Theke, auf die Perrec seine Einkäufe gelegt hatte.

„Sie wohnen noch nicht lange in der Gegend, nicht wahr?“

„Das stimmt, Monsieur, ich wohne erst seit ein paar Wochen hier.“

Während der Mann mit einem antiquiert anmutenden Taschenrechner hantierte, betrachtete Perrec das Zettelchaos an einer Art schwarzem Brett, das rechts der Kasse an der Wand hing. Verkaufe nagelneues Pediküre-Set, war dort zu lesen oder Putzfrau mit 20 Jahren Erfahrung sucht Job. Auch Werbung für einen Friseursalon in der Rue des Pyrénées und einen Secondhandshop war mit bunten Nadeln festgepinnt. Sogar für eine Zirkusvorstellung wurde geworben. Die meisten Aushänge waren am unteren Ende mit kleinen Adresseinheiten versehen, die bereits vorgeschnitten waren, um das Abreißen zu erleichtern. Er liebte solche Pinnwände, und während der Ladeninhaber noch rechnete, suchte er den Zettelwust nach interessanten Angeboten ab.

„Was für Sie dabei?“, fragte der Alte mit einem Blick auf die Aushänge.

„Nein, ich fürchte nicht.“ Der freundliche Mann nannte den Preis für die Einkäufe und lächelte. „Bonne soirée, Monsieur.“

„Ihnen auch“, erwiderte Perrec und warf noch einen letzten Blick auf das Zettelchaos. Die bunte Karte mit der Werbung für die Zirkusvorstellung rief ihm das Karussell in Erinnerung, in dem Michel Souliac gefunden worden war. Schluss jetzt, es ist spät genug, genieße endlich deinen Feierabend, ermahnte er sich im Stillen und wickelte im Gehen einen der Schokoriegel aus der Verpackung. Wer sagte eigentlich, dass man zur Vorspeise nichts Süßes essen durfte? Genüsslich biss er in die Schokolade und grüßte die Verkäuferin der Bäckerei, die gerade das Gitter vor ihrem Laden herunterließ. Er hatte bereits begonnen, sich mit Paris anzufreunden.

Ein Gedicht zum Todestag

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