Читать книгу Ein Gedicht zum Todestag - Sophie Lamé - Страница 12

Rue Scipion, 5. Arrondissement

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Die Puppe starrte ihn aus großen, blauen Augen an. Der schmale Streifen, der den Mund markierte, bildete eine Gerade und gab dem Gesicht einen fast gelangweilten Ausdruck. Rotbraune Sommersprossen verteilten sich um eine kleine Nase, die nicht mehr als ein zartrosafarbener Punkt war. Oben am Kopf standen gelbe, wollene Haare in alle Richtungen, als seien sie elektrisch aufgeladen. Doch plötzlich kam Leben in das runde Puppengesicht. Die schwarze Linie begann sich zu kräuseln, als hätte eine unsichtbare Hand das eine Ende des Wollfadens gegriffen und ihn zum Spaß in Wellenbewegungen versetzt. Fast sah es aus, als wolle das Puppengesicht etwas sagen. Doch nicht nur der Mund veränderte sich. Die Augen wurden groß und größer, bis sie schließlich schreckgeweitet starrten, als würden sie furchtbare Dinge sehen. An den Haaren, die eben noch in sonnigem Gelb gestrahlt hatten, fraß sich eine leuchtende, undefinierbare rote Masse empor. Wie eine Flamme züngelte die blutrote Farbe an den einzelnen Fäden bis schließlich nichts Gelbes mehr übrig blieb. Der Mund hatte sich unterdessen zu einem Kreis geformt und schien in einem stummen Schrei zu verharren. Das niedliche Gesicht war zur grausamen Grimasse verzerrt und drückte gleichermaßen Schmerz und unendlichen Schrecken aus. Wieder kam Bewegung in den Puppenkopf. Zuerst war sie kaum erkennbar. Sie schlich sich an wie ein lauer Windhauch, der urplötzlich zum Sturm wird. Und dann sah er es. Die Augen starrten, der Mund schrie in stummer Verzweiflung und die Haare, oh mein Gott, die Haare. Sie brannten lichterloh.

Schweißgebadet wachte er auf und wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herz hämmerte so sehr, dass er sich zur Beruhigung eine Hand auf die Brust legte. „Ruhig, ruhig“, flüsterte er sich zu. Er hatte geträumt. Sein Atem ging stoßweise. Nur ein Traum. Doch die schrecklichen Bilder in seinem Kopf waren mehr als das, weit mehr als eine nächtliche Heimsuchung. Sie speisten sich aus einer Wirklichkeit, die so grausam war, dass kein Albtraum sie je würde übertreffen können. Doch warum nur träumte er noch immer diesen furchtbaren Traum? Müssten die Bilder, die nachts aus den Tiefen seines Unterbewusstseins heraufstiegen, um ihn zu quälen, nun nicht endlich beginnen, sich zu verändern? Jetzt, da die Zeit der Rache gekommen war. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. So sehr hatte er gehofft, dass das, was er getan hatte, befreiend sein würde. Dass es den undurchdringlichen Panzer, der ihn umgab seit es passiert war, aufzubrechen vermochte, um ein wenig Licht und Luft an sein Herz zu lassen.

„Für dich“, sagte er ins Dunkel hinein und wie immer, wenn er an sie dachte, spürte er die Tränen aufsteigen. Und eine unendliche Traurigkeit, die aus den dunklen Ecken des Zimmers auf ihn zuflog und ihn zudeckte wie ein schweres, staubiges Tuch. Er machte eine ruckartige Armbewegung, als könne er das beklemmende Gefühl damit verjagen. Sein Herzschlag fühlte sich nun fast wieder normal an und er lauschte in die Stille der Nacht. Nur vereinzelt war das Hupen eines Autos oder Gesprächsfetzen zu hören, die vom Boulevard durch das einen Spalt geöffnete Fenster in sein Zimmer drangen. Wie so häufig in den letzten Wochen und Monaten verursachte es ihm ein Ekelgefühl, dass das Leben da draußen einfach so weiterging, als wäre nichts geschehen. Wie konnten die Menschen weiterhin lachen und scherzen, unbeschwerte Abende in Bars und Restaurants verbringen, wie konnte bloß die Sonne so hell von einem Himmel scheinen, an dem nachts die schönsten Sterne funkelten? Wie konnte das alles nur sein? Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Er war auf dem richtigen Weg und er hatte die ersten Schritte getan. Nun war es wichtig, sich nicht entmutigen zu lassen. Die grausamen Bilder, die seinen Kopf in jeder Sekunde seiner grauen Tage füllten, sie durften ihn nicht besiegen. Er musste ihren Schrecken nutzen, um daraus Kraft zu schöpfen. Eine gewaltige, furchtbare Kraft, die ihn das tun ließ, was er sich zu tun vorgenommen hatte. Er lauschte seinem eigenen Atem. Er musste schlafen, tief schlafen. Denn morgen musste er ausgeruht sein. Der zweite Tag der Rache stand bevor und danach würde er sich wieder ein Stück befreiter fühlen. Er holte tief Luft. Sie würde nicht zurückkommen. Aber er konnte nicht weiterleben, ohne etwas zu tun. Und diese Menschen, die Schuld auf sich geladen hatten, die durften es auch nicht. Das war nicht recht, das war einfach nicht recht. Einen Teil seines Schwurs hatte er eingelöst, doch seine Mission war noch nicht erfüllt. Noch lange nicht, dachte er und schlief wieder ein.

Ein Gedicht zum Todestag

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